Unsere Korrespondentin und Vorsitzende der Organisation Movimento Solidarietà, Liliana Gorini, schildert hier eindrücklich, wie Verdis Opern und die Tragödie den Menschen zum Nachdenken bringen und zum Besseren verändern kann.
In den letzten Monaten hatte Italien massiv unter der Kriegspolitik der Nato und der Europäischen Union zu leiden. Eine besonders gravierende kulturelle Konsequenz war die Entscheidung der Scala in Mailand, den berühmten russischen Dirigent Waleri Sergijew zu entlassen, und des Teatro Comunale in Lonigo, Tschaikowskis Ballett Schwanensee abzusagen. An der Universität von Mailand wurde sogar ein Kurs über russische Literatur gestrichen, aber die Studenten und der italienische Professor protestierten so lange, bis die Veranstaltung wieder angesetzt wurde. Viele Künstler und Musiker sind entsetzt über die kulturelle Zensur und fragen, was denn Tschaikowski oder Dostojewski („Die Schönheit wird die Welt retten“) mit Putin zu tun haben?
Es herrscht Einigkeit darüber, daß Kultur universell ist. Ein Beispiel hierfür ist Giuseppe Verdis Oper Simon Boccanegra, inspiriert von Schillers Drama „Die Verschwörung des Fiesko“ und basierend auf einem Brief des italienischen Dichters Francesco Petrarca, der in einem Brief schrieb, die Mission Italiens sollte Frieden und die Entwicklung der Meere (d. h. des Mittelmeerraums) sein. Und gerade deshalb hat Patrizia Cappuccilli, die Tochter des großen Verdi-Baritons Piero Cappuccilli, die berühmte Arie in Simon Boccanegra („Ich rufe nach Frieden, ich rufe nach Liebe“) auf die Internetseite zu Ehren ihres Vaters gesetzt. Piero Cappuccilli hatte auch die Kampagne des Schiller-Instituts für die Verdi-Stimmung unterstützt.
Die Bedeutung von Simon Boccanegra
Im Jahr 1879 schrieb Verdi an seinen Verleger Giovanni Ricordi, daß er seine Oper Boccanegra
und das von Francesco Maria Piave und Arrigo Boito verfaßte Libretto komplett überarbeiten wolle, da er sich an zwei „schöne“ Briefe Petrarcas an den Dogen von Genua, Simon Boccanegra, und an den Dogen von Venedig erinnert fühle. Petrarca appellierte darin an beide, ihre Bruderkriege zu beenden und ein gemeinsames Ziel zu finden, um den Rest der Welt zu entwickeln.
Da Verdi sich bewußt war, wie häufig es in der Geschichte Italiens vor der Renaissance zu Bruderkriegen gekommen war, bat er Boito, das Ende des ersten Aktes komplett zu ändern und den Ablauf als Drama zu inszenieren, anstatt einfach Petrarca zu zitieren. Er gab auch genaue Anweisungen für die Hauptfigur des Simon Boccanegra, einen Bariton, dessen Stimme dunkel und sehr autoritär sein sollte, so daß er kein „junger Mann“, sondern ein älterer Mann wäre.
Wenn die Schlußszene des ersten Aktes und Petrarcas Aufruf an Italien genau nach Verdis Anweisungen aufgeführt wird, ist das Publikum überall zu Tränen gerührt – zu keinen romantischen Tränen, die wie in einem banalen Hollywood-Film für das Ende einer Liebesgeschichte, sondern Tränen, die für das Vaterland vergossen werden (in diesem Fall Italien, aber die Metapher gilt auch für alle anderen Nationen). Der Doge Boccanegra ruft den Bewohnern zu: „Ihr habt den Haß der Spinolas und der Dorias geerbt, und während euch das weite Reich der Meere in seinen Zauberbann lädt, zerreißt ihr euch das Herz im brüderlichen Streit!“ Petrarca (und Verdi) beziehen sich hier auf die schwarzen Adelsfamilien wie den Spinolas und Dorias, die sich oft mit ausländischen Mächten verbündeten, um innenpolitische Konflikte zu provozieren. So wurde das italienische Volk daran gehindert, sich auf eine Mission Italiens zu einigen, nämlich aufgrund seiner geografischen Lage zur Entwicklung der weniger entwickelten Länder im Mittelmeerraum (Naher Osten, Nordafrika usw.) beizutragen.
Aber, wie LaRouche in vielen Schriften angedeutet hat, unter anderem in „The Trouble with Small-Minded People“((Lyndon H. LaRouche jr., „The Trouble With Small-Minded People“, 26. September 2000, unveröffentlicht.)) (Der Ärger mit Kleingeistern), beginnt eine Tragödie immer dann, wenn große Ideen, große Projekte und „große Momente in der Geschichte“ auf kleine Menschen oder auf ein „kleines Geschlecht“ treffen, wie es auch Schiller ausdrückte. „Der springende Punkt der klassischen Tragödie und des wirklichen Lebens liegt darin, daß die größten Torheiten der Geschichte aus der Übertragung gängiger Vorstellungen ,akzeptabler‘ zwischenmenschlicher Beziehungen, des Mikrokosmos, auf historische Prozesse im Großen, den Makrokosmos, resultieren“, schrieb LaRouche im September 2000.
„Vor allem Veränderungen in den gängigen Meinungen definieren den Verlauf des wissenschaftlichen und technischen Fortschritts. Das gleiche gilt für die Staatskunst, da in den klassischen künstlerischen Kompositionsformen die Prinzipien der Staatskunst zum Ausdruck kommen. Bei beiden führt der Versuch, im Großen entstehende Paradoxe aus zuvor etablierten Gewohnheiten zu erklären zum tragischen Scheitern und dem daraus folgenden drohenden Untergang der Gesellschaft.“
„Deshalb“, fuhr LaRouche fort, „geht der Dramatiker in allen großen klassischen Tragödien stets vom Standpunkt des Universellen aus. Die Funktion der Tragödie ist es, den Zuschauer über die engstirnige primäre Sorge um persönliche und familiäre Werte zu erheben, ihn von der Mittelmäßigkeit zu befreien, mit der er sich gewöhnlich aufbläst, um in ihm eine Leidenschaft für die Zukunft der Nation und der Gesellschaft als Ganzes zu erwecken, wie sie Schiller – und auch Shakespeare – den historischen Figuren beilegt, die er in seinen Tragödien auf die Bühne bringt.“
Es ist daher nicht verwunderlich, daß Verdi seine Hauptinspiration bei der Komposition seiner Opern in den Werken Shakespeares und Schillers fand. Viele seiner großen Opern – Don Carlo, Giovanna D’Arco, Luisa Miller, Otello und Falstaff – basieren auf Schillers und Shakespeares Tragödien. In einem Brief an seinen Freund Arrivabene, in dem es um die Aufführung seiner Oper Simon Boccanegra in Paris geht, erklärt Verdi selbst das politische Prinzip, das seine Opern inspiriert, und schöpft dabei aus den Lehren der Tragödie und der Geschichte:
„Ich schreibe nicht über Rote, Schwarze oder Weiße. Ich interessiere mich nicht für die Form, für die Farbe. Ich schaue mir die Geschichte an, lese über große Ereignisse, große Verbrechen, große Tugenden, in den Regierungen von Königen, Priestern, Republiken! Nochmals, der Rest interessiert mich nicht: Was ich verlange, ist, daß diejenigen, die regieren, Bürger mit großem Talent und aufrechter Ehrlichkeit sind.“
Und das ist es, was die Soloarie des Simon Boccanegra zum Ausdruck bringt, mit der Kraft des Chorgesangs und der Orchesterbegleitung, die dieses Prinzip unterstreichen. Zu Beginn drückt Boccanegra – mit persönlicher Wut und Verbitterung, wie in allen klassischen Tragödien – im Rezitativ mit den Worten „plebe, patrizi, popolo dalla feroce storia“ („Bürger, Patrizier, Volk mit einer wilden Geschichte“) dramatisch seine Enttäuschung über sein Volk aus, das Sklaven einer Oligarchie geworden ist und eine Rebellion im jakobinischen Stil gegen ihn anzettelt. Wenn er dann aber „piango su voi“ („Ich weine um euch“) singt, ändern sich die Orchesterbegleitung und der Chorgesang, da alle Hauptfiguren der Tragödie Boccanegras Vision verstehen, und die Figur der Amelia im Sopran die schöne Szene beendet, indem sie allein im Pianissimo „Friede, sei beseelt von einem Gefühl der Liebe zu deinem Vaterland“ singt. Und Simon Boccanegra singt gleichzeitig „io vo gridando pace, io vo gridando amor“ („Ich rufe nach Frieden, ich rufe nach Liebe“).
Obwohl weniger berühmt als andere seiner Opern wie Rigoletto oder Don Carlo, lehrt uns Verdis Simon Boccanegra, wie die Tragödie den Menschen zum Besseren verändern kann, wenn das Publikum über die Entwicklung der Figuren des Dramas nachdenken muß. Und genau das ist der Zweck klassischer Kunst, egal ob italienisch, deutsch oder russisch.