Editorial

In dieser Ausgabe widmen wir unsere Aufmerksamkeit nicht nur dem Komponisten Franz Schubert, sondern wir bringen zugleich einen Beitrag von Lyndon LaRouche über die Frage des Naturrechts. Angesichts des heute immer stärker ausufernden Rechtspositivismus (ein Beispiel sind die Rechtsprechung für Euthanasie und die Todesstrafe zum Beispielin den USA) und Aussagen des Obersten Richters Scalia (USA), wonach die Mehrheit entscheiden solle, was Moral ist, gewinnt die Frage nach der notwendigen Bindung eines Staates an ein, dem positiven Recht übergeordnetes, moralisches Recht, immer mehr an Bedeutung.

Wie dringend und aktuell die Debatte um das Naturrecht ist, zeigen die jüngsten Korruptionsskandale in Belgien, wo die Mehrheit der Bevölkerung auf die Straße zog, um ihrer Empörung über das korrupte Verhalten des belgischen Justizministeriums bei der Aufklärung des Falls „Dutroux“ Ausdruck zu verleihen und eine Reform des Rechtssystems zu fordern.

Historisch reichen die Wurzeln für den Gegensatz zwischen Naturrecht und radikalem Rechtspositivismus bis in die Antike. Während Platon mit seinen Werken die philosophischen Grundlagen für das Naturrecht legte, verfochten dessen politische Feinde, die Sophisten, den Grundsatz, der Mensch und dessen Willkür sei das Maß aller Dinge.

Dieser Auffassung entspricht ein Menschenbild, das auch zum Ausgangspunkt wurde für die Gesellschaftstheorie des im 17. Jahrhundert in England lebenden Arztes Bernard de Mandeville (1670-1733). In seinem Buch Die Bienenfabel: private Laster – öffentliche Vorteile lieferte dieser die philosophische Legitimation für den heute gängigen radikalen Positivismus in Recht und Moral, indem er jedes übergeordnete Naturrecht und moralische Gesetz als Leitfaden für den Gesetzgeber und Staatsmann radikal verneinte.

Gemäß Mandeville besteht die menschliche Natur aus Grundtrieben und Leidenschaften, die sich auf diese Grundtriebe zurückführen lassen. Wie auch bei Hobbes und Locke sind die mächtigsten Grundtriebe die Eigenliebe, der Neid und die Machtgier. Es gibt keine Liebe und Vernunft, die Einsichten in das Wesen des Guten und Gerechten vermittelt. Für Mandeville ist die Vernunft die „Sklavin der Leidenschaften“, welche die egozentrischen Passionen nicht zu überwinden vermag. Mandevilles Gesellschaftskritik und seine in der Bienenfabel dargelegte rechtsphilosophische Theorie, daß gerade die Laster (Diebstahl, Prostitution, Alkoholismus, Drogensucht, Gier nach Luxus) der Menschen zum Wohl der Allgemeinheit ausschlügen, wird gerade heute von vielen als Legitimation des Laissez faire-Kapitalismus gerühmt.

Die platonische Naturrechtsauffassung geht dagegen von dem Grundsatz aus, daß ein Staat sich in einem ewigen moralischen Gesetz gründet. Platon hatte im Dialog Der Staat erklärt, es werde solange keine Lösung für die politische Krise der damaligen Zeit geben, solange nicht Macht und Wissen, Philosophie und Herrschaft zusammenfielen, solange nicht Staatsmänner wie „Philosophenkönige“ handelten.

Platon war nicht nur Philosoph, sondern vor allem politischer Organisator und Erzieher. Gegen das oligarchische Persische Reich gründete er 387 vor Christus die Akademie der Wissenschaften in Athen, um die Lehren aus den katastrophalen politischen Erfahrungen, den Kriegen mit dem Perserreich zu ziehen und die methodischen Grundlagen für die Erziehung von Generälen, Staatsmännern und Wissenschaftlern zu legen.

Im Dialog Der Staat nimmt Platon die Meinung des Sophisten Trasymachos zum Ausgangspunkt, um die diesem Denken zugrundeliegende positivistische Rechtsauffassung kritisch zu überprüfen. Trasymachos trat für das Recht des Stärkeren ein: „Ich behaupte, das Gerechte sei nichts anderes, als das dem Stärkeren zuträgliche.“ Jede politische Ordnung, ob eine oligarchische, tyrannische oder demokratische, gebe Gesetze nach dem, was ihr zuträglich sei, ohne Bindung an ein übergeordnetes göttliches Naturrecht.

Gegen diese Rechtsauffassung wandte sich auch G. W. Leibniz in seinem Kommentar zu Thomas Hobbes‘ Leviathan. Recht und Gerechtigkeit sei nicht einfach das, was „dem Mächtigsten zusagt oder gefällt“, schrieb Leibniz in seinem Essay „Über die allgemeine Idee der Gerechtigkeit“. Und so wie Gott die Welt nicht allein aus der Allmacht Gottes, als nur „wollender“, sondern, weil er gut war, die „Beste aller Welten“ erschuf, so lasse sich die Macht im Staat nicht von der Weisheit und der Liebe zum Guten trennen, sondern der Staat leite seine naturrechtliche Ordnung aus der göttlichen Weisheit, Güte und Liebe ab.

Dem Trasymachos hielt Platon im Staat entgegen, wenn nicht Staatsgewalt und Philosophie zusammenfielen, werde es keine Erholung von dem Übel für die Staaten geben und auch nicht für die menschliche Gattung.

Was versteht er unter dem Begriff „Philosophenkönig“? Ein echter Philosoph orientiert sich nicht an Meinungen, sondern er liebt die Wahrheit und haßt das Falsche; er ist mäßig und nicht habsüchtig. Kleinlichkeit ist seiner Seele, welche überall das Ganze und Vollständige anstrebt, zuwider. Er ist nicht todesfürchtig und feige, nicht vergeßlich und auch nicht unmusikalisch.

Daß die Philosophie in so schlechten Ruf geraten sei, gehe nicht zu Lasten der Philosophie, sondern finde seine Ursachen in den bösartigen Verleumdungskampagnen der Sophisten, von denen viele damals die jungen Leute Athens „verdorben“ hätten, so heißt es im Staat, indem sie auf dem Grundsatz beharrten, nicht Wissen sei entscheidend, sondern sie, die Sophisten, könnten mit „Worten überreden“. Und wer ihnen nicht folge (eine Anspielung auf den Prozeß gegen Sokrates), der werde mit dem Verlust bürgerlicher Ehren und mit der Todestrafe bestraft.

Platons Rechts- und Staatsphilosophie bekräftigt im Staat daher erneut den bereits von Heraklit gemachten Grundsatz, daß doch alle vom Menschen gemachten Gesetze ihren Ursprung im Göttlichen Gesetz haben: „Der Philosoph also, der mit dem Göttlichen und Geregelten umgeht, wird auch geregelt und göttlich, soweit es nur den Menschen möglich ist… Wenn nun ihm die Notwendigkeit entsteht, wie er das, was er dort sieht, auch in der Menschen Sitten einbilden zu können im Einzelnen sowohl als im öffentlichen Leben, um nicht nur sich allein zu bilden, glaubst du, er werde ein schlechter Bildner zur Besonnenheit und Gerechtigkeit sein und zu jeder Tugend?… Verwegen, wenn wir sagen, daß ein Staat nicht glücklich sein könne, wenn ihn nicht die des göttlichen Urbildes sich bedienenden Zeichner entworfen haben.“

Dieses göttliche Urbild, die „Idee des Guten“, ist der Grund alles Werdens und Seins. Dabei versteht Platon unter dem Werden das allen vom Menschen gemachten Entdeckungen zugrundeliegende Ordnungsprinzip, die „Hypothese der höheren Hypothese“.

Die Methode des schöpferischen Denkens, der Hypothesenbildung, beschreibt Platon im 6. Buch des Staates als das, „was die Vernunft selbst ergreift mittels des dialektischen Vermögens, indem sie die ,Hypothesen‘ nicht zu Anfängen, sondern wahrhaft zu Hypothesen macht, gleichsam als Zugang und Anlauf (Sprungbrett), damit sie bis zum Nicht-Hypothetisierbaren, an den Anfang von allem gelangend, diesen ergreife und so wiederum sich an alles haltend, was mit jenem zusammenliegt, zum Ende hinabsteige, ohne sich überhaupt irgend eines sinnlich Wahrnehmbaren zu bedienen, sondern nur der Ideen selbst an und für sich und so bei Ideen endigt.“

Dummheit als Ursache allen politischen Übels

Platons Forderung, Macht und Wissen müßten zusammenfallen, war keine abstrakte Angelegenheit. Wie er im 7. Brief anschaulich darlegt, war er durch seine persönlichen Erfahrungen im Umgang mit der Macht zu dem Schluß gelangt, daß „Verachtung menschlicher und göttlicher Gesetze, vor allem aber die Dummheit die Wurzel und der Keim aller moralischen Übel der Welt“ seien. Aus heutiger Sicht liest sich dieser berühmte 7. Brief wie ein politisch-philosophisches Vermächtnis, in dem Platon über die Ursachen für das Scheitern seines Projektes der Erziehung des Herrschers von Sizilien, Dionysos, nachdenkt und fragt, welche politische Lehren daraus für die Zukunft zu ziehen seien.

Was Dionysos fehlte, so resümiert Platon, war die geistige Offenheit und Freiheit, sich fundamental neuen Ideen zu öffnen. Dionysos, obwohl im Besitze der größten Gewalt, „hatte durchaus keinen Willen, die Idee der Gerechtigkeit in dem ganzen Gebiete seiner Herrschaft zu verwirklichen. Wäre aber in diesem Gebiet die Vereinigung von Philosophie und politischer Macht in einer Person zustande gekommen, so wäre in der ganzen Menschheit, sowohl bei den Hellenen wie bei den Barbaren, das Licht eines neuen moralisch-politischen Systems durchgedrungen, und alle Welt wäre von der Wahrheit des Satzes überzeugt worden, daß kein Staat und kein einzelner Mensch jemals glücklich werden kann, wenn er nicht mit denkendem Geiste in Gerechtigkeit sein Leben hinbringt, mag er nun im Inneren den rechten Geist sich angeeignet haben, oder mag er unter Führung der vom heiligen Geist erfüllten Männer durch praktische Gewöhnung nach der rechten Methode zu jenem Leben erzogen und herangebildet worden sein,“ so schreibt Platon.

Platons Reformvorschläge an Dionysos zielten darauf ab, die verwüsteten Städte in ganz Sizilien wiederaufzubauen und ein blühendes Staatswesen zu erschaffen, und ein auf der Achtung der Menschenrechte gründendes Staatswesen zu errichten. Aber Dionysos weigerte sich, die sokratische Methode des Denkens reflexiv auf das eigene Denken anzuwenden. Platon ging es um die Methode der Staatskunst, um die methodischen Grundlagen des Denkens, wie der Mensch mit Hilfe von Hypothesen zu neuen Erkenntnissen über das Universum gelangt; Dionysos ging es nur um das Erlernen von „Machttechniken“, den Schein des Wissens und „kurzfristige Lösungen“.

Aber ohne das Wissen des Naturrechts beraubt sich der Mensch des Wissens um die Hypothese, welche erst den Fortschritt der Menschheit ermöglicht.

Es gebe daher eine untrügliche Methode festzustellen, schreibt Platon in seinem politischen Vermächtnis, ob ein Mensch als Staatsmann taugt, also ob er ernsthaft sein Denken verändern wolle oder nur zum Scheine: „Ein wahrer Freund der Wissenschaft hat einen mit dem Ewigen verwandten Geist und in diesem einen Funken von der Gottheit.“ Und wer einmal die tiefe Wahrheit der sokratischen Methode begriffen habe, glaube nicht weiterleben zu können, wenn er einen anderen Weg einschlüge.

Aus diesem Grunde gebe es auch keine Schrift über jene Methode, noch werde es je eine geben, denn diese Methode könne nicht formalisiert, also „in sprachliche Schulausdrücke“ gefaßt werden, „sondern aus häufiger familiärer Unterredung gerade über diesen Gegenstand sowie aus innigem Zusammenleben entspringt plötzlich jene Idee in der Seele wie aus einem Feuerfunken das angezündete Licht und bricht sich dann selbst weiter seine Bahn“.

Gerade dieser „Götterfunken“ der schöpferischen Vernunft ist es, den es in den Menschen zu entfachen gilt, wenn wir die Idee der Gerechtigkeit und des Guten als Grundlage der Staatskunst erheben wollen.