Zu Archimedes kam ein wißbegieriger Jüngling, „Weihe mich“, sprach er zu ihm, „ein in die göttliche Kunst, Die so herrliche Frucht dem Vaterlande getragen Und die Mauren der Stadt vor der Sambuca beschützt.“ „Göttlich nennst du die Kunst? Sie ist‘s“, versetzte der Weise, „Aber das war sie, mein Sohn, eh sie dem Staat noch gedient. Willst du nur Früchte von ihr, die kann auch die Sterbliche zeugen, Wer um die Göttin freit, suche in ihr nicht das Weib.“
Dieses Gedicht Archimedes und der Schüler von Friedrich Schiller erwähnt Gauß in seiner Antrittsvorlesung 1808 in Göttingen, wohin er als Professor der Astronomie berufen worden war. Er sagt darin:
„Die glücklichen großen Geister, die die Astronomie ebenso wie die anderen schönen Teile der Mathematik geschaffen und erweitert haben, wurden gewiß nicht durch die Aussicht des künftigen Nutzens angefeuert: sie suchten die Wahrheit um ihrer selbst willen und fanden in dem Gelingen ihrer Anstrengungen allein schon ihren Lohn und ihr Glück… Sie kennen gewiß alle das schöne Gedicht von Schiller. Lassen Sie uns auch die erhabene Astronomie am liebsten aus diesem schönen Gesichtspunkt betrachten… Der erhabene Genuß, den das Studium der Astronomie gewährt, die eigentümliche Satisfaktion, welche die Beschäftigung mit den ernsten Wissenschaften gibt und welche sich nicht beschreiben, sondern nur empfinden läßt, wenn man anders den Sinn dafür hat, das wohltätige Abziehen von der manchmal nicht erfreulichen Außenwelt durch stille, keine Leidenschaft aufregende Kontemplation, endlich die Größe und Erhabenheit der Gegenstände selbst, die unsere Weltansicht erweitert und so vieles, was uns in dem feindseligen Treiben auf unserem unruhigen Planeten groß und wichtig dünkt, klein erscheinen läßt, und, warum sollten wir es nicht bekennen, die Beruhigung, in der wunderbaren Anordnung des Weltbaus immer die Spuren einer ewigen Weisheit wiederzufinden, die unsere Kurzsichtigkeit eben bei jenem feindlichen Treiben wohl manchmal aus dem Gesicht zu verlieren glaubt: dieses sind nach meinem Gefühl die würdigen Antworten auf die Frage: Wozu nützt das Studium der Astronomie?“
Trotz der stürmischen Zeiten der Besetzung Deutschlands durch die Franzosen, die Befreiungskriege und dann die nachfolgende Restauration der alten Feudalstrukturen durch die Beschlüsse des Wiener Kongresses 1815, die alle Hoffnung der preußischen Reformer vereitelte, vermochte der große Carl Friedrich Gauß das Fundament für eine Revolution der Wissenschaft der folgenden Jahrhunderte zu legen. Dieser Auftrag ist leider bis auf die heutige Zeit von den wenigsten verstanden worden!
Carl Friedrich Gauß wurde am 30. April 1777 in einem kleinen ärmlichen Haus als einziges Kind von Dorothea und Gerhard Diederich Gauß in Braunschweig geboren und zeigte schon sehr früh eine außerordentliche Begabung im Erfassen von Zahlen. Er sagte einmal von sich selber, daß er eher rechnen als lesen konnte. Es zeigte sich aber auch schon früh, daß dies nicht nur eine Begabung für rechnerische Tüfteleien war, sondern daß sich dahinter ein tiefes Verständnis einer Gesetzmäßigkeit in der Welt der Zahlen verbarg bzw. das Vermögen, die Welt der Zahlen als eine geometrische Konstruktion im Geist zu erfassen.
In der Schule hatte der Lehrer die Aufgabe gestellt, alle Zahlen von 1 bis 100 zusammenzuzählen. Er hatte die Aufgabe kaum zu Ende gestellt, schon schreibt der kleine Gauß eine Zahl auf seine Tafel, bringt diese nach vorn und legt sie vor den Lehrer mit den Worten „Ligget se“ (Da liegt sie). Die anderen Kinder rechnen die ganze Stunde hindurch und der Lehrer überlegt sich schon, die Strafe für eine solche Frechheit mit dem Rohrstock zu zahlen, doch der kleine Gauß sitzt mit einer ruhigen Sicherheit an seinem Platz und wartet auf das Ende der Stunde. Auf seiner Tafel steht die richtige Zahl 5050, und viele andere sind falsch oder noch nicht fertig.
Er hatte den geometrischen Aufbau der Zahlen sofort vor Augen gehabt und erkannt: Man muß nur die ersten und die letzten Zahlen jeweils verknüpfen, 1 + 100 , 2 + 99 , 3 + 98 … bis 50 + 51 , dann hat man 50 · 101 zusammengezählt und das ist das Ergebnis.
Obwohl er selber über die Geometrie sagte, daß sie ihm „in seiner frühesten Jugend wenig Interesse eingeflößt habe, welches sich erst später bei ihm in höherem Maße entwickelt habe“. Durch die Förderung einiger Lehrer und die Unterstützung des Herzogs von Braunschweig wird Gauß der Besuch des Gymnasiums und das Studium in Göttingen ermöglicht.
Schon 1796 macht er durch seine Entdeckung der geometrischen Konstruktion des Siebzehnecks die mathematische Welt auf sich aufmerksam. Am 1. Juni 1796 trat Gauß mit folgender Ankündigung im Intelligenzblatt der allgemeinen Literaturzeitung in die Wissenschaftsgeschichte ein:
„Es ist jedem Anfänger der Geometrie bekannt, daß verschiedene ordentliche Vielecke, namentlich das Dreieck, Fünfeck, Fünfzehneck, und die, welche durch wiederholte Verdoppelung der Seitenzahl eines derselben entstehen, sich geometrisch konstruieren lassen. So weit war man schon zu Euklids Zeit, und es scheint, man habe sich seitdem allgemein überredet, daß das Gebiet der Elementargeometrie sich nicht weiter erstrecke: wenigstens kenne ich keinen geglückten Versuch, ihre Grenzen auf dieser Seite zu erweitern. Desto mehr dünkt mich, verdient die Entdeckung Aufmerksamkeit, daß außer jenen ordentlichen Vielecken noch eine Menge anderer, zum Beispiel das Siebzehneck, einer Konstruktion fähig ist. Diese Entdeckung ist eigentlich nur ein Corollarium einer noch nicht ganz vollendeten Theorie von größerem Umfange, und sie soll, sobald diese ihre Vollendung erhalten hat, dem Publikum vorgelegt werden.“ Gauß, aus: Braunschweig. Stud. der Mathematik zu Göttingen.
Die Entdeckung der Konstruktion des Siebzehnecks gab den Ausschlag, daß Gauß sich ganz für die Mathematik und nicht für die Philosophie entschied, die er genauso wie die klassische Literatur sehr erfolgreich in Göttingen studierte. Doch die Entdeckung des ersten der Asteroiden, der Ceres, lenkte ihn noch in eine ganz andere Richtung: die Astronomie und die Erforschung der Bewegungsgesetze des Universums.
Gauß revolutioniert die Astronomie
Gauß widmete sich weiterhin intensiv Fragen der höheren Arithmetik und erwarb sich schon bald einen gewissen Ruhm in der wissenschaftlichen Welt durch die Herausgabe seines umfangreichen Werkes Disquisitiones arithmeticae. Auch ist er schon im Jahre 1794 im Besitz der „Methode der kleinsten Quadrate“, dem „Prinzip, daß man, um mehrere Größen, die man nicht alle genau darstellen kann, am besten darzustellen, die Summe der Quadrate zu einem Minimum machen müsse“.
Diese Methode bedeutet aus verschiedenen Gründen eine Wiedereinführung des Keplerschen und Leibnizschen Denkens in der Wissenschaft, denn sie basiert auf der Erkenntnis, daß das lebendige Prinzip des Universums eine ständige Weiterentwicklung zu immer größerer Harmonie und Vollkommenheit bewirkt.
Bernoulli, Leibniz und Huyghens hatten in ihren Experimenten und Arbeiten über die Bewegung von Licht im Medium oder auch bei der Bewegung des Zykloidenpendels dieses Prinzip erkannt, nämlich daß immer der zeitlich kürzeste Weg eingenommen wird, um von einem Punkt zu einem anderen zu gelangen. Diese Bahnen heißen Tautochrone oder Brachistochrone. Kepler hatte seine Gesetze entdeckt, indem er eine harmonische Anordnung der Planetenbahnen in Form von ineinander geschachtelten platonischen Körpern vermutete.
Doch durch eine großangelegte Propagandamaschine, die der Salon des Venezianers Conti in London in Gang setzte, baute man den unbedeutenden Laienmathematiker Newton zu einem Giganten auf, um Keplers und Leibniz‘ Werke zu bekämpfen und zu verwässern. Gauß gebührt das Verdienst, nicht nur dieses Denken wiedererweckt zu haben, sondern es weiterzuentwickeln und in großartiger Weise bisher nicht geahnte Bereiche des Naturverständnisses zu erschließen.
Im Jahre 1766 hatte der Astronom J. D. Titius erkannt, daß die Entfernungen der Planeten von der Sonne in astronomischen Einheiten (AE) ungefähr durch die Formel 0,4 + 0,3n dargestellt werden konnte, wobei n die Werte 0, 20 , 21 , 22 , 23 , 24 etc. annimmt. Für die Planetenbahnen ergibt sich also folgende mittlere Entfernung:
Venus | n = 0 | Abstand ca. 0,4 AE |
Merkur | n = 20 | Abstand ca. 0,7 AE |
Erde | n = 21 | Abstand ca. 1,0 AE |
Mars | n = 22 | Abstand ca. 1,6 AE |
usw.
Doch für n = 23 „fehlte“ ein Planet, d. h. zwischen Mars und Jupiter ist eine „Lücke“. Schon Kepler hatte in seinem Mysterium Cosmographicum 1596 auf den großen Zwischenraum zwischen Mars und Jupiter hingewiesen und noch einen Planeten vermutet.
Dieses Gesetz ist nach den beiden Astronomen Titius und Bode benannt worden. J. E. Bode, der Direktor der Berliner Sternwarte, wies 1772 in seiner Anleitung zur Kenntnis des gestirnten Himmels ausdrücklich auf diese Lücke hin. Doch die Suche nach einem Planeten blieb vorerst ohne Erfolg.
Erst die Weiterentwicklung und enorme Verbesserung des Fernrohres vor allem durch die Geschwister Herschel brachte eine entscheidende Wende. Am 13. März 1781 entdeckte Wilhelm Herschel den Uranus, den ersten der Planeten, die nicht schon im Altertum bekannt waren. Dadurch angespornt beschloß der Astronom Franz Xaver von Zach aus Gotha im September 1800, „eine geschlossene Gesellschaft von 24 praktischen in ganz Europa verbreiteten Astronomen zu gründen, die sich das Aufsuchen des zwischen Mars und Jupiter vermuteten Planeten durch gleichzeitige Verbesserung der Sternverzeichnisse angelegen sein lassen sollten“. Außerdem gründete er die erste astronomische Zeitschrift, die Monatliche Korrespondenz zu Förderung der Erd- und Himmelskunde.
Unterdessen entdeckte der italienische Astronom Giuseppe Piazzi in Palermo am 1. Januar 1801 ein bewegliches Objekt 8. Größe, das von Bode als Planet erkannt und Ceres Ferdinandea benannt wurde. Dies konnte der zwischen Mars und Jupiter vermutete Planet sein! Doch Piazzis Beobachtungen erstreckten sich nur auf 41 Tage und auf einen Bereich von 9° am Himmel. Die Astronomen konnten den Planeten nicht wiederfinden, und es galt die Aufgabe zu lösen, die Bahn dieses neuen Objektes zu bestimmen.
Bisher hatte es immer nur gegolten, entweder unbekannte Planetenbahnen nach neuen Beobachtungen zu verbessern oder Planetenbahnen aus sehr langfristigen Beobachtungen zu bestimmen. Zum Beispiel reichte beim Uranus die Annahme einer Kreisbahn, um seine Bahn zu bestimmen. Es war aber ein weitaus schwierigeres Problem, wenn man wenig Beobachtungen hatte und die Exzentrizität der Bahn gar nicht kannte. An dieser Frage der „allgemeinen Bahnbestimmung“ hatten sich bereits Euler, Lambert, Lagrange und Laplace versucht, und Laplace hatte die Lösung dieses Problems nach einiger Zeit sogar für unmöglich erklärt. Bei der Ceres stand man also vor einem scheinbar unlösbaren Problem!
Gauß hatte sich schon mit einigen astronomischen Fragen wie der Theorie der Mondbewegung und auch mit dem allgemeinen Bahnbestimmungsproblem für die Bewegung der Himmelskörper befaßt. Nun nahm ihn die Herausforderung der Wiederauffindung der Ceres in ihren Bann, und er beschloß, sich ganz der Lösung dieser Aufgabe zu widmen.
Hier zeigte sich nun, daß Gauß mit einer völlig anderen Methode des Denkens an die Natur heranging. Ähnlich wie Kepler, der vor seinen großangelegten Berechnungen aus den Unmengen der von Tycho Brahe zusammengestellten Beobachtungsdaten zuallererst eine Hypothese über den Aufbau des Universums stellte, so macht sich auch Gauß an das Problem. Wie damals in der Schule beim Zusammenzählen der Zahlenreihe fing er nicht einfach an zu rechnen bzw. willkürlich Bahnen „anzunehmen“, sondern er dachte erst einmal über das möglicherweise zugrundeliegende Prinzip nach.
Zuerst war ja das Augenfälligste bei der ganzen Sache, daß es sich um einen sehr kleinen Planeten handelte. Es lag also die Frage nahe, ob dieser kleine Planet nicht durch seine großen Nachbarn, vor allem Jupiter, „abgelenkt“ würde. Diese Frage hat Gauß zum Beispiel bei dem kleinen Planeten Pallas, der 1802 von seinem Freund Olbers entdeckt wurde, jahrelang mit der größten Hingabe bis ins Detail untersucht. Erst nach solchen Überlegungen stellte Gauß ein Gesetz, basierend auf seiner „Methode der kleinsten Quadrate“, auf. Dieses Gesetz stellt eine Lösung des Problems der allgemeinen Bahnbestimmung dar und überwand endgültig die bisherige Methode, die eine Bahnbestimmung nur durch sukzessive Annäherung erreichte.
Schon im Dezemberheft 1801 der Monatlichen Korrespondenz erschien die erste Veröffentlichung seiner Untersuchungen und Berechnungen. Nach Gauß‘ Ephemeride konnte tatsächlich die Ceres fast genau an den von ihm bezeichneten Orten aufgefunden werden. Zwei Jahre später wählte Gauß Giuseppe Piazzi als Paten seines ersten Sohnes Joseph.
Der astronomischen Welt war klar, daß Gauß Ceres vor dem Verlorengehen bewahrt hatte. Mit diesem Gesetz begann eine neue Epoche der theoretischen Astronomie. Es erfüllt die Forderung, die aus drei Beobachtungen bestimmte erste Bahn so zu verbessern, daß die Summe der Quadrate der Differenzen zwischen allen beobachteten und errechneten Orten ein Minimum wird. Damit ist es möglich geworden, in objektiver Weise, d. h. unabhängig von jeder willkürlichen Beurteilung der Genauigkeit der Einzeldaten von Messungen der exakten Wissenschaften, das Ergebnis abzuleiten, das dem wahren Wert am nächsten kommt.
Man sieht, daß Gauß die Unzulänglichkeit des Newtonschen Gravitationsgesetzes klar erkannte. Denn die reine Kegelschnittbewegung eines Planeten entspricht ja der Annahme von nur einer Zentralkraft, die im Mittelpunkt der Sonne ihren Sitz hat und nach Newtons Gesetz wirkt. In Wirklichkeit handelt es sich aber niemals um ein Zweikörperproblem, da ja auch alle übrigen Körper des Sonnensystems auf den Planeten wirken und seine Bahn beeinflussen.
Die Methode, Planetenbahnen zu bestimmen, stellte Gauß in überarbeiteter Form 1809 in seinem Werk Theoria motus corporum coelestium in sectionibus conicis solem ambientum vor. Das Vorwort trägt das Datum 28. März 1809, es ist also fast auf den Tag 200 Jahre später geschrieben als die Praefatio Keplers zu seiner Astronomia nova, die das Datum 29. März 1609 trägt. Gauß war sich über den unsterblichen Wert seiner „Theoria motus“ bewußt und überzeugt, daß sie auch noch nach Jahrhunderten studiert werden würde. Diese Überzeugung war richtig! Die Gaußsche Methode, wie sie von Encke für den praktischen Gebrauch verbessert worden ist, ist bisher die meist verwendete Methode geblieben und wird es wohl auch bleiben.
Die Bedeutung der Asteroiden
Die Asteroiden, heute Planetoiden genannt, bewegen sich mehr oder weniger auf Bahnen zwischen Mars und Jupiter. Bis heute hat man mittlerweile etwa 4000 Planetoiden entdeckt, von denen aber ein großer Teil später nicht mehr aufgefunden wurde. Olbers hatte einmal die Vermutung geäußert, daß es sich hier um die Trümmer eines ehemaligen großen Planeten handeln müsse. Die Planetoiden bewegen sich auf Ellipsenbahnen um die Sonne, die meist wenig exzentrisch sind (mittlere Exzentrizität 0,15). Der mittlere Abstand von der Sonne beträgt 2,9 AE, die mittlere Umlaufzeit 4,5 Jahre. Die dauernden Störungen durch die große Masse des Jupiter haben enge Beziehungen zwischen der Jupiterbahn und den Bahnen der Planetoiden bewirkt. So haben zahlreiche Planetoiden etwa die gleiche Perihellänge wie Jupiter. Ende des vorigen Jahrhunderts wurden extreme Bahnen einiger Planetoiden bekannt: Der Planetoid Hidalgo, der im Aphel 9,6 AE und im Perihel nur 2,0 AE von der Sonne entfernt ist, dringt zum Beispiel bis zur Saturnbahn vor. Andere wie Eros, Amor und Hermes durchkreuzen die Erdbahn und kommen der Erde sehr nahe, Eros bis auf 0,15 AE, Amor bis auf 0,11 AE und Hermes bis auf 0,004 AE (das sind 600.000 km); einige dringen in das Innere der Venusbahn ein, und der 1949 entdeckte kleine Planet Ikarus dringt in das Innere der Merkurbahn ein, nähert sich der Sonne bis auf 0,19 AE und kommt der Erde von allen Planetoiden am nächsten. Die Planetoiden sind sehr wichtig für die Bestimmung der Sonnenparallaxe, zur Massenbestimmung der großen Planeten und für viele andere astronomische Probleme, die zum Teil bis heute nicht gelöst sind.
In den folgenden Jahren beschäftigte sich Gauß immer wieder mit den Asteroiden. Nachdem Olbers am 28. März 1802 einen neuen Asteroiden, die Pallas, entdeckt hatte, begann Gauß seine umfangreichen Berechnungen ihrer Bahn und vor allem deren Störungen durch den größeren Planeten Jupiter. Insbesondere nach dem Antritt seiner Professur in Göttingen widmet er sich diesen Berechnungen. Am 5. Mai 1812 schreibt er an Bessel:
„…habe ich mich hauptsächlich mit den Pallasstörungen durch Jupiter beschäftigt… Ihnen teile ich das merkwürdige daselbst in einer Chiffre (1111000100101001) niedergelegte Resultat gern mit, doch mit der Bitte, daß es vorerst ganz unter uns beiden bleibe. Es besteht darin, daß die mittlern Bewegungen von Pallas und Jupiter (Zeichen!) in dem rationalen Verhältnis 7:18 stehen, was sich durch die Einwirkung Jupiters immer genau wieder herstellt, wie die Rotationszeit unseres Mondes. Ich habe mit einer zweiten Berechnung der Störungen bereits einen Anfang gemacht.“
Außerdem bestimmte Gauß durch diese Untersuchung der Pallasstörungen den sehr genauen Wert für die Masse des Jupiter mit 1/1050.
Über den ersten Teil seiner Rechnungen hat Gauß ein ausführliches Tagebuch geführt, das vom 5. April bis zum 25. November 1812 reicht und angibt, welche Rechnungen er an einzelnen Tagen vollendet, wieviel Ziffern er gerechnet hatte, wieviel noch zu rechnen übrig waren und wann diese voraussichtlich fertig sein würden. Die gesamte Arbeit kann man auf insgesamt 700.000-800.000 Ziffern schätzen! Seine tägliche Leistung betrug im Schnitt 3500 Ziffern, so daß man sich leicht denken kann, daß seine Zeit zwischen 5. April und 25. November 1812 fast ausschließlich mit diesen Rechnungen ausgefüllt war.
1818 erschienen Untersuchungen, die im Zusammenhang mit den Störungsrechnungen der Pallas wohl schon 1814 entstanden waren: Determinatio attractionis, quam in punctum quod vis positionis datae exerceret planeta, si eius massa per totam orbitam ratione temporis, quo singulae partes describuntur, uniformiter esset dispartita. (Werke III, 331-355). Diese beinhalten einen Beitrag zum in der Geschichte der Himmelsmechanik fundamentalen Problem der säkularen Störungen in den Bahnelementen eines Planeten oder Kometen. Bessel schreibt am 20. Mai 1819 darüber an Gauß:
„Mündlich mehr! Auch werde ich Ihnen so besser sagen können, wie sehr ich Ihre Auflösung der Aufgabe von den Säkularstörungen, die ich seit acht Tagen kenne, bewundere! Dieses ist meines Erachtens die erste wirkliche und bedeutende Entdeckung in der Theorie der himmlischen Bewegungen seit Clairant; gegen sie sind die vier Bände der Mecanique celeste (Laplace) nur Entwicklungen einer alten Theorie. Sie Glücklicher! Welcher Tag wird verbreitet, wo Sie es wollen!“
Und am 1. Oktober 1818 schreibt Bessel: „Alles gestaltet sich neu unter Ihren Händen, und so, daß man Ihre Schriften nur mit der Überzeugung, daß dadurch die Kraft des menschlichen Geistes erschöpft worden ist, aus den Händen legen kann.“
Es handelte sich um eine nicht genäherte, sondern genaue und nicht von der Exzentrizität der Ellipse abhängige Rechnung der säkularen Störungen erster Ordnung in den Bahnelementen, d. h. der Aufgabe, allgemein die Anziehung eines materiellen elliptischen Ringes auf einen beliebigen Punkt im Raum zu bestimmen, welcher entsteht, wenn die Masse des störenden Planeten auf den Umfang der Ellipse in dem Maße verteilt wird, daß auf Stücke der Ellipse, die sonst in gleich großen Zeiten beschrieben werden, gleich große Massenteile kommen.
Auch begann Gauß 1819 umfangreiche Untersuchungen über die Bewegungen des Sonnensystems im Raum.
Gauß‘ astronomische Arbeiten galten aber nicht nur der Theorie, er war auch sehr talentiert im Beobachten und im Herstellen bzw. Verfeinern der Geräte. Den Instrumenten galt sein ununterbrochenes Interesse, und einen großen Teil seiner astronomischen Werke nehmen die Beiträge zur praktischen und sphärischen Astronomie ein. Er schreckte dabei weder vor langen mühsamen Beobachtungen noch vor umfangreichen numerischen Rechnungen zurück. Ein Schreiben Bessels von 1823 beschreibt ihrer beider Einstellung:
„Sie haben mir etwas gewünscht, was mir nie zuteil werden wird, nämlich einen Fund bei den Zonenbeobachtungen… Ich betrachte dieses Unternehmen als eine reine Aufopferung zum Besten der Wissenschaft; andern öffne ich dadurch ein Feld zu Entdeckungen, aber ich selbst leiste darauf Verzicht. Sie und ich sind aber auch sonst gewohnt gewesen, das teuere Ich in den Hintergrund treten zu lassen, wenn es auf eine Erweiterung der Wissenschaft ankommt; wer erst anfängt, Aufopferungen zu scheuen, der ist für die Wissenschaft schon halb tot; ich werde, in dieser Beziehung, nicht eher halb tot sein, als bis ich ganz tot bin.“
Auf dem Feld des Experiments war zum Beispiel das Heliotrop Gauß‘ Lieblingserfindung. Er entwickelte es zur Vereinfachung seiner geodätischen Studien im Jahre 1820. Es besteht aus der Verbindung eines Fernrohrs und zweier kleiner aufeinander normal stehender Planspiegel. Mit Hilfe des Heliotrops läßt sich das von der einen Spiegelfläche reflektierte Sonnenlicht mit größter Sicherheit an irgendeinen viele Meilen entfernten gewünschten Punkt hinschicken, und es erscheint von dort aus gesehen wie ein hell glänzender Stern, den man auf der Spitze eines Berges oder Turmes befestigt hat. Gauß hat später immer sehr bestimmt hervorgehoben, daß er zu dieser Erfindung nicht etwa durch reinen Zufall, wie es von einigen behauptet wurde, sondern durch reifes Nachdenken gelangt sei. W. Sartorius von Waltershausen schreibt: „Sein Auge verklärte sich dann, wenn er erzählte, wie zum ersten Mal bei unserem nördlichen Meridianzeichen die Versuche mit dem Heliotrop ausgeführt waren, und wie viele Zuschauer und Neugierige um die Wirkung zu sehen herbeigeeilt und beim Erscheinen des fernen Lichtes einen lauten Freudenruf hätten ertönen lassen.“
Die Gauß‘sche Schule in der Astronomie
Nach dem 21. November 1807, als Gauß als Professor der Astronomie und Direktor der Sternwarte nach Göttingen gekommen war, hatte er sich auch verpflichtet, Vorlesungen über Astronomie zu halten, die er im Wintersemester 1808 begann. Obwohl er sich durch Vorlesungen im allgemeinen von seinen wichtigeren mathematischen und astronomischen Arbeiten abgelenkt fühlte, bereitete er sie doch stets mit äußerster Gründlichkeit und Gewissenhaftigkeit vor. Mit den Jahren bildete sich ein Kreis hochbegabter Schüler um ihn, die er an seinen theoretischen und praktischen astronomischen Arbeiten beteiligte.
Diese Gauß‘sche Schule hatte einen bedeutenden Einfluß auf die Weiterentwicklung der Astronomie. Zu ihr gehörten H. Chr. Schumacher, der spätere Direktor der Sternwarte in Altona, der bis zu seinem Tode 1850 ein enger Freund von Gauß blieb, Chr.L. Gerling, später Professor der Mathematik, Physik und Astronomie an der Universität Marburg, Fr. B. G. Nicolai, später Direktor der Sternwarte in Mannheim, A. F. Möbius, später Professor der Astronomie und Direktor der Sternwarte in Leipzig, der auch ein bedeutender Geometer wurde, Fr. G. W. Struve, später Direktor an den Sternwarten in Dorpat und Pulkowa, Joh. Fr. Encke, später Professor der Astronomie und Leiter der Sternwarte in Berlin, B. A. von Lindenau, später Direktor der Sternwarte auf dem Seeberg bei Gotha und danach Minister, Fr. L. Wachter, 1813-1817 Professor der Mathematik in Altenburg, P. Tittel, ein ungarischer Geistlicher, der später Professor der Astronomie an der Universität in Pesth und Direktor der Sternwarte in Ofen wurde, weiterhin der später berühmte C. A. Steinheil in München, der spätere Professor der Mathematik und Astronomie in Tübingen Eduard Schmidt, und noch andere.
Mit einigen stand er bis zum Tode in ständigem Briefkontakt, und aus diesen Briefen geht hervor, daß ihm seine Vorlesungen über praktische Astronomie und über die Methode der kleinsten Quadrate in späteren Jahren ein richtiges Herzensanliegen wurden.
Astronomie und Geometria situs
Auf dem schon von Bernoulli, Leibniz und Huyghens untersuchten Grundprinzip der Natur basiert nicht nur die Methode der kleinsten Quadrate, sondern auch ein anderes bedeutendes Gesetz, das Gauß 1829 mit der Ankündigung veröffentlichte, es stelle ein neues, allgemeines Grundgesetz der Mechanik dar: das „Prinzip des kleinsten Zwanges“. Er erklärt es folgendermaßen:
„Die Bewegung eines Systems materieller, auf was immer für eine Art unter sich verknüpfter Punkte, deren Bewegungen zugleich an was immer für äußere Beschränkungen gebunden sind, geschieht in jedem Augenblick in möglichst größter Übereinstimmung mit der freien Bewegung, oder unter möglichst kleinstem Zwange, indem man als Masse des Zwanges, den das ganze System in jedem Zeitteilchen erleidet, die Summe der Produkte aus dem Quadrat der Ablenkung jedes Punkts von seiner freien Bewegung in seine Masse betrachtet.“
Damit warf er die gesamte Newtonsche Mechanik in hohem Bogen zum Fenster hinaus, denn die Bewegung eines Körpers wird durch seine Lage im Raum und durch die gesamten ihn beeinflussenden anderen Körper erklärt und nicht nur durch die Anziehungs- und Abstoßungskräfte einer Zentralkraft.
Darüber hinaus behandelt Gauß in seinen Arbeiten zur Theorie der krummen Flächen die Frage der kürzesten Linie, genau die gleiche Frage, die Bernoulli schon 1697 den Geometern gestellt hatte. Denn beide Fragen hängen sehr eng zusammen. Der sich bewegende Körper verfolgt erstens nach dem Gesetz der kleinsten Wirkung den kürzesten Weg von einem Punkt zum anderen, wird aber dabei abgelenkt durch die „Rahmenbedingungen“, die ihm durch seine Lage im Raum gesetzt sind.
In diesem Zusammenhang ist es erwähnenswert, daß Gauß sehr früh begann, sich mit allen möglichen Verschlingungen oder Umschlingungen eines Fadens oder Verkettungen von Kurven im Raum zu beschäftigten. Schon 1794 macht er eine Liste von 13 sauber gezeichneten Ansichten von Knoten, die er in einem Buch gefunden hat. Diese werden später wichtig bei der Untersuchung elektrischer und magnetischer Ströme. Auch in der Astronomie finden sich bei der Untersuchung von Sternennebeln oder den Atmosphären von Planeten oft eigentümliche Kurven und Verkettungen. Erst in den letzten Jahren hat man aus Satellitenaufnahmen im Saturnring unerklärliche Verschlingungen entdeckt.
Gauß war sich im klaren darüber, daß die Euklidische Geometrie nur eine Geometrie von vielen möglichen darstellt. Wenn man nämlich einen gekrümmten Raum annimmt, so fallen die zeitlich kürzesten Bahnen mit den räumlich kürzesten zusammen. Er hat sich zum Beispiel immer mit der Frage beschäftigt, welche Gesetze für solche gekrümmten Bewegungen gelten, bzw. wie die Koordinatensysteme wohl aussehen, wenn Körper alle Arten von verschlungenen Bahnen annehmen. Auch bei den Planetoiden tritt ja mehrfach das kettenartige Ineinandergreifen von verschiedenen Bahnen auf!
Als Beispiel dafür, wie sich die Gesetze bei anderen „Rahmenbedingungen“ für die Möglichkeiten der Bewegung eines Körpers ändern, ist folgende Konstruktion, die Möbius nach Äußerungen von Gauß
überliefert hat. Möbius hatte seit dem Herbst 1813 ein Semester lang unter Leitung von Gauß auf der Göttinger Sternwarte gearbeitet. In seinen Aufzeichnungen über die krummen Flächen bezieht er sich ausdrücklich auf eine mündliche Mitteilung von Gauß über die Eigenschaften eines Doppelringes:
„Man kann sich so einen Doppelring leicht zur Anschauung bringen, wenn man ein Blatt Papier in Form eines Kreuzes ausschneidet und hierauf die Enden FH und F‘H‘ (siehe Abbildung) des einen Paares gegenüberliegender Arme etwa oberhalb der anfänglichen Ebene des Kreuzes und die Enden BD und B‘D‘ des anderen Paares unterhalb dieser Ebene mit einander vereinigt. Es besitzt diese nur von einer Linie ABB‘ IHH‘ GD‘D EF‘FA begrenzte Fläche noch die merkwürdige Eigenschaft (nach einer mündlichen Mitteilung von Gauß; wodurch Gauß zur Betrachtung der Fläche geführt worden ist, ist mir unbekannt), daß man von irgend vier auf ihrem Perimeter auf einander folgenden Punkten P, Q, R, S den ersten mit dem dritten und den zweiten mit dem vierten durch zwei Linien PTT‘R und QUU‘S verbinden kann, welche in der Fläche selbst liegen und dennoch einander nicht schneiden – wie dies doch immer geschehn würde, wenn die Fläche eine Grundform der ersten Klasse (zum Beispiel ein Zylinder, C. H.) wäre.“
Gauß hinterließ also nicht nur ein unermeßliches Werk von großen Entdeckungen und Erkenntnissen; vielmehr warfen seine Gedanken und Ideen noch einen Lichtstrahl einer erahnten Erkenntnis auf alle möglichen unerforschten Naturerscheinungen. Zu seinem Motto wählte er sich folgenden Satz aus Shakespeares King Lear, 1. Akt, 2. Szene: Thou, nature, art my goddess; to thy laws my services are bound.
Literatur:
- Gauß, Werke, Gesellschaft der Wissenschaft zu Göttingen, Julius Springer-Verlag, Berlin 1924.
- Materialien für eine Wissenschaftliche Biographie von Gauß, gesammelt von F. Klein, M. Brendel und L. Schlesinger, Teubner-Verlag, Leipzig 1911.
- Gauß zum Gedächtnis, Wolfgang Sartorius von Waltershausen, Neudruck der Ausgabe von 1856 durch Dr. Martin Sändig oHG., Wiesbaden 1965.
- Astronomie und Geodäsie bei C. F. Gauß, Otto Volk, Würzburg 1955.
- Festschrift der Braunschweigischen Wiss. Ges. und der TU Braunschweig zum 200. Geburtstag von Carl Friedrich Gauß, Verlag Erich Goltze KG, Göttingen 1977.