Ein Gespräch mit dem Cellisten und Dirigenten Mstislaw Rostropowitsch

„…weil die Kunst von Gott kommt“


Der jetzt 70jährige Mstislaw Rostropowitsch gilt als der größte Cellist unserer Zeit und wird gewöhnlich in einem Atemzug mit dem legendären Pablo Casals genannt. Dabei ist die Nähe zu Casals nicht zufällig, denn sein Vater und erster Lehrer Leopold Rostropowitsch bewunderte Casals‘ Kunst sehr und war zeitweilig in Paris dessen Schüler. Ähnlich wie Casals, der zu Beginn dieses Jahrhunderts das Cellospiel revolutionierte, der BachsSuiten für Violoncello solo von dem Makel einer bloßen „Etüde“ befreite, diese genialen klassischen Kompositionen als erster im Konzertsaal aufführte und sie zur Grundlage der Celloliteratur schlechthin machte, hat sich auch Mstislaw Rostropowitsch als Revolutionär auf seinem Instrument hervorgetan. Fast alle modernen Komponisten sind durch sein Cellospiel zu Kompositionen angeregt worden. Vor allem ihm und seinen zahllosen Schülern, die inzwischen international zur ersten Garnitur der Cellisten gehören, ist es zu verdanken, daß das Cello in den letzten Jahrzehnten eine wahre Renaissance erlebt hat. Doch wie Rostropowitsch in diesem Interview erzählt, hat ihn bereits als Kind das Dirigieren fasziniert, und er hat sich schon seit Anbeginn seiner Karriere als Solist auch ernsthaft auf den Beruf eines Dirigenten vorbereitet.

1927 in Baku als Sohn eines Cellisten und einer Pianistin geboren, hat Rostropowitsch die Musik sozusagen „mit der Muttermilch eingesogen“. Schon als Kind erhielt er eine gründliche Ausbildung auf dem Klavier und Cello, bis er sich, dem Wunsch seines Vaters gemäß, ganz auf das Violoncello konzentrierte. Sein erstes Début als Solist gab er bereits mit 13 Jahren, die renommierte Moskauer Musikhochschule schloß er – der sich bereits im Alter von 14 Jahren nach dem frühen Tod seines Vaters um den Unterhalt der Familie kümmern mußte – wegen überragender Leistungen bereits nach drei Jahren ab. Sofort begann eine steile Karriere als führender Cellist der damaligen Sowjetunion, die ihn auch sehr schnell ins Ausland führte. Anfang der 60er Jahre dirigierte er – u. a. zusammen mit seinem Freund, dem Komponisten Dmitrij Schostakowitsch – seine ersten öffentlichen Konzerte, 1968 debutierte er mit einer aufsehenerregenden „musikalischen Neueinstudierung“ von Tschaikowskijs Oper Eugen Onegin am weltberühmten Bolschoi-Theater, an dem seine Frau, die Sopranistin Galina Wischnewskaja, die Position der Primadonna assoluta innehatte. Sie begleitete er auch bei ihren zahlreichen Liederabenden am Klavier – und zwar stets auswendig.

Im Westen wurde Rostropowitsch neben seinen großen künstlerischen Leistungen – er konzertierte praktisch mit allen weltbekannten Orchestern und Kammermusikern – vor allem wegen seines öffentlichen Eintretens für den Schriftsteller Alexander Solschenizyn bekannt, der seit Ende der 60er Jahre vom damaligen sowjetischen Regime geächtet und 1973 schließlich des Landes verwiesen wurde. Fast vier Jahre lang hatte Solschenizyn bis dahin in der Datscha von Rostropowitsch gelebt, da er sonst keine Bleibe mit adäquaten Arbeitsbedingungen hatte. Zum Eklat mit dem Regime kam es im Oktober 1970, nachdem Rostropowitsch in einem Offenen Brief seine Haltung in dieser Frage bekräftigt hatte. Da dieser Brief in der Sowjetunion unterdrückt wurde, im Westen aber nach seiner Veröffentlichung hohe Wellen schlug, wurde Rostropowitsch schnell zur „Unperson“; seine künstlerische Tätigkeit wurde drastisch eingeschränkt, Auslandsreisen wurden untersagt, ebenso Konzerte in den Großstädten Moskau und Leningrad. Fast alle Freunde wandten sich von ihm ab. Anfang 1974 erhielt Rostropowitsch – nicht zuletzt durch die Intervention von US-Senator Edward Kennedy – von der sowjetischen Führung die Genehmigung für einen „zweijährigen Auslandsaufenthalt“ zusammen mit seiner Familie; allerdings wurde ihm und seiner Frau 1978 die sowjetische Staatsbürgerschaft entzogen.

Über mangelnde Arbeit konnte sich Rostropowitsch im Westen nicht beklagen. Neben einer intensiven Tätigkeit als international gefragter Solist, war er häufig auch Gastdirigent bei den renommiertesten Orchestern. Neben diesen Verpflichtungen übernahm er 1977 die Position des Chefdirigenten des National Symphony Orchestra in Washington, eine Tätigkeit, die er 17 Jahre lang ausübte. Als am 9. November 1989 die Berliner Mauer fiel, setzte er in Paris alle Hebel in Bewegung, um so schnell wie möglich mit seinem Cello nach Berlin zu fliegen und am „Checkpoint Charlie“ eine von Bachs Solosuiten zu spielen.

Übrigens hat er erst jetzt, im Alter von 70 Jahren, diese Werke erstmals aufgenommen, „weil ich erst jetzt über die nötige ,Balance‘ verfüge“. Zur Zeit gibt Mstislaw Rostropowitsch viele Konzerte als Cellist und Dirigent zum Anlaß seines 70. Geburtstages; Ende November fanden zwei dieser „Jubiläumskonzerte“ mit den Wiener Philharmonikern im Konzertsaal des traditionsreichen Wiener Musikvereins statt. Dort gab er Ibykus am 20. November ein Interview; mit ihm unterhielt sich Hartmut Cramer.

Herr Rostropowitsch, seit fast 40 Jahren haben Sie – der weltberühmte Cellist – auch eine ebenso große Karriere als Dirigent erlebt. Es heißt, Sie wären Dirigent geworden, ohne das Dirigieren jemals richtig gelernt zu haben. Stimmt das?

Natürlich nicht. Ich werde Ihnen genau erzählen, wie sich das bei mir mit dem Dirigieren entwickelt hat.

Schon in ganz jungen Jahren war es mein Traum, Dirigent zu werden und nicht Cellist. Als ich etwa 8 bis 9 Jahre alt war, hat mein Vater, der ja auch Cellist war – er spielte übrigens viel besser Cello als ich – in den Sommermonaten viel in Kurorchestern gespielt; ich glaube, er hat das nur getan, um uns – seiner Frau und den beiden Kindern – einen Ferienaufenthalt zu ermöglichen; denn für „normale“ Ferien“ hatten wir einfach kein Geld.

Leider ist mein Vater sehr früh an einem Herzinfarkt gestorben; das war 1942 und er war erst 50 Jahre alt. Er war eine ungewöhnlich starke Persönlichkeit und sagte immer:

„Wenn die Leute mich brauchen, dann werden Sie zu mir kommen“, so sehr war er von seinem Können überzeugt – doch niemand kam.

Er war wohl sehr verbittert, als er starb?

Ja, natürlich. Ich glaube, daß mein Vater da, wo er jetzt ist, sich sehr darüber freut, daß Gott mir ein so schönes Künstlerleben ermöglicht hat, denn er hat mit seinem kein Glück gehabt. Dabei war er musikalisch begabter als ich, er war genial. Er konnte Klavierspielen – ganze Orchesterpartituren, und zwar auswendig –, er hat komponiert…

…Ihr Vater war auch Pianist, also nicht nur Ihre Mutter?

Oh, mein Vater war der bessere Pianist in der Familie. Er spielte das ganze Klavierwerk von Chopin, auswendig; alle Balladen, Etüden, Sonaten, die Konzerte, alles. Und das genaue Partiturstudium, das habe ich von meinem Vater gelernt. Also die Fähigkeit, ein Stück nach zwei- bis dreimaligem Durchspielen auswendig vortragen zu können. Aber das „prima vista“-Spielen, also das Spielen vom Blatt, das hat mein Vater perfekt beherrscht. Das konnte er wie kein anderer. Als ich mein erstes Klavierkonzert komponiert habe – da war ich gut 13 Jahre alt, und ein Jahr später starb mein Vater – da hat er die Partitur genommen und das ganze Konzert vom Blatt vorgespielt. Es war unfaßbar, aber wahr. Er hat alles total vom Blatt vorgespielt; also das war mein Vater und erster Lehrer.

Und weil unsere Familie sehr arm war und wir kein Geld hatten, um Urlaub zu machen, hat mein Vater jeden Sommer eine Stelle in einem kleinen Kurorchester angenommen; das war im Süden Rußlands in Separoje, und auch in Slawjansk. Und dort in Slawjansk habe ich 1940 zum erstenmal als Solist mit einem Orchester gespielt, und zwar das Cellokonzert von Camille Saint-Saens.

Und damit fing also – im Alter von 13 Jahren – Ihre Karriere als Cellist an?

Ja. Vorher hatte mein Vater mich – auch schon bei den Konzerten in Separoje – immer zu den Proben mitgenommen; bei jeder Probe war ich dabei und saß im Orchester, irgendwo zwischen den ersten und zweiten Geigen und hörte zu. Die Leute waren sehr nett zu mir, ich habe da viel gelernt. Meine ersten Stücke habe ich bereits im Alter von vier Jahren komponiert; mein Vater hat sie übrigens alle aufbewahrt. Und von vornherein haben mich die Dirigenten fasziniert; einer der ersten hat mir im Alter von 6 oder 7 Jahren das Transponieren beigebracht, also das Lesen der Klarinettenstimme, der Blechbläser etc. Und seit der Zeit hatte ich den Traum, Dirigent zu werden. Und bis zum Alter von 13 Jahren habe ich immer alte Plattenaufnahmen dirigiert, die Symphonien von Tschaikowskij zum Beispiel.

Aber mein Vater bestand darauf, daß ich Cellist werde, und er hat mich auch unterrichtet. Also wurde ich Cellist und nicht Dirigent – meinen alten Traum habe ich jedoch nie aufgegeben. Zunächst hatte ich allerdings keine Zeit dazu und wollte auch meine musikalische Erziehung sehr schnell abschließen. Ans Konservatorium [die Musikhochschule] kommen die Studenten in der Regel mit 18 Jahren, um dort fünf Jahre zu studieren; ich fing bereits mit 16 Jahren dort an. Allerdings hatte ich bei der Abschlußprüfung der ersten Klasse Schwierigkeiten; natürlich nicht beim Cellospielen, wohl aber in den theoretischen Fächern…

…Musiktheorie, Harmonielehre?

Nein, nein, damit hatte ich keine Probleme; aber wir wurden auch in Fächern wie Marxismus-Leninismus, Geschichte der Arbeiterbewegung, etc. geprüft; und da kannte ich mich überhaupt nicht aus. Allerdings mußte ich mich – mein Vater war ja seit über einem Jahr tot – um meine Familie kümmern, um meine Mutter und die ältere Schwester; also habe ich dann im nächsten Jahr alles nötige gelernt, so daß es am Ende der zweiten Klasse besser lief. Und Cellospielen konnte ich sowieso, das hatte mir mein Vater beigebracht. Natürlich habe ich auf der Hochschule meine Technik perfektioniert, das Repertoire erweitert, die Intonation noch weiter verbessert etc.; in aller Bescheidenheit kann ich sagen, daß ich bei der Prüfung zum Abschluß der zweiten Klasse dann wirklich gut gespielt habe. Und dabei hatte ich mir die schwersten Sachen aus der Literatur ausgesucht – Stücke von Paganini zum Beispiel – und sie absolut sauber und technisch perfekt vorgetragen.

Sie waren also das, was Mozart einen „soliden Cellisten“ genannt hätte?

Ja, könnte man sagen. Die Professoren waren so zufrieden, daß sie mich von der zweiten Klasse gleich in die fünfte und letzte versetzten; also brauchte ich anstelle von fünf Jahren nur drei Jahre am Moskauer Konservatorium zu studieren. Und als ich dann mit 19 Jahren mit dem Studium fertig war, stand ich bereits am Beginn einer großen Karriere als Cellist. Doch gleichzeitig habe ich – und das ganz ernsthaft – sofort auch eine Laufbahn als Dirigent begonnen.

Zunächst habe ich mit dem Komponisten Alexander gearbeitet – in Rußland gibt es zwei berühmte Musiker namens Alexander: der eine dirigierte den Chor der Roten Armee und war für mich natürlich nur ein Amateur; aber der andere war ein richtiger Komponist. Und seine Frau – obwohl keine professionelle Musikerin – war eine ganz geniale Lehrerin und ideale Pädagogin; sie hat mich und andere Studenten in der Technik des Dirigierens unterrichtet. Gleichzeitig habe ich Unterricht bei Leo Ginsburg genommen, einem der berühmtesten Lehrer am Konservatorium. Allerdings waren das Privatstunden, denn ich war ja kein Student mehr, sondern arbeitete schon erfolgreich als Cellist. Ginsburg war mit Sicherheit der beste Lehrer für Dirigieren am ganzen Konservatorium. Gennadij Roschdestwenskij war sein Schüler, genauso wie alle anderen berühmten russischen Dirigenten. Ginsburg war selbst kein großer Dirigent, aber als Lehrer war er der beste. Ich bin also zu ihm in die Wohnung gegangen, und er war ganz begeistert. Und er hat ganz ungewöhnliche Sachen mit mir gemacht; angefangen hat der Unterricht mit dem Dirigieren von Streichquartetten.

Welche Quartette waren das?

Drei oder vier von Beethoven – darunter auch späte –, und mehrere Quartette von Mozart.

Wie ging das, Sie haben eine Platte mitgebracht?

Nein, nein; ich brachte ein paar Freunde mit, die spielten dann die Quartette von Beethoven und Mozart, und ich habe dirigiert. Ginsburg hat mich sehr genau beobachtet, mich unterbrochen, mir erklärt und gezeigt…, es war wunderbar; phänomenal. Ich habe dadurch viel gelernt, denn an den vier unterschiedlichen Stimmen in einem Streichquartett der großen Komponisten kann man so viel studieren und ausprobieren.

Es ist ja auch schon deswegen so interessant, weil sich historisch das Orchester gewissermaßen aus dem vierstimmigen Satz der Streicher entwickelt hat und das Streichquartett sozusagen den „Kern“ des Orchesters bildet, um den sich die anderen Instrumente – die Holz- und Blechbläser vor allem – herumgruppieren.

Genau. Danach habe ich dann unter Ginsburgs Aufsicht Cellokonzerte dirigiert, und nach seinem Tod habe ich dann – nachdem ich Kyril Kondraschin kennengelernt hatte – mein erstes Konzert dirigiert. Mit Kondraschin stand ich in engem Kontakt, und auch mit einem Dirigenten namens Guzman, dem Chefdirigenten in Gorki, das heute wieder Nischni Nowgorod heißt. Er war zwar nicht sehr berühmt, und er war auch kein großer Musiker – aber ein guter Kapellmeister. Und ich habe Kondraschin und Guzman gebeten, mich für ein Konzert in Gorki vorzubereiten. Mit Kondraschin habe ich dann die Erste Symphonie von Tschaikowskij und die Fünfte Symphonie von Prokofieff einstudiert. Das war mein erstes öffentliches Auftreten als Dirigent, Ende 1961. Aber früher habe ich bereits dirigiert; fünf Zwischenaktmusiken von Lady Macbeth für Orchester.

Die Lady Macbeth von Mzensk von Schostakowitsch?

Ja, die Lady Macbeth von Schostakowitsch. Außerdem hatte ich etwas früher auch eine Welturaufführung dirigiert, die Lieder und Tänze des Todes von Mussorgskij, die Schostakowitsch orchestriert und meiner Frau Galina gewidmet hatte. Zu dieser Zeit war Schostakowitsch bereits schwer krank, er litt an Muskelschwäche. Aber mehr noch litt er daran, daß er dadurch nicht mehr als Pianist auftreten konnte, dabei liebte er diese Tätigkeit doch so sehr. Er hat mich und meine Frau oft bei Konzerten am Klavier begleitet. Und als ich seine Krankheit bemerkte, schlug ich ihm vor, er solle doch dirigieren, das würde sicherlich noch gehen. Er war einverstanden, und wir machten in Gorki ein Programm, wo er den ersten Teil dirigierte, und ich den zweiten Teil: Mussorgskijs Lieder und Tänze des Todes (in der Orchesterfassung) und fünf Zwischenaktmusiken aus Macbeth. Für mich war das ein großes Glück, denn der beste Artikel, der je über mich als Dirigent geschrieben wurde, stammt von Schostakowitsch. In diesem Artikel hat Schostakowitsch sehr interessante musikalische Ideen entwickelt; ich habe ihn heute noch.

Zuvor hatte mich Schostakowitsch bei den Proben beobachtet. Nachher kam er zu mir, war ganz begeistert und ging gleich in die Details: „Als ich bei der-und-der Stelle das Fagott nicht stark genug hörte und dachte: ,das muß doch deutlicher zu hören sein‘, hast Du wunderbarerweise das Fagott im gleichen Moment stärker hervorgehoben“; etwas Ähnliches ereignete sich in Bezug auf das pianissimo; denn zu Beginn spielte das Orchester mezzoforte anstelle mezzopiano, und deshalb war die spätere pianissimo-Stelle auch prompt relativ zu laut. Das ist sowieso das Schwerste, ein Orchester dazu zu bringen, wirklich piano bzw. pianissimo zu spielen.

Ich erinnere mich noch lebhaft an eine Diskussion mit dem berühmten Pianisten Heinrich Neuhaus, in deren Verlauf er ans Klavier trat und nacheinander eine Taste im pianissimo und im forte-fortissimo anschlug und fragte: „Wieviele graduelle Unterschiede gibt es zwischen diesen beiden Tönen?“ Das gehört zu den größten Schwierigkeiten in der Musik, diese vielen, vielen Abstufungen genau herauszuarbeiten.

Ich verwende immer sehr viel Zeit auf die Erarbeitung der dynamischen Schattierungen, wenn ich mit den Orchestern arbeite. Ich lasse sie dann piano spielen, dann mezzopiano, mezzoforte, dann forte, fortissimo… und dabei wird meistens klar, das vom f zum ff keine Steigerung mehr möglich ist, von einer weiteren Steigerung zum fff ganz zu schweigen.

Schostakowitsch war nicht nur über diese Probe und das anschließende Konzert in Gorki ganz begeistert, sondern hat dann auch später Freunden gegenüber seine Anerkennung über mich als Dirigenten ausgedrückt, und das hat mir in meiner Karriere als Dirigent natürlich sehr geholfen.

Später bekam ich dann die Chance, Tschaikowskijs Oper Eugen Onegin am Bolschoi-Theater zu dirigieren. Dafür habe ich noch zusätzlich bei einem weiteren Lehrer studiert. Nach den ersten drei Lehrern Ginsburg, Kondraschin und Guzman war mein vierter Dirigentenlehrer Boris Kaikin, der am Bolschoi-Theater dirigierte. Aber das muß ich näher erläutern.

Sie wissen, daß meine Frau Galina in der Oper Eugen Onegin die Tatjana, die Titelrolle, gesungen hat; und wenn ich in Moskau war, habe ich mir jede Aufführung angehört. Dabei habe ich nach und nach bemerkt, daß die Interpretation dieser Oper nicht stimmte. Also studierte ich die Partitur genauer und stellte fest, daß bei der Aufführung – eine „Standardaufführung“, die schon sehr lange unverändert im Repertoire war – sehr viele Fehler gemacht wurden. Tschaikowskijs Musik erklang völlig verfälscht; sie wurde sentimental und kitschig, ja fast schmutzig wiedergegeben. Ich liebe Tschaikowskij sehr, und wenn ich ihn aufführe, bemühe ich mich, seine Musik ganz deutlich und klar darzustellen, genauso wie Tschaikowskij sie geschrieben hat. Aber was da am Bolschoi-Theater als „Standardaufführung“ von Eugen Onegin geboten wurde, war alles andere als das.

Das war dann der Grund, warum Sie bei ihrem Début am Bolschoi 1968 so viele Proben verlangt haben?

Ja, und das hat zunächst zu einem Skandal geführt. Stellen Sie sich vor, ich komme als zwar anerkannter Cellist, aber doch als unerfahrener Dirigent ans weltberühmte Bolschoi, das mit Abstand beste Theater der ganzen Sowjetunion, und verlange für die Aufführung einer jahrzehntelang erprobten „Standardoper“ zehn Proben. Man will mir nur fünf geben, ich bestehe auf zehn, schließlich einigen wir uns auf die Zahl acht. Geworden sind es dann zweiundzwanzig – weil die Musiker soviel verlangt haben.

Sie haben gemerkt, daß die Musik Tschaikowskijs – der übrigens eine starke Persönlichkeit war – eben nicht so sentimental und kitschig ist, wie sie das bisher gehört und gespielt hatten. Linie für Linie bin ich mit dem Orchester die entscheidenden Stellen durchgegangen, habe argumentiert und vorgesungen, und sie haben das dann nicht nur akzeptiert, sondern waren schließlich sogar begeistert.

Beispielsweise schreibt Tschaikowskij bei der berühmten Phrase des Baritons in der Schlußszene die Fermate erst an dieser Stelle vor (siehe Notenbeispiel), bei den Aufführungen erklang sie aber bereits schon vorher, auf der höchsten Note des Baritons…

…weil der Bariton genauso glänzen wollte wie ein Tenor oder Sopran…

…natürlich, und die Dirigenten haben ihm nachgegeben. Und mit der Zeit wurde es dann völlig absurd: Die ersten Sänger hielten diese hohe Note 10 Sekunden aus, dann wurden es 12, 13, sogar 15…; also aus Tschaikowskijs Musik wurde Kitsch – und das war nicht das einzige Beispiel, davon gab es viele. Also gab es viel zu tun, und deshalb brauchte ich die vielen Proben. Denn ich wollte, daß die Musiker, und durch sie letztendlich auch die Zuhörer, einen möglichst direkten Einblick in die musikalische Intention des Komponisten bekommen.

Was sie beschreiben, hat Furtwängler mit dem Satz „Ich dirigiere das, was hinter den Noten steht“ bezeichnet.

Genau das ist es, was ich meine. Übrigens habe ich von Furtwängler sehr viel gelernt, gerade in Bezug auf Tschaikowskij. Seine Interpretation von Tschaikowskijs Sechster Symphonie hat mir so viele Ideen gegeben, viel mehr als die von irgendeinem russischen Dirigenten. Furtwänglers Interpretation zeugt von viel Phantasie, aber auch von ebensoviel Logik. Und wegen dieser einmaligen Kombination aus musikalischer Logik und schöpferischer Phantasie bewundere ich Furtwängler. Er war ein genialer Dirigent.

Wie und wann haben Sie Furtwängler das erste Mal gehört?

Durch alte Platten, die bei uns in Moskau gehütet wurden wie Schätze und nur geheim und „unter der Hand“ zu bekommen waren.

Weil er in Moskau offiziell – wie so ziemlich jeder Deutsche damals – als „Faschist“ und „Konterrevolutionär“ verschrieen war?

Ja, ja, diese ganzen Sachen sind ja bekannt.

Was haben Sie außer den Symphonien von Tschaikowskij noch von Furtwängler gehört?

Viele verschiedene Symphonien, vor allem natürlich die Werke Beethovens. Und was mich besonders beeindruckt hat: Furtwängler war immer derselbe; als Person, als musikalische Persönlichkeit. Und deshalb ist er für mich der größte Dirigent. Er war wirklich eine große Persönlichkeit. Und das ist besonders heute wichtig hervorzuheben, jetzt im Zeitalter der Elektronik, wo Aufnahmen als Dutzendware hergestellt werden, wo die Unterschiede verwässert werden und alles nivelliert wird, und man auch in der Kunst so etwas wie ein „statistisches Mittel“ einführt. Da gibt es sogar Plattenexperimente, bei denen zum Beispiel die Vierte Symphonie von Brahms oder Beethoven aus alten Aufnahmen so zusammengestellt wird, daß der erste Satz von Furtwängler ist, der zweite von Bruno Walter, der dritte von Klemperer, und der vierte… – dabei sind das doch ganz verschiedene Welten.

Weiterhin habe ich viel von den Dirigenten gelernt, mit denen ich als Cellist konzertiert habe. Selbst wenn man oft dasselbe Cellokonzert spielt, ist es doch immer wieder verschieden. Also da kann man viel lernen, zumal ich das Glück hatte, praktisch immer unter den besten Dirigenten der Welt zu spielen. Außerdem habe ich viele Dirigenten befragt, zum Beispiel Herbert von Karajan. Dabei ging es auch um Details wie den Auftakt zur Vierten Symphonie von Schostakowitsch oder einen bestimmten Chor- und Orchestereinsatz im zweiten Akt von Eugen Onegin, wo mir Karajan wichtige Anregungen gegeben hat.

Also, ich habe nicht nur dadurch gelernt, daß ich die berühmtesten Dirigenten gesehen und gehört habe, sondern ich habe mir immer die Zeit genommen, sie zu befragen, die kleinsten Details mit ihnen zu diskutieren und mich ständig zu verbessern.

Sie haben – gerade in den letzten 20 Jahren – viele große Orchester dirigiert. Früher war jedes große Orchester ein individueller Klangkörper. „Die Wiener“ waren für ihre Streicher berühmt, eine Tradition, die – wie der Primarius des Amadeus-Quartetts Norbert Brainin in einem kürzlichen Ibykus-Interview erläuterte – letztendlich auf Josef Böhm zurückgeht, dessen Streichquartettkunst noch die Zustimmung Beethovens gefunden hatte. Bei „den Pragern“ brillierten besonders ihre Bläser – die schon Mozart sehr schätzte. Und „die Berliner“ beeindruckten vor allem durch ihre Disziplin und die besondere Fähigkeit, den Entwicklungsprozeß einer Komposition lebendig zu gestalten, was sicherlich vor allem auf ihre intensive Arbeit mit Furtwängler zurückzuführen ist. Heute ist das weitgehend nicht mehr so, die Orchester gleichen sich – auch in ihrem Klang – mehr und mehr einander an. Was sind da Ihre Erfahrungen?

Genau so sehe ich das auch, und das ist sehr schade. Ein großes Orchester hat ein ganz bestimmtes „Gesicht“, d. h. es verkörpert eine ganz bestimmte Tradition; aber gleichzeitig hat es auch die Fähigkeit, das „Gesicht“ des Komponisten genau wiederzugeben. Denn jeder Komponist hat einen ganz bestimmten Klang, und das Orchester muß diesen Klang – bei aller Wahrung der eigenen Tradition – entsprechend wiedergeben. Es muß ein Gefühl für diesen Klang haben. Das bedeutet vor allem, daß der Dirigent auf die richtige Balance, die entsprechende Klangverteilung der einzelnen Instrumentengruppen, achten muß, um den charakteristischen Klang eines Komponisten wiederzugeben.

Ich hatte das Glück, noch mit Prokofieff und vor allem Schostakowitsch zusammenzuarbeiten, und habe in dieser Hinsicht viel gelernt. Auch indirekt von Dvorák, denn sein Cellokonzert habe ich mit dem tschechischen Geiger und Dirigenten Vacláv Talich einstudiert, der Dvorák noch persönlich gekannt hat. Talich hat mir gezeigt, wie sich Dvorák die Wiedergabe seines Cellokonzerts dachte. Und ich habe Talich natürlich intensivst ausgefragt, weil ich Dvoráks Musik so wiedergeben wollte, wie er sie gedacht und gefühlt hatte.

Gewöhnlich kann man die Intentionen des Komponisten nur durch Bilder vermitteln. Ich erinnere mich noch an eine Probe mit Swjatoslaw Richter, als wir Brahms‘ e-moll-Cellosonate einstudierten, und er mich plötzlich fragte: „Bei welchem Wetter, denkst Du, hat Brahms diese Sonate komponiert?“ Und schon ging es besser.

Herr Rostropowitsch, die Zeit von 1969 bis 1974 war für Sie sehr schwierig. Sie waren dem Regime unbequem, nicht zuletzt deshalb, weil Sie den geächteten Schriftsteller Alexander Solschenizyn in Ihrer Datscha aufgenommen hatten. Sie wurden in jeder Hinsicht schikaniert: Das Kultusministerium sagte stereotyp Ihre geplanten Auslandstourneen „wegen Krankheit“ ab; in Moskau und Leningrad waren die Konzertsäle plötzlich für Sie „nicht mehr frei“; Sie durften nur noch in der Provinz auftreten, wo Ihre Konzerte weitgehend totgeschwiegen wurden; und in den Kritiken über Orchesterkonzerte und Opernaufführungen wurde Ihr Name und der Ihrer Frau – der Primadonna assoluta am Bolschoi-Theater – noch nicht einmal mehr erwähnt. Sie galten als „Unperson“ und mußten Anfang 1974 sogar ins Exil gehen. Was war in diesen schwierigen Jahren für Sie das größte Problem?

Das war in der Tat eine schwierige Zeit, denn damals war ich zum erstenmal in meinem Leben mit einem wirklich großen Problem konfrontiert. Ich bin ein gläubiger Mensch, und ich denke, daß Gott mich auf diese Weise geprüft hat.

Die Freundschaft mit Alexander Solschenizyn begann 1969, nach meinem ersten Konzert in der Stadt Rjasan, wo Solschenizyn damals mit seiner Familie wohnte, bzw. hauste. In diesem Moment war er der allergrößte sowjetische Schriftsteller. Die Prawda hat ihn mit Lobeshymnen überschüttet, denn immerhin hatte Chruschtschow ihn aus dem Gefängnis bzw. Arbeitslager geholt. Man sollte sich da keine Illusionen machen: Chruschtschow wollte lediglich zeigen, wie „liberal“ er im Vergleich zu Stalin war; also ordnete er an, daß Solschenizyn „unser größter“ Schriftsteller war. Als Breschnew an die Macht kam, änderte sich das dann ebenso abrupt: Breschnew haßte Chruschtschow, und genauso wie Chruschtschow so ziemlich alles, was Stalin gutgeheißen hatte, in Bausch und Bogen verdammte, machte Breschnew es in Bezug auf Chruschtschow. So geht das übrigens bis heute: Für Gorbatschow war fast alles schlecht, was Breschnew gemacht hat, und für Jelzin ist fast alles schlecht, was Gorbatschow gemacht hat. So laufen die Dinge bei uns in Rußland. Also wurde Solschenizyn unter Breschnew wieder geächtet und verfolgt.

Solschenizyn kam an dem besagten Abend zwar zu meinem Konzert, aber anschließend leider nicht ins Künstlerzimmer. Also habe ich seine Adresse ausfindig gemacht und bin am nächsten Morgen zu seiner Wohnung gefahren, um ihn zu besuchen; ungefähr zwei Stunden lang haben wir uns dann intensiv unterhalten. Solschenizyn gefiel, wie er es ausdrückte, die „Farbigkeit“ meiner russischen Sprache, und er regte an, unsere Bekanntschaft weiterzupflegen.

Ich sah mit einem Blick, daß seine Verhältnisse sehr beengt waren, und daß er unter diesen Umständen eigentlich gar nicht arbeiten konnte; außerdem war er krank und brauchte Medikamente, die in einer Kleinstadt wie Rjasan nur schwer zu beschaffen waren. Also habe ich ihn eingeladen, in meiner Datscha in der Nähe von Moskau zu wohnen, obwohl ich natürlich sofort Schwierigkeiten mit der Regierung bekam. Zwei Minister, darunter der Innenminister, haben mich sogar aufgefordert, Solschenizyn „auf die Straße zu werfen“, als ich argumentierte, er habe außer meiner Datscha keine richtige Bleibe.

Solschenizyn, der bis zu seiner Ausbürgerung 1973 in meiner Datscha wohnte, wußte genau, was er vom System zu erwarten hatte, und daß er ständig überwacht wurde. Wenn wir nach Moskau gefahren sind, taten wir das manchmal in seinem Wagen – einem uralten Moskwitsch – und manchmal in meinem, bis er mir einmal sagte: „Slawa, das geht nicht. Damit machen wir es dem KGB zu leicht. Sie brauchen uns nur mit einem Lastwagen zu rammen und erledigen uns auf diese Weise zusammen. Wenn, dann sollten wir es ihnen schwerer machen; jeder sollte mit seinem Wagen fahren.“

Natürlich hatte ich Angst, auch bei den Spaziergängen, die wir gemeinsam machten. Aber das hat mir die Augen über das politische System in meinem Land geöffnet. Ich hatte schon in jungen Jahren aufgrund meiner Begabung sehr schnell Karriere gemacht und hatte deshalb politisch kaum Probleme.

Natürlich habe ich in dieser Situation an meine Familie gedacht, vor allem an die beiden Töchter, deren Zukunft ich nicht verbauen wollte. Andererseits sollten sie und etwaige Enkelkinder mir später nicht den Vorwurf machen müssen, ich hätte aus Feigheit und Bequemlichkeit die Wahrheit verschwiegen und mich angepaßt. Mir war klar, daß ich in einer so wichtigen Frage die Wahrheit sagen mußte; unbedingt das sagen mußte, was ich denke. Wenn ich jetzt im Rückblick über meine damalige Entscheidung nachdenke, dann komme ich zu dem Schluß, daß ich nie in meinem Leben etwas Besseres getan habe, als mich in dieser Situation für Solschenizyn einzusetzen. Das war moralisch das Beste, was ich getan habe.

Natürlich war das nicht einfach. Im Oktober 1970 habe ich den Offenen Brief entworfen, in dem ich meine Haltung in dieser Frage erklärt habe, und den ich dann später an die vier wichtigsten sowjetischen Zeitungen verschickt habe. Nachdem Galina den Brief gelesen hatte, sagte sie zunächst nur ein Wort:

„Nein!“ Dann hielt sie mir vor, ich würde ohne Zwang meine Karriere aufs Spiel setzen, die Zukunft der Familie, vor allem die der Kinder, und ich würde durch diesen Brief mein Leben ruinieren. Nach dem Motto: „Mach mit Deinem Leben was Du willst, aber setze nicht die Zukunft von mir und den Kindern aufs Spiel.“ Da kam ich auf den „Ausweg“ einer künstlichen Scheidung: Wir sollten uns pro forma trennen, damit ihnen nichts passierte, aber ansonsten so weiterleben wie bisher. Daraufhin haben wir beide zwei Nächte nicht geschlafen, uns gestritten, diskutiert, geweint etc., doch dann zeigte sich die große Charakterstärke meiner Frau: Galina stimmte meiner Entscheidung zu. Zusammen sind wir den Brief Satz für Satz durchgegangen; sie hat ihn redaktionell überarbeitet und sogar noch verbessert.

Sie hat Ihre Argumentation noch verstärkt?

Ja, denn nach 48 Stunden ist ihr klar geworden, daß ich in dieser Frage hart blieb und nicht nachgeben würde; weil diese Entscheidung mein Leben als Künstler betraf. Natürlich bekam ich dann, als der Brief – den die sowjetischen Zeitungen nicht veröffentlichten – in der westlichen Presse erschienen war und viel Staub aufgewirbelt hatte, die volle Härte des Regimes zu spüren. Und in gewisser Weise hatte ich das auch erwartet. Aber was mich wirklich überraschte, war nicht die Tatsache, daß ich von da ab nicht mehr im Westen auftreten durfte – nur einmal durfte ich in diesen Jahren im Ausland konzertieren: Das war hier in Wien, wo ich mit dem Bolschoi Prokofieffs Krieg und Frieden aufführte, eine Oper, die niemand außer mir am Bolschoi dirigiert hatte. Ich wurde damals übrigens sehr eng vom KGB überwacht; die Kritiken waren – obwohl das Publikum über die Aufführung begeistert war – erstaunlicherweise sehr schlecht; ich führe das auf den Einfluß des KGB zurück, der hier in Wien damals sehr aktiv war…

…Wien war ja zur Zeit des Kalten Krieges in geheimdienstlicher Hinsicht so etwas wie eine Drehscheibe, wie auch Berlin…

Genau, natürlich. Also außer diesem einen Auftritt hier in Wien 1971 durfte ich nicht mehr im Ausland konzertieren. Und auch nicht in Moskau oder Leningrad. Nur in der Provinz, und das unter unmöglichen Bedingungen. Aber das war nicht das Schlimmste. Das Schlimmste war, daß fast alle meine Freunde – und ich hatte damals viele sowjetische Freunde – von mir abfielen wie die Blätter von einem Baum im Herbst. Wir bekamen keine Besuche mehr, keine Telefonanrufe; es war, als ob wir nicht mehr existierten. Wir waren allein. Das war das Schlimmste.

Am Bolschoi-Theater, wo ich nach dieser Wien-Reise nicht mehr dirigieren durfte, wurden andere Dirigenten engagiert, und es hieß: „Alles vergessen, was Rostropowitsch gesagt hat.“ Auch in Eugen Onegin – und ich habe ja schon erklärt, wie begeistert die Musiker bei meinem Début 1968 auf meine Vorschläge reagiert hatten.

Als die Lage dann völlig unerträglich wurde, blieb mir schließlich nichts anderes übrig, als mich an meine Freunde im Westen zu wenden; und sie haben mir geholfen. Als dann im November 1989 die Berliner Mauer fiel, war ich natürlich sehr, sehr glücklich, bin so schnell wie es irgend ging nach Berlin geflogen und habe vor der geöffneten Mauer gespielt.

Das hat damals viele Menschen sehr berührt, daß Sie direkt nach der Maueröffnung alle Hebel in Bewegung gesetzt haben – es heißt, Sie haben einen Freund in Paris angerufen und ihn gebeten, Sie sofort nach Berlin zu fliegen – und am 11. November am „Checkpoint Charlie“ eine Bach-Suite gespielt haben.

Das war einfach ein Bedürfnis; ich mußte es tun. Und zwar allein. Denn diese Mauer war ein Symbol für mein Leben bzw. meine „beiden“ Leben – dasjenige vor 1974, und dasjenige danach – die so völlig verschieden waren, und so lange nicht in Übereinstimmung zu bringen waren, wie diese Mauer existierte. Jetzt versuche ich das aufzuarbeiten; zum Beispiel bin ich gerade dabei, alle meine Unterlagen, mein ganzes Archiv aus insgesamt sechs Ländern in meiner neuen Wohnung in St. Petersburg zusammenzutragen.

Noch eine letzte Frage zur Musik, Herr Rostropowitsch. Sie haben, um die Rolle eines Künstlers – eines Instrumentalisten oder Dirigenten – zu charakterisieren, des öfteren die Metapher gebraucht, ihm komme eine ähnlich vermittelnde Rolle zu wie einem Priester. Können Sie das näher erläutern?

Gerne. Wir Interpreten sind die Diener der Komponisten; wir müssen sehr bescheiden sein und dürfen niemals in erster Linie uns – unser Ego – darstellen, sondern vielmehr die Idee des Komponisten, der wiederum göttlich inspiriert ist. Sie wissen, daß ich 17 Jahre lang Chefdirigent in Washington war; und ich erinnere mich noch genau an den ersten Tag, als ich den Musikern sagte: „Freunde, Sie machen Fehler und ich mache Fehler; wir beide machen viele Fehler. Aber wir beide leisten mit unserer Musik einen Gottesdienst.“

Manchmal ist das gar nicht so einfach, denn natürlich kann es dabei auch zu Kämpfen kommen. Als Dirigent hat man die Wahl zwischen zwei Möglichkeiten: entweder ist man ein Diktator, der seine Musiker mit dem Mittel des Terrors diszipliniert, oder – und das ist meine Herangehensweise – man arbeitet mit ihnen auf der Basis von Freundschaft zusammen. Ich verzeihe den Musikern ihre Fehler, und sie verzeihen mir die meinen; aber wir beide arbeiten mit unserer Musik für Gott.

Diese Bescheidenheit gilt natürlich auch für mich als Cellisten. Nehmen Sie das folgende Beispiel: Warum habe ich die Aufnahmen der Bach-Cellosuiten erst so spät gemacht, mit 70 Jahren? Weil es dabei auf die Balance ankommt; und das ist eine Frage der Persönlichkeit. Verzeihen sie diesen Vergleich: Aber so ähnlich ist es, wenn ein junger Mann auf der Straße eine schöne junge Frau sieht; er verliebt sich sofort in sie und will sie haben. Und bei der nächsten, die er sieht, ist es genauso, und bei der übernächsten auch etc. Praktisch jede schöne Frau gefällt ihm und er will sie haben. Ihm fehlt einfach die „Balance“. Gottseidank schleifen sich gewöhnlich mit der Zeit die animalischen Instinkte ab, und die Vernunft kommt mehr und mehr zum Vorschein. Dies Problem besteht vor allem für uns Russen – ich rede da aus eigener Erfahrung. Als junger Mann und Cellist hatte ich auch keine Balance, und ich mußte lernen, daß nicht meine Persönlichkeit zuerst kommt, sondern die des Komponisten. Als ich jung war, war das manchmal eher umgekehrt.

Bei der Aufführung von Debussys Cellosonate ist es mir oft passiert, daß ich sie mit „russischen Tönen“ gespielt habe; das ist natürlich völlig falsch. Bei Bach wird das noch deutlicher; für eine Wiedergabe seiner Musik muß ich sogar meine „russische Persönlichkeit“ aufgeben; denn ein so großer Komponist wie Bach braucht eigentlich gar nicht „interpretiert“ zu werden, es „genügt“, ihn so aufzuführen, wie er ist und geschrieben hat. Und das ist bei allen großen Komponisten so.

Vor Bach habe ich ungeheuren Respekt; er ist eines der besten Beispiele dafür, daß die Kunst von Gott kommt. Wie bei einem Priester ist es nicht nötig, daß das Wort Gottes interpretiert wird, sondern daß Gott durch den Priester direkt zu den Menschen spricht. Und so sehe ich das auch mit Bach und anderen großen Komponisten; um ihn direkt mit den Menschen in Kontakt zu bringen, bedarf es meiner „Worte“ nicht, sondern ich muß die Musik so wiedergeben, wie sie geschrieben worden ist. Das ist auch der Grund, warum ich so genau die Partituren studiere und derart große Anstrengungen mache, um präzise Wiedergaben zu erreichen.

Herr Rostropowitsch, haben Sie vielen Dank für das interessante Gespräch.