Beethoven und die Kunst des vierstimmigen Quartettsatzes
- Norbert Brainin, der ehemalige Primarius des unvergessenen Amadeus-Quartetts, ist im März 75 Jahre alt geworden. Kurz nach seinem Geburtstag führte Ibykus mit ihm ein weiteres Interview, diesmal mit Beethoven als Schwerpunkt. Das Gespräch am 19. März auf Schloß Elmau, wo Brainin eine seiner Meisterklassen für junge Streichquartette abgehalten hatte, führten Ortrun und Hartmut Cramer.
Herr Professor Brainin, in einem Ihrer früheren Interviews mit Ibykus haben Sie gesagt, Beethovens große Errungenschaft sei der vierstimmige Satz; auf diesem Gebiet sei er unerreicht gewesen. Können Sie das näher erläutern?
Gerne. Beethoven schreibt in seinen späten Quartetten eine Art des vierstimmigen Satzes, bei dem die vier Stimmen zusammen gespielt bzw. gesungen werden, aber jede Stimme ganz individuell behandelt ist. Alle Stimmen singen etwas, was wichtig ist – und zwar alles gleich wichtig. Die Balance ist perfekt; die Stimmen brauchen sich nicht darum zu kümmern, wie laut sie singen, oder wie leise, weil alles so perfekt komponiert ist. Das wichtigste Element dabei ist die Motivführung, weil die Motive, die Beethoven benutzt, alle aus dem Stück selbst stammen und zusammenhängen. Vor allem in den späten Quartetten findet man das, aber natürlich auch schon teilweise in seinen früheren Werken.
Dasselbe gilt auch hier und da für Mozart. Auch bei ihm singen die vier Stimmen, und es ist so perfekt komponiert, daß man es eigentlich nur singen soll – aber: es muß richtig gesungen werden, mit richtiger Stimme, richtig produziert, und sie muß wirklich aus dem Körper herauskommen. Ich bin ja kein Sänger – aber ich nehme an, ein Bel Canto-geübter Sänger würde das sofort können.
Und wie wird so etwas auf der Geige gemacht?
Darin besteht natürlich die ganze Kunst. Um diesen Gesang auf der Geige zu produzieren, braucht man eine gewisse Technik; eine bestimmmte Bogentechnik. Erstens muß man den Ton auf der Geige „finden“; man muß die richtige Kontaktstelle zwischen Bogen und Saite herausfinden, und dann zusätzlich die richtige Bogengeschwindigkeit. Als letzter Faktor kommt dann der Druck hinzu. Das ist etwas, was der Künstler herausfinden muß, und das ist jeden Tag anders. Das muß man lernen, und zwar jeden Tag; man muß es üben und nochmals üben, bis es klappt. Ich kann das nur so erklären: wenn es wirklich funktioniert, dann kommt ein Ton heraus, der voller Ausdruck ist. Ich kann das auch beim Singen demonstrieren. Was immer auch meine Stimme sein mag: sie kommt aber wirklich von mir. Und diese Stimme hat wahren Ausdruck. So einen Ton braucht man, um solch eine Musik wie Beethovens vierstimmigen Satz zu spielen oder zu singen.
Diese Technik muß man praktisch jeden Tag üben?
Das muß man jeden Tag üben. Das ist seit Jahren eigentlich das einzige, was ich überhaupt übe. Das ist etwas, was auch die Bel Canto-Schüler lernen müssen. Man muß gleich von Anfang an mit dem richtigen Ton anfangen. Mit dem richtigen Klang; es muß gleich von Anfang an klingen. Das ist auch das Schwierigste für den Bel Canto-Sänger. Es ist eine technische Angelegenheit, daß seine Stimme gleich „da“ ist. Schon mit meiner geringen Stimme kann ich das machen. Ich bin kein Sänger, und kann es natürlich viel besser mit dem Bogen machen.
Jeden Tag reagiert die Geige anders. Ich spiele nicht gymnastisch, nie; ich spiele immer nur mit Ausdruck. Ich denke nur an den Ausdruck, wenn ich spiele; besonders solche Werke wie Beethovens späte Quartette. Denn das ist ja gerade das Typische an diesen Werken; der vierstimmige Satz Beethovens ist ja auch die typische Musik für diese Technik.
Noch einmal zu Ihrer Aussage, daß Beethoven auf dem Gebiet des vierstimmigen Satzes unerreicht sei: warum ist das so? Viele Komponisten vor und nach Beethoven haben sich dieser Kompositionstechnik bedient, aber warum ist Ihrer Meinung nach Beethoven in der Kunst des vierstimmigen Satzes unerreicht?
Weil er das Konzept „So frei, wie streng“, das er seiner Großen Fuge vorangestellt hat, wirklich ernst genommen hat. Das ist gewissermaßen sein erstes Gebot. Bach hat ja auch vierstimmig geschrieben, aber die einzelnen Stimmen sind bei ihm nicht individuell; dadurch produziert Bachs polyphone Technik einen gewissen Klang, eine gewisse Musik – eine große Musik. Aber bei Beethoven ist das so, daß seine Art der Stimmführung eine Individualität beinhaltet, die sich bei Bachs polyphoner Kompositionsmethode so nicht findet. Bei Beethoven ist jede Stimme anders, aber deutlich geprägt von der Motivführung.
Bei größtmöglicher Individualität der einzelnen Stimme herrscht also trotzdem die größtmögliche Einheit der Gesamtkomposition?
Genau. Und das macht die Größe von Beethovens Musik aus. Das ist die große Errungenschaft von Beethoven.
Musikalisch ausgedrückt ist das nichts anderes als die Aufhebung des alten Paradoxons in der griechischen Philosophie, dem Gegensatz vom Einen und Vielen. Also, daß man möglichst viele individuelle Stimmen bzw. Melodien zu einer Gesamtkonzeption zusammenfaßt.
Ja, das ist es vor allem, was man lernen muß, um Beethovens Quartette spielen zu können. Man übt – das ist ein bisserl gemein, wenn ich das so sage, aber im Grunde übt man sich an anderen Quartetten, bis man dann so weit ist, die von Beethoven spielen zu können.
Wo hat Beethoven das hergehabt? Wie hat er das gelernt?
Natürlich hat er das gelernt. Erstens hat er, wie wir wissen, Bach sehr genau gekannt; er konnte Fugen schreiben. Allerdings war er der Meinung: „Fugen schreiben alleine genügt nicht.“ Beethoven hat nie Fugen um ihrer selbst willen geschrieben, sondern diese Technik in seinen Kompositionen angewandt, um ein besseres Gesamtergebnis zu erzielen. Und das hat er wiederum von Mozart gelernt. Bachs polyphone Technik und Mozarts Art der Stimmführung hat er vereint. Es sind verschiedene Elemente, die aber gleichwertig sind; aus diesen verschiedenen Elementen hat Beethoven eine Synthese gemacht. Und daraus resultiert ein Klang, den man mit keinem anderen vergleichen kann. Es ist nicht eine Vierstimmigkeit nur in der Harmonie, das ist es nicht, ganz und gar nicht. Ein gutes Beispiel für das, was ich meine, ist der zweite Satz von op. 127. Und zwar der ganze Satz. Er besteht aus Variationen, von denen eine in die andere übergeht; man merkt eigentlich kaum, wann die eine aufhört, und die nächste anfängt.
Im ersten Satz von op. 127 geht Beethoven ähnlich vor, aber vor allem in diesem zweiten Satz, dem Variationensatz, ist dieser Typ von Vierstimmigkeit besonders stark ausgeprägt. Im letzten Satz auch, im dritten Satz aber sehe ich das nicht. Da ist alles mehr nach Bach als nach Beethoven gerichtet, also polyphon. Aber im Quartett op. 132 bedient er sich das ganze Stück hindurch dieser Technik mit diesem Klang, dem individuellen Klang der Stimmen und dem Zusammenklang zur gleichen Zeit. Deshalb benutze ich dafür den Ausdruck Synthese.
Wenn Sie darüber nachdenken – die späten Quartette Beethovens haben Sie mit dem Amadeus Quartett ja wahrscheinlich schon sehr früh gespielt…
…ja, bereits in den späten fünfziger Jahren; und zwar alle als integralen Zyklus – merkwürdigerweise zum erstenmal in Stockholm –, und dann immer mehr.
Wann sind Sie Beethoven gewissermaßen „auf die Schliche gekommen?“ Wann entstand bei Ihnen zum erstenmal die Idee, was das „Geheimnis“ dieser Quartette ist und wie man sie spielen muß?
Das ist für mich schwer zu sagen. Irgendwie habe ich das Gefühl, als hätte ich das schon immer gewußt. Ich habe es zwar nicht in der Weise verstanden, wie ich es jetzt erklären kann. Auch die Motivführung habe ich eigentlich schon immer verstanden, obwohl ich erst viel später darüber gesprochen habe. So ein Erkenntnisprozeß läuft ja so ähnlich ab wie bei den Komponisten; die Motivführung bei Haydn beispielsweise ist so ein Fall. Es ist wahr, er hat in den neun Jahren, bevor er die sechs Quartette op. 33 geschrieben hat, in denen er diese „neue Methode“ erstmals bewußt anwendet, keine Streichquartette geschrieben; aber davor hatte er bereits viele Quartette geschrieben. Und im Grunde genommen waren sie – das gilt vor allem für die Quartette op. 20 – nicht viel anders komponiert; zumindest war die Richtung bereits vorgegeben. Man kann das vielleicht an folgendem Vergleich illustrieren: Wasser von siebzig Grad ist Wasser; mit achtzig auch, nur ist es heißer geworden. Mit 99 Grad ist Wasser immer noch Wasser, aber mit 100 Grad ist es nicht mehr dasselbe. Das bedeutet, Haydns musikalisches Schaffen erreichte einen Punkt, wo es nicht mehr dasselbe war; aber vorher war es nicht sehr viel anders gewesen. Seine Musik hatte bereits den Drang in die spätere Richtung; sogar die ersten Anfänge in der Ausübung dieser Technik finden sich in den zuvor komponierten Werken.
Also unterschwellig war dieser synthetische Prozeß des Komponierens, des Komponierens um eine größere Synthese der verschiedenen Elemente zu erreichen, schon da, aber irgendwann war es dann ganz explizit?
Absolut; genauso ist das gewesen. Und von da an, nach dieser „Wasserscheide“, war nichts mehr so wie vorher. Obwohl natürlich, zum Beispiel auch Beethoven sehr gut komponiert hat bevor er sich dieser Methode bewußt bedient hat. Seine Quartette op. 18 sind Meisterwerke allererster Art, oder auch die davor komponierten Streichtrios; aber alles war anders von dem Zeitpunkt an, als er die Methode der Motivführung zum erstenmal bewußt angewandt hat. Das war, glaube ich, in den Quartetten op. 59. Allerdings bin ich mir nicht ganz sicher; in op. 59,2 gibt es Stellen, die sind genauso gut komponiert wie in den späten Quartetten; allerdings wendet er diese Methode hier noch nicht immer an. Nur ab und zu. In op. 95 ist es ähnlich, vor allem im zweiten Satz.
Wie bei allen Komponisten, auch bei Schubert, ist alles in diese Richtung gegangen, und Beethoven hat zu der Zeit, als Hadyn diese Technik benutzte, noch keine Ahnung davon gehabt. Zumindest nicht bewußt. Bei Schubert findet sich die Arbeit mit für ihn typischen Motiven in fast allen seinen Werken.
Es lag ja, wenn man so will, damals praktisch in der Luft; es war die Art des Komponierens.
Aber wie gesagt, Hadyn und Mozart hatten den größten Anteil daran, und nachher Beethoven.
Können Sie ungefähr angeben, wann Ihnen die Bedeutung von Beethovens späten Quartetten und die Motivführung für das Quartettschaffen überhaupt bewußt geworden ist? Wahrscheinlich, nachdem Sie mit dem Amadeus Quartett die gesamte klassische Literatur durchgearbeitet, öffentlich gespielt und auch unterrichtet hatten?
So ungefähr. Es war in den siebziger Jahren, als unser Quartett schon über 25 Jahre „alt“ war. Damals haben wir sehr viel Beethoven gespielt, vor allem in Italien. Aus irgendeinem Grunde bekamen wir von dort viele Anfragen, Beethoven-Zyklen zu spielen. Merkwürdigerweise vorwiegend in Sizilien: in Catania, Palermo, Syrakus und Messina. Gleich mehrmals sind wir dort auf Tournee gewesen, sind von einer Stadt zur anderen gefahren und haben jedesmal ein anderes Programm gespielt; in zwei, manchmal in drei Städten. Ich erinnere mich noch sehr gut daran, denn meine Kollegen waren anfänglich nicht besonders begeistert darüber, weil diese Konzerte natürlich sehr, sehr anstrengend waren. Aber ich habe mir gesagt: „Ich lasse nicht einen einzigen dieser Abende aus“.
Das waren immer reine Beethoven-Abende?
Ja. Das haben wir in dieser Zeit – also Mitte der siebziger, Anfang der achtziger Jahre – nicht nur in Sizilien, sondern auch in Florenz, Mailand und Turin gemacht; da ist bei mir in punkto Beethoven – aber eben nicht nur in Bezug auf Beethoven – gewissermaßen „der Groschen gefallen“.
Das heißt also: die eigentliche Leistung von Haydn und später auch von Mozart, ist Ihnen im Grunde erst beim Spielen bzw. Durcharbeiten aller Beethoven-Quartette klargeworden?
Eigentlich ja. Denn wir haben dann auch Mozart besser gespielt. Unsere Anfänge mit Mozart waren nicht besonders gut, obwohl alle geglaubt haben – schließlich hießen wir ja Amadeus Quartett –, daß wir auf Mozart spezialisiert waren. Das war aber wirklich nicht der Fall. Wir haben immer Beethoven besser gespielt als Mozart. Aber ab einer gewissen Zeit war es so, daß wir tatsächlich durch die Beherrschung der Musik Beethovens auch die von Mozart besser gespielt haben. Ich habe von Beethoven gelernt, wie man Mozart richtig spielt und bewertet.
Das ist eigentlich überhaupt nicht erstaunlich, wenn man Beethovens eingangs zitierten Satz ernst nimmt: „Tantôt libre, tantôt recherchée“. Das habe ich immer befolgt, und zwar nicht nur bei Beethoven.
Nehmen wir Haydns Musik als Beispiel. Wenn ich, wie das bei den Haydn-Quartetten oft vorkommt, eine Kantilene mit einer harmonisch-rhythmischen Begleitung zu spielen hatte, dann sind meine Kollegen zu Anfang buchstäblich immer mir gefolgt; ich mußte sie sozusagen „mitschleppen“. Bis ich dann gesagt habe: “Ihr müßt mich tragen; ich möchte hier nicht führen, das macht meine Stimme zu schwer; ich möchte geführt, geleitet werden. Es muß fließen. Macht das für mich, und ich werde folgen. Ich werde folgen.“ Und das hat funktioniert. Das ist die Lösung des Rätsels und des Paradoxons „So frei, wie streng“. Das ist die Lösung und es hat phantastisch funktioniert.
Meine Kollegen haben sich natürlich alle darüber gefreut, denn auf diese Weise haben die Stimmen, die sie gespielt haben, ihren eigentlichen Wert bekommen. Das ganze Stück hatte sozusagen „Kopf und Fuß“, und die Zuhörer haben gedacht und gesagt: „Hört mal, wie gut sie dem ersten Geiger folgen.“ Dabei war es genau umgekehrt: ich bin ihnen gefolgt. Allerdings mußten wir es so spielen, wie es mir paßte; also so, wie ich spielen sollte und es Ihnen auch sagte. Sonst hätte ich es gar nicht tun können.
Das haben wir daraufhin auch an den Stellen gemacht, wo das Cello ein Solo zu spielen hatte, oder die Bratsche, oder die zweite Geige. Immer haben wir dasselbe Rezept angewandt. Das hat bei Bach seinen Ursprung. Das habe ich dann begriffen. Das war auch der Grund, warum ich sehr gut Bach spielen konnte. Richtig begriffen habe ich die Interpretation dieser Musik erst in den siebziger Jahren; wie wichtig das intensive Studium von Beethovens Quartetten war, war mir damals natürlich noch nicht klar. Aber daß es sehr wichtig war, schon. Irgendwie ist das alles – das Verständnis von Bach, Haydn und Mozart – für mich von Beethoven gekommen.
Würden Sie auf Grund dieser eigenen Erfahrung sagen, daß das Studium der Beethovenschen Quartette generell die beste Herangehensweise ist, um alle anderen klassischen Komponisten, auch die späteren, wie Schumann, Mendelssohn, Brahms etc. zu verstehen – in den siebziger Jahren haben Sie ja auch angefangen, in Köln junge Quartette zu unterrichten; daß man also Beethovens Kunst als Leitschnur für das Verständnis aller anderen Komponisten nimmt?
Ja, vor allem Beethovens Anwendung der Motivführung. Auch Brahms ist ganz typisch dafür, Dvoràk auch, und Mendelssohn natürlich; Schumann, absolut. Absolut! Weil für mich Beethoven der Schlüssel zum Verständnis aller anderen klassischen Komponisten war, wurde mir klar, daß Beethoven eigentlich der größte Komponist, ja der größte Künstler aller Zeiten war. Bis ungefähr zehn Jahre vor seinem Tod gab es viele andere Künstler, die Beethoven in ihren Leistungen ebenbürtig waren. Aber von da an war er mutterseelenallein, auf weiter Flur. Als Künstler.
Ich glaube, er muß das gewußt haben. Er hat es gefühlt; er war zwar sehr bescheiden darüber, aber er hat es nicht verheimlicht.
Der von Ihnen genannte Zeitpunkt ist sicherlich in diesem Zusammenhang wichtig, denn nach dem Wiener Kongreß und besonders nach den Karlsbader Beschlüssen von 1818 gab es ja so etwas wie eine Restauration der Feudalherrschaft – und das nur wenige Jahre nach den europäischen „Freiheitskriegen“: Fürst Metternich ließ nicht nur seine politischen Gegner bespitzeln und verhaften – wie zum Beispiel den damals jungen Friedrich List, der ins Exil nach Amerika gehen mußte – sondern dehnte diese Überwachung auch auf die Künstler aus. Wie man weiß, hat Beethoven sehr darunter gelitten. Doch Beethoven besaß einen so starken Charakter – nicht zuletzt sein Heiligenstädter Testament beweist das –, daß er gerade in solchen extremen Drucksituationen seine größten Werke schuf: Meisterwerke wie die Neunte Symphonie, die Missa Solemnis oder die späten Quartette, die ganz bewußt für die Wirkung auf die Nachwelt geschrieben wurden.
Was Beethovens Meisterschaft angeht, fällt mir gerade – nicht unbedingt à propos – etwas ein, was seine Behandlung der Soloinstrumente betrifft; ich meine vor allem die Beziehung zwischen dem Violinkonzert und den Klavierkonzerten bei Beethoven. Das Beethovensche Violinkonzert ist ja eine Umarbeitung eines Klavierkonzerts, wobei Beethoven vor allem die Tonart von C-Dur nach D-Dur geändert hat. In dem Violinkonzert hat er versucht, die Violine so zu behandeln, wie er in den Klavierkonzerten das Klavier behandelt hat. Das hat natürlich nicht ganz funktioniert. Aber er hat es versucht, und im zweiten Satz „paßte“ die Geige auch vortrefflich, da war sie wirklich am richtigen Platze. Auf dem Klavier war Beethoven viel erfolgreicher, als auf der Geige. Was ich damit sagen will: der besondere „Ton“, von dem ich vorher gesprochen habe, den habe ich schon in seinem Violinkonzert gehört. Aber später ist mir aufgefallen, daß das in seinen Klavierkonzerten noch viel offensichtlicher ist. Denn auf dem Klavier kann man praktisch all‘ das machen, was jedes Instrument kann; außerdem singt das Klavier besser. Die Geige singt besser als die menschliche Stimme, aber das Klavier singt besser als die Geige.
Ich glaube, das Klavier ist wirklich das beste Gesangsinstrument. Beethoven hat das natürlich gewußt. Es ist kein Zufall, daß er fünf Klavierkonzerte geschrieben hat und nur ein Violinkonzert; und nach dem Violinkonzert hat er sich nicht mehr mit dieser Gattung beschäftigt.
Wenn das Klavier im Vergleich zur Geige das bessere Gesangsinstrument ist, dann gilt das aber doch wahrscheinlich nicht für Beethovens Behandlung des Streichquartetts?
Das ist richtig. Absolut. Denn Beethoven schreibt seine Streichquartette so, daß die vier Stimmen sehr individuell ausgeprägte Gesangsstimmen sind, bei deren Ausgestaltung es sehr auf die persönliche Initiative jedes Spielers ankommt. Dieser persönliche…
…Einsatz?
… ja, Einsatz! Der persönliche Einsatz eines jeden Spielers ist das Wichtigste bei der Aufführung von Beethovens Quartetten. Deshalb waren alle Versuche, Beethovens Quartette mit einem Streichorchester wiederzugeben, so unbefriedigend. Selbst bei Furtwängler hat es nicht funktioniert. Allerdings hat er das auch offen zugegeben und sinngemäß gesagt: „Ja, ich weiß, daß das nicht geht; aber ich wollte das Werk gerne spielen, und weil das Orchester mein Instrument ist, wollte ich es damit probieren; aber vor allem, weil ich nie eine adäquate Wiedergabe von Beethovens Streichquartetten gehört habe.“
Er hat das Amadeus Quartett nicht auf dem Höhepunkt gehört.
Leider hat Furtwängler uns überhaupt nicht gehört.
Das bedeutet aber auch, daß ein ursächlicher Zusammenhang besteht zwischen dem, was Sie zu Beginn gesagt haben über den vierstimmigen Satz – der höchstmöglichen Freiheit und Individualität der einzelnen Stimmen bei größtmöglicher Strenge der Gesamtkomposition – und der Tatsache, daß Beethoven den Streichquartettsatz auf eine nie erreichte Höhe gebracht hat?
Ja, und das ist auch ein schlagender Beweis für seine Lösung des Paradoxons vom Einen und Vielen; sein Streichquartett ist wirklich eine Einheit, obwohl es sich gleichzeitig um eine Komposition von vier ganz unterschiedlichen Stimmen handelt. Es ist derart perfekt zustandegekommen, es ist fast unwahrscheinlich.
Abschließend noch einmal zu Furtwängler. Er ist ja berühmt geworden für seinen Ausspruch, das zu spielen, was „zwischen“ bzw. „hinter den Noten steht“.
Ja, und das ist die eigentliche Aufgabe des Künstlers. Natürlich hängt das wieder mit dem erwähnten richtigen Klang zusammen, den man für die adäquate Darstellung einer musikalischen Idee braucht. Wenn man sich darauf nicht konzentriert, und das nicht ständig übt, dann kommt keine wirkliche Interpretation dabei heraus.
Furtwängler hat ja bekanntlich immer Schwierigkeiten gehabt, wenn er einen Satz anfing, der einen besonderen Klang erforderte. So etwas ist natürlich einem Orchester nur sehr schwer zu vermitteln. Formal schon gar nicht. Ich glaube, die einzigen, die bei ihm in solchen Situationen mitkamen, waren die Berliner Philharmoniker. Denn die wußten Bescheid, die kannten ihn schon. Einer seiner Konzertmeister, Szymon Goldberg, hat das auf eine entsprechende Frage einmal lakonisch so ausgedrückt:
„Also wir schauen uns das eine Weile lang an, und dann fangen wir einfach an!“ Aber dann haben sie richtig angefangen!
Das war nämlich der ganze Witz von Furtwängler.
Die Spannung so auf den Höhepunkt zu treiben…
…ja, er hat das mit Absicht gemacht. Natürlich verfügte er – ganz abgesehen von all seinem anderen Können – über eine ganz „normale“ Schlagtechnik, die er hätte einsetzen können, wann er wollte; aber das reichte ihm nicht, er wollte etwas Besonderes.
Dietrich Fischer-Dieskau hat Furtwänglers Kunst in einem Aufsatz so ausgedrückt: „Musik, die atmet“; als einen Prozeß des Werdens, der sich über das Orchester auf die Zuhörer übertrug. Es gab ja schon zu Lebzeiten Furtwänglers unzählige Anekdoten darüber, daß er sich angeblich „nicht entscheiden konnte, den Einsatz zu geben“ und deshalb „so komische Verrenkungen“ machte. Dabei war bereits der erste Ton bei Furtwängler Ausdruck eines schöpferischen Prozesses! Und die Fähigkeit, diesen Prozeß lebendig wiederzugeben, konnte er bei seinen Spielern nur dadurch wachrufen, daß er – wie vor allem seine Konzertmeister betont haben – die Musiker derart intensiv unter Spannung setzte, daß ihnen buchstäblich „der Schweiß ausbrach“, sie quasi auf den Zehenspitzen gesessen haben und wie ein einziges großes Instrument unter seiner Leitung dachten, fühlten und agierten.
Genau das war es, was er erreichen wollte! Furtwänglers „Zittern“ und „Beben“ zu Beginn von Beethovens Fünfter ist ja Legende, aber es gibt auch noch das berühmte Beispiel seiner Eroica. Die beginnt doch mit zwei Forte-Schlägen. Ein normaler Dirigent macht diese beiden Schläge im forte und dann geht es weiter. Aber was hat Furtwängler gemacht? Er hat seine Musiker kurz, aber intensiv angeschaut und selbst wenn die Musiker noch nicht ganz bereit waren, – Bumm, schon hatte es eingeschlagen! So einer war Furtwängler, der hat sich getraut, so etwas zu tun.
Das ist ja heute leider anders. Zur Zeit stehen ja die Aufnahmen hoch im Kurs, die zum Beispiel von einigen merkwürdig steril klingenden Orchestern gemacht werden. Es scheint, als wolle man mit diesen Aufnahmen bewußt der Tradition Furtwänglers entgegenwirken. Es ist wohl mehr als nur die Marotte, mal einmal etwas völlig anderes zu machen, sondern vielmehr der Versuch, das Wesen der Musik zu attackieren.
Ich weiß, solche Musiker spielen nur die Noten. Die spielen sie zwar mehr oder weniger richtig – auf eine gewisse, technisch adäquate Art –, aber das ist auch alles. Technisch ist ihr Spiel zwar auf diese Weise korrekt, aber es hat keinen Ausdruck und daher keine Ausstrahlung. Darüberhinaus fehlt eigentlich auch der Rhythmus. Man hört das besonders deutlich, wenn Musiker vorspielen, um engagiert zu werden: ständig sind sie damit beschäftigt, bloß keinen Fehler machen. Nur damit nichts passiert!
Und dann passiert auch nichts.
Allerdings!
Herr Professor Brainin, haben Sie vielen Dank für das interessante Gespräch.