Im Frühjahr 1999 verfaßte der amerikanische Philosoph und Staatsmann Lyndon H. LaRouche mehrere strategische Aufsätze, die zwar unterschiedliche grundlegende Probleme behandeln, letztlich aber alle um die entscheidende praktische Frage kreisen: Wie läßt sich unter den Bedingungen einer globalen Zivilisationskrise, wie wir sie heute unzweifelhaft erleben, rechtzeitig eine ausreichende Zahl entschlossener Menschen auf der ganzen Welt motivieren bzw. qualifizieren, damit diese schwere Krise überwunden werden kann? Den folgenden Aufsatz dieser Reihe, der das zentrale Thema der schöpferischen Vernunft anhand der Prometheus-Idee behandelt, vollendete LaRouche am 7. Juli 1999; er erschien am 23. Juli in dem amerikanischen Wirtschaftsmagazin Executive Intelligence Review.
Die Amerikaner werden die Entscheidungen, von denen das Überleben ihrer Nation jetzt abhängt, nur treffen können, wenn das klassische Denken rasch wieder Einfluß erhält. Es geht um eine geistige Erneuerung in einer Bevölkerung, die im Vergleich zu dem geistigen Zustand vor 25 Jahren, zum größten Teil katastrophal ungebildet und oft sogar völlig irrational geworden ist.
Die strategische Absicht hinter diesem Aufsatz besteht darin, alle dazu fähigen Menschen zu bewegen, breitere Kreise unserer Mitbürger entsprechend zu erziehen. Sie müssen die Ideen verbreiten, ohne deren politischen Einfluß unsere Nation die gegenwärtige, sich massiv zuspitzende Weltkrise nicht überleben kann.
Wer wie ich durch das Studium vergleichbarer Anstrengungen in kritischen historischen Perioden – besonders in der Geschichte Europas und der USA – ermutigt wurde, der wird es keineswegs für unmöglich halten, ein derartiges Ziel auch in der relativ kurzen verfügbaren Zeit zu erreichen.
Die Methode ist die gleiche, die Benjamin Franklin, G. E. Lessing und Moses Mendelssohn in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts mit Erfolg angewandt haben und deren man sich auch schon vorher bei der Renaissance des 15. Jahrhunderts bedient hatte. Das Prinzip dieser Methode ist folgendes: Man provoziert die Menschen, nicht nur die prominenteren, sondern auch den sogenannten Durchnittsbürger, sich den Tatsachen zu stellen, die ihn zwingen, seine zur Gewohnheit gewordene Ignoranz abzuschütteln. Typisch für die Ignoranz, die es zu überwinden gilt, sind die weitverbreiteten, fest eingefahrenen, aber destruktiven populären Vorurteile der heutigen Zeit. Diese Methode, die sich in den genannten und anderen bedeutenden Fällen einer kulturellen Renaissance im Laufe der Geschichte bewährt hat, verwenden wir heute in unseren Publikationen.
Die Arbeitsweise besteht darin, zunächst eine kleine Minderheit unserer Bürger zu erziehen, welche dann andere Mitbürger ausbilden, die später wiederum weitere erziehen. Aus vergleichbaren erfolgreichen Erfahrungen der Vergangenheit wissen wir, daß die Beteiligten, die im Rahmen dieses Organisierungsprozesses im „Schneeballsystem“ lernen, andere auszubilden, in den nächsten Jahren zusammen mit ihren Kindern zu den bedeutenden Bürgern unserer Republik zählen werden. Dieses glückliche Ende setzt natürlich voraus, daß unser Land die Serie von Krisen in den Monaten bis zur Präsidentschaftswahl überlebt.
Daß diese erfreulichen Resultate nicht schon früher eingetreten sind, liegt hauptsächlich daran, daß der gewünschte schnelle Erfolg beim Anheben von Moral und Intelligenz eines Volkes sich nur auf eine ganz bestimmte Weise einstellt, nämlich so wie es der Dichter Percey Shelley in seinem berühmten Aufsatz Zur Verteidigung der Poesie beschrieben hat. In normalen Zeiten erscheint es oft als zwar notwendige, aber undankbare und schrecklich ermüdende Kärrnerarbeit, das intellektuelle und moralische Niveau auch nur eines kleinen Teils der Bevölkerung anzuheben, und nur ein paar außergewöhnliche, hartnäckige Denker und ihre Schüler werden Freude daran haben. Erst unter den besonderen Umständen einer tiefen Krise unter den Nationen, wie wir sie heute erleben, sind die Voraussetzungen dafür gegeben, daß die Menschen plötzlich allgemein in der Lage sind, „tiefe und leidenschaftliche Vorstellungen über Mensch und Natur zu verstehen und weiterzugeben“, wie Shelley sagt.
Heute gerät die ganze Welt in den Sog eines der größten Fälle einer solchen Krise, wie Shelley sie beschrieben hat, in der gesamten Geschichte. Insbesondere seit der wahnsinnigen politischen Lynchkampagne gegen Präsident Clinton im vergangenen Winter und der raschen Abfolge von Finanzkrisen und Kriegen nach dem Washingtoner G7-Treffen vom Oktober 1998 verschlechtert sich die politische und wirtschaftliche Lage immer rapider. Ein Resultat dieser Veränderung ist, daß bei immer größeren Bevölkerungsteilen der Geist spürbar zunehmend wacher wird. Immer mehr Menschen innerhalb einer zunehmend verängstigten Bevölkerung wittern das nahe Ende der derzeit existierenden Wirtschaftsordnung. Überall auf der Welt verspüren sie den Geruch des Untergangs, den die sprichwörtlichen ancien régimes ausströmen. Chancen, wie sie sich jetzt eröffnen, boten sich in der Vergangenheit stets nur sehr kurz. In diesem kurzen Zeitraum müssen wir also die Gunst der Stunde nutzen – oder wir haben sie für immer verloren.
Jeder aufmerksame und vernünftige informierte Beobachter kann erkennen, daß heute eine solche Krise weltweit sozusagen seismisch ausbricht. Wenn, und nur wenn, diese sich nur kurz bietende Chance angemessen und rasch genug genutzt wird, kann und wird unsere Nation sich jenseits des anschwellenden Sturmes ans sichere Land retten. Andernfalls wird diese Nation die Lebenszeit Ihrer Kinder nicht überdauern, das sollten Sie aus vergleichbaren früheren Perioden der Geschichte gelernt haben.
Sollten Sie irgendeinen Zweifel hegen, daß unsere Nation in den Treibsand eines funktionalen Analphabetismus abgeglitten ist, dann fragen Sie sich: Wieviele Schüler werden in wesenlose „Zombies“, ja manchmal sogar Mörder verwandelt, weil man sie systematisch mit disassoziativen, geisttötenden Drogen wie Ritalin, Prozac und Dexedrin und mit sogenannten „Informationen“ vollstopft, anstatt ihnen wirkliches Wissen zu vermitteln? Was sagt uns das über die Erziehung, die diese armen Opfer an unseren Schulen oder über das Internet erhalten?
Fragen Sie dann: Sind die Inhalte unserer Massenmedien viel besser als diese Zerstörung der Jugend an unseren Schulen, oder vielleicht sogar noch schlechter? Vergleichen Sie das, was heute in der Schule und zu Hause gelesen wird, mit der typischen Lektüre vor 25 oder 50 Jahren. Vergleichen Sie die Bestseller und sonstige Literatur, die heute in den Buchläden angeboten wird, mit der vor 25 und 50 Jahren. Amerika hat viele Feinde, wirkliche oder auch nur eingebildete – aber der tödlichste unserer realen Feinde ist die Ausbreitung von Unwissen und moralischer und intellektueller Abgestumpftheit im heutigen „New Age“, in der Führungsschicht von Politik und Wirtschaft ebenso wie in der allgemeinen Bevölkerung aller Altersgruppen.
Wie sich die Bürger selbst an der Nase herumführen
Wenn ich nun beginne, möchte ich Sie eingangs noch einmal davor warnen, aus Engstirnigkeit in einen in den letzten, vom Bildungsverfall geprägten Jahrzehnten häufigen Fehler zu verfallen. Führen Sie sich nicht selbst an der Nase herum: Denken Sie nicht, das hier Dargestellte habe mit den praktischen Problemen Ihrer näheren Umgebung nichts zu tun!
Manche Leser werden vielleicht fälschlich vermuten, ich bezöge mich auf eine Art „Geheimlehre“, die nur „Strippenziehern“ bekannt sei, die hinter den Kulissen die Geschicke auf der politischen Bühne lenken. Diese Leser sollten sich von den Fesseln solcher und ähnlicher Illusionen tunlichst befreien.
Die wirkliche Politik läuft auf drei Ebenen ab.
Auf der unteren Ebene des Denkens funktioniert die übliche Politik – selbst bei dem, was die meisten Menschen für die ganz hohe politische Ebene halten – auf der Grundlage bestimmter relativ oberflächlicher axiomatischer Annahmen. Die Menschen auf dieser unteren Ebene halten sich an Grundannahmen, die in ihrem Kopf ähnlich operieren wie die Definitionen, Axiome und Postulate in der traditionellen Euklidschen Geometrie. Der größte Teil der heutigen Politik – zum Beispiel die üblichen „billigen Tricks“ im Wahlkampf – gründet darauf, den blinden Glauben der meisten Menschen an diese Grundannahmen auszunutzen.
Wenn aber plötzlich die normalen Verhältnisse durch eine Krise wie die jetzt weltweit aufbrechende verändert werden, brechen diese axiomatischen Annahmen in sich zusammen. Das gilt sogar für viele Leute in relativ hohen Positionen in Politik und Finanzwelt heute. Eine sich rasch wandelnde Welt macht sie perplex. Diese Veränderungen gehen nach neuen Regeln vor sich, die sie nicht verstehen. Immer mehr einfache Bürger ebenso wie Führungsleute aus Wirtschaft und Politik entdecken das jetzt. Dies wird sich in den kommenden Wochen und Monaten noch ausweiten.
In solchen Zeiten muß sich eine neue politische Führung bilden. Sie muß den bisherigen Führungsstil, der jahrzehntelang oder sogar noch länger akzeptiert wurde, durch einen neuen ablösen. Wer unter so fundamental veränderten Umständen noch wirksame politische oder wirtschaftliche Führung bieten möchte, wird auf einer bzw. sogar zwei höheren Ebenen eines neuen Denkens in der Politik arbeiten.
Auf der ersten dieser höheren Ebenen, also der mittleren, wird die neue Gruppe aus gewandelten alten sowie neuen Führungsleuten sich einfach die angemessenen neuen Regeln aneignen, welche die alten gescheiterten Definitionen, Axiome und Postulate, die früher so effektiv erschienen waren, ablösen.
Die effektivste neue Führung werden jedoch diejenigen bilden, welche die Frage der politischen Axiome von einer höheren, dritten Ebene aus betrachten. Auf dieser dritten Ebene stehen die Menschen, die verstanden haben, wie sukzessive Veränderungen in den herrschenden politischen Axiomen zustandekommen. Solche Denker waren stets die größten Dichter und Wissenschaftler und auch die qualifiziertesten Politiker und Staatsmänner der Welt. Diese dritte Ebene steht für die Art von Führungsqualität, die in einer Zeit großer Krise unerläßlich ist.
Sollten wir im Zuge der heranstürmenden Krise alle ins Unglück stürzen, so wird die Schuld bei den anderen Bürgern und ihren derzeitigen politischen Führern liegen, die das, was ich eben gesagt habe, einfach nicht verstehen wollen. Wie hysterische Passagiere, die sich an ihr altes Wissen klammern – ihre gescheiterten Axiome, ihre sinkende Titanic –, so würde ihre politische Führung uns am liebsten alle zusammen mit dem sinkenden Schiff in den Abgrund reißen, wenn wir das zulassen.
So war es auch damals, als Abraham Lincoln warnte, daß die meisten Amerikaner sich – so wie heute immer noch – „meistens für dumm verkaufen lassen“. Er sprach von der Blindheit derjenigen, die immer wieder die Dummen sind, weil sie, um es einmal gerade heraus zu sagen, die Dummen sein wollen. Sie möchten häufig in Krisenzeiten an ihrem blinden Glauben an alte Ansichten festhalten, selbst wenn das ihren sicheren Ruin oder Untergang bedeutet – wie zum Beispiel die Menschen, die bei der verrückten Spekulation mit den „Finanzderivaten“ mitmachen.
Die „Blindheit“ des typischen Amerikaners, ebenso wie anderer Völker, liegt in seiner Gleichgültigkeit gegenüber Problemen, mit denen er „sich nicht belasten möchte“. Nichts hat den „Underdogs“ – und das sind inzwischen rund 90 Prozent der Amerikaner! – in den letzten 30 Jahren mehr geschadet als ihr eigener Wunsch, ihre Aufmerksamkeit auf die „praktischen Dinge“ des Alltags zu beschränken. Gewöhnlich schadet ihnen das, was sie nicht sehen wollen, am meisten. Wird ein typischer Amerikaner mit wirklich wichtigen Problemen konfrontiert, kommt als Reaktion: „Bitte, reden wir über etwas anderes!“
Und so zieht die Katastrophe herauf, Schritt für Schritt, und jedesmal werden sie aufs Neue überrascht. So wurden sie von den wirtschaftlichen Katastrophen auf den globalen Finanzmärkten überrascht: die Krise im Oktober 1987, im Oktober 1997, im Oktober 1998 und die „Brasilienkrise“ im Februar 1999, die ich alle vorausgesagt hatte, und auch die jüngste Finanzkrise im Juni 1999. Alle diese Krisen haben sich vorher angekündigt, Schritt für Schritt war die globale Krise in den letzten 30 Jahren weiter vorgerückt, bis sie nun 90 Prozent der Amerikaner betrifft. Nun wird sehr bald der „ganz große Knall“ kommen, obwohl die meisten vorher gesagt haben: „Nein, das kann nicht passieren – das werden die (die sogenannten Autoritäten) niemals zulassen!“
Gewöhnlich ist diese „Blindheit“, die den heute leider nur allzu typischen Amerikaner zur leichten Beute neuer Katastrophen macht, Teil seines gewohnheitsmäßigen Zynismus, seiner populistischen Verachtung der Prinzipien von Wissenschaft und klassischer Kunst. Deshalb müssen wir erst diesen Populismus und den dazugehörigen „libertären“ Kult beiseite räumen, bevor wir uns der wirklichen Politik zuwenden können.
Auf den folgenden Seiten möchte ich Ihre Aufwerksamkeit auf eine der wichtigsten Fragen der politischen Wissenschaft überhaupt lenken: wie sich politische Axiome unter den Bedingungen einer schweren politischen und gesellschaftlichen Krise radikal verändern. Denken Sie einmal darüber nach, warum einer der mächtigsten Staatsmänner in der Geschichte der USA, Abraham Lincoln, in der bislang schwersten Krise unserer Republik sein Kabinett in der hohen Kunst der Staatsführung mit Hilfe von Auszügen aus den Tragödien William Shakespeares unterwies.
Lincolns berühmte Lektionen über Shakespeare, die er seinem Kabinett während des Bürgerkrieges bis spät in die Nacht erteilte, bilden bei der Arbeit der größten Staatsmänner der Welt keineswegs eine Ausnahme. Auch alle erfolgreichen Lehren der Militärwissenschaft wurden seit der griechischen Antike vom Standpunkt der Klassiker abgeleitet und gelehrt. Alle überragenden Feldherrn verdankten ihre militärische Kompetenz großenteils einer solchen Erziehung zu einem wahren Meister der Politik. Einen großen Teil unseres eigentlichen Wissens über ernsthafte Politik beziehen wir aus den großen Kunstwerken, die wir manchmal von scheinbar weit entfernten früheren Epochen geerbt haben.
Der antike Prometheus-Mythos, unser Thema, bietet eine der grundlegendsten und wichtigsten dieser klassischen Lektionen in großer politischer – und militärischer – Strategie.
Bitte lesen Sie den Rest des Aufsatzes in der gedruckten Ausgabe des Ibykus
(Übersetzung: Hartmut Cramer)