In einer Zeit, da die globale Finanz- und Wirtschaftskrise immer mehr Nationen und Kontinente ins Elend stürzt, rund um den Globus Kriege entflammen und im Namen der Globalisierung das Ende des Nationalstaat verkündet wird, Strategen wie Samuel Huntington den „Zusammenstoß der Kulturen“ prophezeien und Egoismus, Sozialdarwinismus und Kulturpessimismus zum Ausdruck des Zeitgeistes geworden sind, ist der Kampf für einen „Dialog der Kulturen“ höchst aktuell. Ohne einen „Dialog der Kulturen“ gibt es keinen Frieden und keine gerechte Weltwirtschaftsordnung. Ein solcher „Dialog der Kulturen“ schließt ein, daß jede Nation das Recht auf Entwicklung und Fortschritt hat und allen Völkern der Erde eine menschenwürdige Entwicklung möglich wird.
Auf diesem Hintergrund sollte man die mahnenden Worte des Papstes Johannes Paul II. betrachten, der aus Anlaß der Jubiläumsfeiern, zu denen am 8. Oktober in Rom mehr als 2000 Bischöfe aus aller Welt zusammengekommen waren, von einem „Scheideweg“ sprach, an dem sich die Menschheit befinde: „Die Menschheit hat die Machtmittel, mit denen sie aus der Erde einen blühenden Garten machen oder die Welt der Zerstörung preisgeben kann.“ An die Stelle einer von Pessimismus, von „Subjektivismus“ und „Relativismus“ gekennzeichneten Kultur gehe es heute mehr denn je darum, das Wissen der Menschheit zu nutzen, um das Gemeinwohl zu befördern, sagte der Papst.
Was sind die Grundlagen für einen „Dialog der Kulturen?“
Ein Blick auf die Menschheitsgeschichte macht deutlich, daß es im wesentlichen zwei Denkrichtungen, zwei unterschiedliche Axiome waren, die für die Geschichte unserer Zivilisation in den letzten 2500 Jahren prägend waren und auch für die Gegenwart bestimmend sind: Auf der einen Seite die oligarchische Denkweise, die – auf dem Erbe des heidnischen Rom basierend – ein Hobbesches Menschenbild vertritt: Danach ist der Mensch von Natur aus böse: „Homo hominis lupus est“, bar jeder Fähigkeit zur Selbstvervollkommnung. Dieser Denkweise entspricht die Idee eines „linearen“ Universums, in dem die aus der Liebe, aus Agape, geborene schöpferische Fähigkeit des Menschen grundsätzlich negiert wird.
Demgegenüber steht auf der anderen Seite das republikanische, das klassisch-griechische Erbe Solons (640–561 vor Christus) und Platons (427–347 vor Christus) und darauf aufbauend das augustinisch-christliche Menschenbild, das Ursache war für die Entstehung der bedeutendsten Perioden der Menschheitsgeschichte. Gemäß diesem Axiom wird der Mensch als Ebenbild Gottes betrachtet, der im Gegensatz zum Tier die einzigartige schöpferische und moralische Fähigkeit besitzt, mit neuen Ideen und Erfindungen sowohl im technologisch-wissenschaftlichen als auch künstlerischen Bereich zum Fortschritt der Gattung beizutragen und neue Gesetze des Universums zu entdecken.
Alle großen Perioden der Menschheit waren an diesem Menschenbild orientiert, und wenn Kulturen untergingen, so waren es kulturelle Faktoren und der moralische Mangel an Überlebensfähigkeit, der den Keim zur Selbstzerstörung legte.
Als Platon 387 vor Christus seine berühmte Akademie – eine Ausbildungsstätte für künftige Staatsmänner, Militärs und Wissenschaftler – in Athen gründete, stellte er in bewußter Gegnerschaft zur oligarchischen Fraktion der Sophisten (die den Mord von Platons Lehrer Sokrates 399 vor Christus verschuldet hatten), die Staatskunst und wissenschaftliche Erkenntnismethode in den Mittelpunkt der „sokratischen“ Erziehung. Nach Platon ist Wissen nicht Information, nicht empirische Aneinanderreihung von Fakten, sondern die Substanz von Wissen ist „Veränderung.“ Jeder schöpferische Ideenbildungsprozeß entzündet sich – wie Platon im Dialog Menon zeigte – an einem Paradoxon; also an etwas, das im Widerspruch zu den Annahmen, Meinungen des Denkens steht. Aufgelöst wird dies Paradoxon durch die Entdeckung einer Höheren Hypothese, sprachlich vermittelt als poetische Metapher.
Diese, mit dem Erbe des Sokrates und Plato verbundene klassisch-
griechische Periode, – die erste bedeutende Revolution in der Geschichte der europäischen Zivilisation, legte, wie LaRouche in seinem Aufsatz „Christentum und Zivilisation“ schreibt, der im kommenden Ibykus erscheint, den Grundstein für die eigentlich fundamentale Revolution der Menschheit: Die Entstehung des Christentums und dessen Verbreitung durch die Apostel Paulus und Johannes. Mit der Idee der „Menschwerdung“, „Kreuzigung“ und „Auferstehung“ Gottes wurde somit zum ersten Mal ein Konzept in die Gesellschaft eingeführt, wonach jeder Mensch ein Ebenbild Gottes ist, d. h. alle Menschen sind Kraft dieser Bestimmung gleich.
Auf dem paulinischen Erbe aufbauend, formulierte der Kirchenvater Augustinus (354–430) die Grundlagen der christlich-abendländischen Zivilisation. Im Mittelpunkt seiner Lehre steht die Idee vom Menschen als Ebenbild Gottes. Ohne „agape“, ohne die Liebe zu Gott und den Mitmenschen ist der Mensch zu keiner echten schöpferischen Entdeckung fähig, so lautet seine Grundaussage. In seinem Gottesstaat setzt er sich sehr kritisch mit den Kulten des heidnischen Römischen Reiches auseinander und sah seinen Niedergang voraus.
Augustinus wiederum legte den Grundstein für die dritte Revolution in der Geschichte der europäischen Zivilisation: die Europäische Renaissance im 15. Jahrhundert, die zu den großartigsten Perioden der Menschheit gehört. Es handelt sich um ein Projekt, das nach der verheerenden „Schwarzen Pest“, der damals mehr als 20 Millionen Menschen zum Opfer fielen, von einem Kreis engagierter europäischer Humanisten (darunter die Wegbereiter Dante Alighieri (1265–1321), sowie Nikolaus von Kues (1401–1464) als eine Flanke gegen die rückständige feudale Oligarchie eingeleitet wurde. Zu den Errungenschaften der Renaissance gehörte die Schaffung des ersten modernen Nationalstaates unter dem französischen König Ludwig XI. (er regierte von 1461–1483), die Gründung von Schulen und Universitäten und der wirtschaftliche Wiederaufbau Europas.
Wichtigster geistiger Vater der europäischen Renaissance war Kardinal Nikolaus von Kues, der die wesentlichen Prinzipien des modernen Nationalstaates formulierte, dessen Legitimität er vom „göttlichen Naturrecht“ ableitete. Mit seinem Werk De docta ignorantia leitete Kues eine Revolution in der wissenschaftlichen Methode der Erziehung ein. Wissen bedeutet für den im platonischen Denken geschulten Kues nicht deduktives Lernen, sondern Wissen ist im wesentlichen „Entdecken“, die Entdeckung universeller Prinzipien durch den menschlichen Geist. Der Mensch ist als einziges Gattungswesen fähig, das „kognitive“ Potential des Geistes selbstbewußt zu entwickeln. Dabei ist jeder kognitive Akt „ein souveräner“ geistiger Akt, und die Menschheit schreitet fort zu dem Grade, wie sie Wissen als Akkumulation neuer Entdeckungen von Prinzipien (Ideen), die von einer Generation zur nächsten über Tausende von Jahren weitergegeben wurden, assimiliert und „neues“ Wissen erzeugt.
Die Leitidee der Renaissance ist, daß der Mensch sich aus „Liebe“ (agape) für den Fortschritt und das Gemeinwohl der Menschheit einsetzt. Es ist diese dem Menschen eigene „Leidenschaft“ des schöpferischen Denkens, welche das Wesen des Menschen ausmacht und gemäß LaRouche zum gemeinsamen Nenner eines „Dialogs der Kulturen“ werden sollte.
Wie diese Leidenschaft zum schöpferischen Denken zu entwickeln ist, legt Friedrich Schiller in seinem grundlegenden Werk Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen (1795) dar. Im Mittelpunkt steht die Frage der Staatskunst, die Erziehung des Menschen zu einem selbstbewußten Staatsbürger. Mit Blick auf die Französische Revolution und ihre Ausartung in den jakobinischen Terror stellte Schiller die Frage: Was hindert die Menschen subjektiv daran, eine einmalige historische Chance zu nutzen? „Eine physische Möglichkeit scheint gegeben, das Gesetz auf den Thron zu stellen, den Menschen endlich als Selbstzweck zu ehren und wahre Freiheit zur Grundlage der politischen Verbindung zu machen. Vergebliche Hoffnung! Die moralische Möglichkeit fehlt, und der freigebige Augenblick findet ein unempfängliches Geschlecht,“ schrieb Schiller im Fünften Brief.
Schiller spricht damit ein sehr aktuelles Problem an. Es geht um den „subjektiven Faktor“ in der Geschichte und die Frage, was die Menschen, was die politisch Verantwortlichen in Krisen daran hindert, das historische Momentum zu nutzen und verändernd in die Geschichte einzugreifen. Die historische Chance trifft auf Menschen, die moralisch und geistig nicht auf die neuen Herausforderungen vorbereitet sind, so die Analyse Schillers. Er zeigt, daß die Wurzeln dieses moralischen Problems kultureller Art sind. So wird der Zeitgeist, wie es bei Schiller heißt, einerseits von einer völlig dekadenten und erschlafften Elite und andererseits von Menschen geprägt, die in ihren Gefühlen verroht, nur auf die Befriedigung ihrer Triebe drängen.
Wenn der Einzelne dem Staat entfremdet ist, sieht Schiller eine Verbesserung im Politischen nur dann gegeben, wenn in jedem einzelnen Menschen das Empfindungsvermögen ausgebildet, wenn der Charakter des Menschen erzogen wird.
Im Neunten Brief entwickelt er die Kernthese seines Werks Über die ästhetische Erziehung des Menschen : „Alle Verbesserung im Politischen soll von der Veredelung des Charakters ausgehen – aber wie kann sich unter den Einflüssen einer barbarischen Staatsverfassung der Charakter veredeln? Man müßte also zu diesem Zwecke ein Werkzeug aufsuchen, welches der Staat nicht hergibt, und Quellen dazu eröffnen, die sich bei aller politischen Verderbnis rein und lauter erhalten. Jetzt bin ich an dem Punkt angelangt, zu welchem alle meine bisherigen Betrachtungen hingestrebt haben. Dieses Werkzeug ist die schöne Kunst, diese Quellen öffnen sich in ihren unsterblichen Mustern“.
Schiller zeigt auf, daß die „Schönheit eine notwendige Bedingung der Menschheit“ ist. Sie soll den Menschen zurückführen und ihm seine ursprüngliche Bestimmung als Mensch zurückgeben. Es ist daher die Kultur, welche die Aufgabe hat, das Empfindungs- und Vernunftvermögen auszubilden. Der Mensch ist nur da ganz Mensch, wo er mit dem Schönen spielt, und mit dem Schönen spielt nur, wer ganz Mensch ist. Einem gelungenen Kunstwerk geht es nicht um einen bestimmten Zweck, außer im Menschen den Spieltrieb anzuregen, mit dem Schönen zu spielen, es auf sich wirken zu lassen, womit es ihm die ,,Ästhetische Bestimmungsfreiheit“ gibt, „von Natur“ aus sich selbst das zu tun, was er will. Mit anderen Worten: Durch die Kultur wird dem Menschen die Freiheit zu sein, was er sein soll, vollkommen zurückgegeben. Sowohl poetisch wie auch philosophisch bezeichnet Schiller daher die Schönheit als unsere „zweite Schöpferin“, als die „notwendige Bedingung der Menschheit“.
Die Frage, die Schiller in seinen Ästhetischen Briefen aufwirft, ist heute sehr aktuell: Zu Beginn des 21. Jahrhunderts ist die Menschheit mit großen Herausforderungen konfrontiert: Um das Überleben von mehr als 6 Milliarden Menschen zu garantieren, ihnen eine adäquate Ernährung und Erziehung zu geben, bedarf es heute einer neuen gerechten Weltwirtschaftsordnung und einer kulturellen und moralischen Renaissance, eines „Dialogs der Kulturen“. Dieser fängt beim Einzelnen an, der Ausbildung aller seiner Kräfte zu einem harmonischen Ganzen und setzt eine kritische Auseinandersetzung mit der Geschichte voraus. „Nur wenn wir praktisch alle Grundannahmen von allen Kulturen in der Welt überdenken und verändern, hat die Menschheit eine Chance“, so hatte es Helga Zepp-LaRouche in ihrer Rede „Der subjektive Faktor der Geschichte“ (1997) formuliert. „Die Menschen müssen sich ändern und falsche Grundannahmen über Bord werfen. Denn aus dieser Krise kann nur noch eine wirklich „revolutionäre“ Veränderung herausreißen.“