In einer sehr ungewöhnlichen Erklärung erhob Papst Johannes Paul II. am 4. November 2000 den englischen Humanisten Sir Thomas More zum Schutzpatron und Vorbild aller Regierenden und Politiker. Dies ist eine große Herausforderung für die heutigen Politiker, in ihrem Denken und Handeln diesem großen Humanisten nachzueifern.
Was ist Politik? Für Papst Johannes Paul II. ist Politik „der Einsatz legitimer Autorität für das Gemeinwohl der Gesellschaft“, und deshalb sollte „die politische Aktivität im Geiste des Dienens ausgeführt werden“.
In diesem Sinne wird damit nur das weitergehende Prinzip angewendet, daß das Recht der menschlichen Gesellschaft mit dem Naturrecht übereinstimmen muß. Die Grundlage unserer Werte „kann nicht in provisorischer und veränderlicher ,Mehrheitsmeinung‘
bestehen“, sagt der Papst. „Nur die Anerkennung eines objektiven moralischen Rechts, das als ,Naturrecht‘ in das Menschenherz eingeschrieben ist, ist der obligatorische Bezugspunkt für das bürgerliche Recht.“
Thomas Morus, der kämperische Christ
Thomas Morus, zweifellos der größte Staatsmann im Tudor-England, verkörpert das Ideal des verantwortungsvollen Christen, der seine bürgerlichen Pflichten im Interesse des Gemeinwohls erfüllt. Ironischerweise hatte Morus ursprünglich überhaupt nicht die Absicht, Politiker zu werden. Seine erste starke Neigung ging dahin, sein Leben der Religion zu widmen. Erst nach jahrelangen inneren Kämpfen rang er sich dazu durch, die Verantwortung politischer Führung zu akzeptieren. Dabei betrachtete er seine Aufgaben als eine kompromißlose Erfüllung des Dienstes an Gott und war bereit, für seine Verpflichtung zur Wahrheit schließlich sogar mit dem Leben zu bezahlen.
Seinen außergewöhnlichen Charakter verdankte Morus einer außergewöhnlichen Erziehung, zunächst in seiner Familie, und dann in der Beschäftigung mit der klassischen Kultur, die über die italienische Renaissance nach England vermittelt worden war.
Die Kraft, die seinen Charakter in seinen familiären Beziehungen und in seiner politischen Karriere prägte, war die Liebe. 1477 oder 1478 geboren, wuchs er in der Obhut liebevoller Eltern, des Juristen John More und dessen Frau Agnes, auf. Die große Liebe und Fürsorge der Eltern gab er später an die eigene Familie weiter, indem er sich intensiv um ihre Erziehung und geistige Entwicklung bemühte. Erziehung war für ihn ein Ausdruck von Liebe, indem man im anderen das von Gott geschenkte Potential des schöpferischen Denkens entwickelt, das in jedem Kind vorhanden ist. Erziehung war für More der Weg, durch den die Menschen ihre wahre Humanität entfalten konnten. Erasmus verglich Mores Heim mit Platons Akademie.
Thomas‘ eigene frühe Erziehung begann an der St.-Anthony’s-Schule, danach kam er als Page in den Haushalt des Lordkanzlers und Erzbischofs von Canterbury und späteren Kardinals John Morton. Morton war der wichtigste Berater des großen Königs Heinrich VII.
Morton schickte ihn später nach Oxford, damit er dort Griechisch und Latein sowie Theologie und Naturwissenschaften studierte. Nach drei Jahren kehrte Thomas nach London zurück, um zunächst in New Inn und dann in Lincoln’s Inn Rechtswissenschaften zu studieren. Gleichzeitig begann er mit Vorlesungen über Augustinus‘ Gottesstaat in der Londoner Kirche St. Lawrence.
Zu jener Zeit, im letzten Jahrzehnt des 15. Jahrhunderts, hatte sich London zu einem Zentrum der größten Gelehrten entwickelt. Dazu zählten vor allem die Humanisten, die die Saat der Goldenen Renaissance aus Italien mit zurückgebracht hatten, um sie in den fruchtbaren Boden Tudor-Englands einzupflanzen. Unter Heinrich VII. besuchten viele italienische Humanisten England, vor allem aber wurde durch die Reisen englischer Gelehrter nach Italien das „New Learning“ (Neues Lernen) der Renaissance in England eingeführt. Eine führende Rolle dabei spielten William Grocyn, William Lily, John Colet und Thomas Linacre. Das für Mores Entwicklung wichtigste Mitglied dieses intellektuellen Zirkels war jedoch Erasmus von Rotterdam, sein „Seelenbruder“.
Diese Kirchenmänner brachten die Kenntnis der griechischen Sprache mit, Manuskripte griechischer Klassiker, darunter wissenschaftliche Werke, aber ebenso die Werke der Italiener – von Dante über Petrarca bis Boccaccio, darunter u. a. Lorenzo, Poliziano und Pico della Mirandola, und ebenso die Ideen des Nikolaus von Kues. Nach ihrer Rückkehr nach England verbreiteten diese Männer das „neue Lernen“, u. a. indem sie neue Lehrinstitute wie die St. Paul’s School und das Royal College of Physicians gründeten.
Nachdem More sich für die politische Laufbahn entschlossen hatte, stieg er in rascher Folge in immer höhere verantwortliche Positionen auf:
- 1504 wurde er unter Heinrich VII. Parlamentsmitglied.
- 1510 war er unter Heinrich VIII. im Parlament und wurde zum Untersheriff ernannt.
- 1517 Mitglied des Kronrats.
- 1521 zum Ritter geschlagen und zum Unterkanzler ernannt.
- 1523 Sprecher des Unterhauses.
- 1524 High Steward der Universität Oxford.
- 1526 Richter an der Sternenkammer.
- 1529 wurde er nach der Entlassung Kardinal Wolseys dessen Nachfolger als Lordkanzler.
Mit dieser letzten Beförderung trat dann die Krise in Mores Verhältnis zur Krone offen zutage.
Heinrich VII., der gute König
Mores politische Ansichten wurzelten in seinem Studium von Platon, Augustinus und den Denkern der italienischen Renaissance, besonders Cusa. Sie gründeten auf dem Menschenbild der Renaissance, dem Verständnis vom Menschen als höchster Kreatur der göttlichen Schöpfung. Wenn der Mensch nach dem Ebenbild Gottes geschaffen ist, heißt das, daß nur der Mensch schöpferisch denken kann und Erkenntniskraft besitzt, dank derer er grundlegende Entdeckungen macht, diese in neue Technologien umsetzt und dadurch die produktive Arbeitskraft stark steigert. Wenn das der Mensch ist, dann ist es die moralische Verpflichtung der Regierung, für eine Politik und für Institutionen zu sorgen, die diese gottgegebenen schöpferischen Fähigkeiten entwickeln, damit jeder einzelne Mensch in ganzem Umfang zum fortdauernden Fortschritt der Gesellschaft beitragen kann. Das ist das Naturrecht.
In Mores Augen war es der König, der das Recht und die Pflicht hatte, die Gesellschaft in moralischer Übereinstimmung mit der göttlichen Ordnung – dem Naturrecht – zu ordnen, so daß die Regierung dem Gemeinwohl diente. Daher war der persönliche Charakter des Königs von entscheidender Bedeutung.
In seinen Epigrammen schrieb More über den Unterschied zwischen dem guten und dem schlechten König: „Wer ist der gute König? Er ist der Hirtenhund, der Beschützer der Herde. Mit seinem Bellen hält er die Wölfe von den Schafen fern. Wer ist der schlechte König? Er ist der Wolf.“
In seinen frühen Schriften zur Staatskunst untersucht More, wie der gute oder schlechte Charakter eines Königs über Gedeih oder Ruin des Königreiches entscheiden konnte. Sein frühestes Werk in diesem Zusammenhang war eine Untersuchung über Richard III., der für Morus alles verkörperte, was ein König nicht sein sollte. Richard III. war ein blutiger Tyrann, dessen Charakter viele Katastrophen über das Königreich brachte. Mores Studie über Richard III. war das Modell für Shakespeares gleichnamiges meisterhaftes Drama.
In seinem berühmten Werk Utopia beschrieb More seine Vorstellung eines tugendhaften Königs. In diesem Werk organisiert der gute König Utopos die Gesellschaft nach Maßgabe der Vernunft, um dem Gemeinwohl zu dienen. Auch König VII. war für More das Modell eines guten Königs.
Mit dem Ende der Rosenkriege bestieg 1485 Heinrich VII. den Thron und machte sich daran, auf englischem Boden einen modernen Nationalstaat aufzubauen. Der Krieg um die Thronfolge zwischen den Seitenlinien Lancaster und York des Hauses Plantagenent war 1455 ausgebrochen, und Heinrich entschied ihn mit seinem Sieg über Richard III. auf dem Schlachtfeld bei Bosworth für sich. Seinen Anspruch, die Kluft zwischen den Yorks und den Lancasters überwunden zu haben, bekräftigte er durch seine Heirat mit Elisabeth von York. Aber mehr noch als diese Heirat waren es seine wirtschaftlichen, sozialen und politischen Maßnahmen, welche die Nation aufbauten und einten.
Um eine moderne, am Gemeinwohl ausgerichtete Nation aufbauen zu können, mußte Heinrich die Macht des heteronomen feudalen Adels brechen, er mußte den gesellschaftlichen und politischen Rückhalt der Krone von der degenerierten Adelskaste auf die aufstrebende Mittelschicht in Handel und Manufakturwesen verlagern. Dies hieß, die Wirtschafts- und Handelspolitik grundlegend zu ändern und neue politische Institutionen zu schaffen, die den anstehenden Aufgaben gewachsen waren. Heinrichs Schlüssel zum Erfolg war, daß er die organisatorische und inhaltliche Kontrolle über die neuen Institutionen persönlich übernahm und nicht mehr aus der Hand gab.
Heinrich VII. berief das Parlament wieder ein und forderte vom Oberhaus einen Eid, der es an seine Politik band. Den Kronrat (King’s Council) strukturierte er vollständig um, und bei der Auswahl der Mitglieder des Kronrats waren seine Kriterien nicht Besitz oder Geburt, sondern ausschließlich Loyalität und Fähigkeiten. Eine Kerngruppe von etwa 20 besonders vertrauenswürdigen und zuverlässigen Personen traf regelmäßig mit ihm zusammen. Die wichtigste Person unter diesen war John Morton, der Mann, der den jungen Thomas More ausbildete.
Von wenigen Ausnahmen abgesehen handelte es sich bei Heinrichs engsten Ratgebern um Männer, die mit ihm im Exil gewesen waren, und die meisten waren an der „Buckingham-Verschwörung“ gegen Richard III. beteiligt gewesen. Zudem waren alle sehr gebildete Männer, von denen viele in Oxford, dem Zentrum des „Neuen Lernens“, studiert hatten.
Heinrich ordnete die Staatsfinanzen ebenso neu wie die Verwaltung und das Rechtswesen auf der lokalen Ebene. Königliche Friedensrichter ersetzten die Sheriffs der feudalen Lords. Handel und Wirtschaft ordnete er nach dem gleichen uneingeschränkten Prinzip des Gemeinwohls. Mit dem Book of Rates von 1507 setzte Heinrich den Wert der Handelswaren fest. Mit Steuern und Schutzzöllen förderte er die einheimische Industrie. Mit der Navigationsakte von 1486 sicherte er die englische Seemacht. Heinrich förderte den Schiffbau und finanzierte den Bau des Trockendocks in Portsmouth. Zur Sicherung einer stabilen Währung erließ er strenge Währungskontrollen und verbot die Ausfuhr von Goldbarren ebenso wie wucherische Kreditgeschäfte.
Heinrich selbst schrieb, daß die Gesetze dem allgemeinen Wohl dienen müßten, „der guten Herrschaft und dem Nutzen, der Sicherheit und dem friedlichen Leben der Untertanen“. Nichts sei erfreulicher, als „zu wissen, daß seine Untertanen unter seinen Gesetzen friedlich leben und ihr Reichtum und Wohlstand zunimmt“. Als Heinrich VII. am 21. April 1509 starb, hatte er sich den Beinamen eines „zweiten Salomo“ verdient. Als gläubiger Christ hatte er religiöse Orden unterstützt und soziale Einrichtungen, darunter ein Krankenhaus für die Armen, bauen lassen. Er hinterließ den reichsten Besitz in Europa, einen souveränen Nationalstaat mit einer blühenden Nationalökonomie und einen 18jährigen Sohn als Thronerben.
Die Tragödie König Heinrichs VIII.
Wie viele andere setzten Morus und Erasmus große Hoffnungen in den neuen König Heinrich VIII. Er war zwar noch sehr jung, aber als Sohn des besten Königs, den England je hatte, genoß er die vielfältigen Früchte einer humanistischen Erziehung, die ihm sein Vater persönlich angedieh. Als er mit 18 Jahren den Thron bestieg, beherrschte Heinrich VIII. die englische, französische, lateinische und italienische Sprache und war in Geschichte, Naturwissenschaften und Theologie bewandert. Er verfügte über alle Eigenschaften eines Edelmannes wie Reiten und Fechten und war ein begabter Musiker und Komponist.
Thomas Morus spielte nicht nur eine bedeutende politische Rolle in der Regierung Heinrichs VIII. – er war Mitglied des inneren Kreises im Kronrat als Master of Request (Amt eines hohen Richters am Court of Requests, wo an den König gerichtete Armenklagen verhandelt wurden). Er war vor allem auch ein geschätzter Gesprächspartner des Königs, welcher ihn bald zum Ritter schlug. Mores Schwiegersohn William Roper berichtet in der Biographie: „So wurde er im Laufe der Zeit vom Fürsten mit immer höheren Ämtern betraut, und mehr als 20 Jahre lebte er in dessen besonderer Gunst und leistete ihm treue Dienste. In dieser Zeit ließ ihn der König wiederholt an Feiertagen, wenn er seine religiöse Pflicht erfüllt hatte, in seine Privatgemächer holen, saß dort mit ihm zusammen und unterhielt sich mit ihm über Gegenstände der Astronomie, Geometrie, Theologie und anderer Wissenschaften, zuweilen aber auch über seine weltlichen Angelegenheiten. Ein andermal befahl er ihn nachts zu sich auf das flache Dach und sprach mit ihm über die mannigfaltigen Arten, Bahnen, Bewegungen und Verhaltensweisen der Sterne und Planeten.“
Leider war Heinrich VIII. charakterlich schwach. Anders als sein Vater hatte er nicht gegen die Tyrannei und für den Aufbau einer Nation gekämpft, sondern der Staat und die königliche Macht wurden ihm auf dem Silbertablett serviert. Während der Vater alle wichtigen Fragen der Staatsverwaltung in die eigene Hand nahm, ließ er sich von seinen Beratern beherrschen. Und unter diesen Beratern befanden sich viele venezianische Agenten, allen voran Kardinal Wolsey, die Schlüsselfigur in dem Drama Heinrichs VIII. und Thomas Mores. Heinrich VIII. spiegelte seine ganze Generation wider, die weniger moralisch war als die seines Vaters.
Wolsey trat zunächst als Kaplan in die Dienste Heinrichs VII. und stieg rasch zum Verbindungsmann zwischen Rat und König auf. Wolseys Biograph Cavendish erzählt anschaulich, wie er nach und nach den König von wichtigen Angelegenheiten ausschloß und einfach selbst entschied. Er nutzte aus, daß der König jung und sehr auf sein Vergnügen bedacht war. Während andere Räte den König immer wieder ermahnten, auch seine Herrscherpflichten zu erfüllen, riet Wolsey ihm das Gegenteil. Er überzeugte Heinrich, daß er sich ganz seinen Vergnügungen widmen könne, wenn er Wolsey, entsprechend instruiert, an seiner Stelle an den Sitzungen des Rates und der Erörterung der Staatsangelegenheiten teilnehmen ließ. Bald maßte Wolsey sich an, auch ohne entsprechende Instruktion für den König zu sprechen. Wie der venezianische Botschafter Sebastiano Giustiniano an den Dogen berichtete, pflegte Wolsey anfangs noch zu sagen: „Ihre Majestät wünscht dies oder jenes“, später ging er sich selbst vergessend dazu über zu sagen: „Wir werden dies oder jenes tun“, bis er sich jetzt (1519) angewöhnte zu sagen: „Ich werde dies oder jenes tun“. Bald wußte das ganze Land, daß es Wolsey war, der regierte, und nicht Heinrich VIII.
Es steht außer Frage, daß Wolsey ein Agent Venedigs war. Sein Biograph Fiddes berichtete im 18. Jahrhundert, der venezianische Herrscher Leonardo Loredano habe ihn als „ein Genie, das allen überlegen ist“ betrachtet und ihm eine „Beteiligung an der Königlichen Macht und Majestät“ zugeschrieben. Wolsey ließ sich von Venedig bezahlen. Sein persönlicher Sekretär, Agostino d’Agostini, war Venezianer.
Wolseys kometenhafter Aufstieg verlief parallel zu Mores. 1514 wurde Wolsey Bischof von Lincoln und kurz danach auch von York, später Erzbischof von York/Canterbury und im November 1514 Kardinal. 1518 wurde er Legat und dann Lordkanzler. Er hatte Ambitionen auf das Amt des Papstes, und als er dies nicht erreichte, suchte er alle Macht in seiner Person zu vereinigen und gründete die Kirche von England als Nationalkirche.
Morus und Wolsey erscheinen wie im mittelalterlichen Drama der gute und der schlechte Engel, die um die Seele des Königs kämpfen. Wolsey war als Mensch das vollkommene Gegenteil von Morus: ehrgeizig und machthungrig, falsch und skrupellos, dabei wankelmütig, arrogant, eingebildet und ein abstoßender Speichellecker. Morus wollte die Einheit der christlichen Fürsten für den Frieden sichern, Wolsey arbeitet auf einen Bruch Englands mit Rom hin, der die Reformation und die nachfolgende lange Periode von Religionskriegen einläutete.
Dahinter steckte eine geopolitische Strategie Venedigs. Nach dem Krieg der Liga von Cambrai gegen Venedig 1510 wurden England (das man nicht gefragt hatte, ob es der Liga beitreten wolle), Frankreich, Spanien und der Vatikan in einem typisch venezianischen Ränkespiel gegeneinander ausgespielt. Venedigs Ziel war, daß Heinrich sich von seiner Frau Katharina von Aragon, einer Nichte Kaiser Karls V., scheiden ließ und Anna Boleyn heiratete, ein Dame am Hofe Katharinas, deren Großvater Thomas Howard als Herzog von Norfolk die pro-französische Fraktion unter den königlichen Beratern anführte.
Die Fakten dieses als Heinrichs „Große Sache“ bekannten Falles sind wohlbekannt. Der König forderte die Annullierung seiner Ehe und neue Heirat, angeblich, um sicherzustellen, daß es einen männlichen Erbfolger gäbe. Weniger bekannt ist, welche Schlüsselrolle Wolsey bei all dem spielte. Wolsey kannte Heinrichs Schwäche für Frauen und arrangierte das erste Treffen mit Anna Boleyn auf einem Maskenball. Er berief ein Treffen von Gelehrten und Prälaten ein, um über rechtliche Möglichkeiten einer Scheidung zu beraten. Und er manipulierte die päpstliche Delegation unter Kardinal Campeggio. Bei alledem setzte sich Wolsey jedoch nur scheinbar für die Annullierung der Ehe ein. Tatsächlich hatte er vor, Heinrich anschließend zu überreden, nicht Anna, sondern die Schwester des französischen Königs zu heiraten. Anna Boleyn war für ihn nur ein Werkzeug. Sie beschwerte sich bei Heinrich über ihn, und daraufhin fiel Wolsey noch schneller, als er aufgestiegen war. 1529 wurden alle seine Güter eingezogen, und 1530 wurde er des Verrats beschuldigt, starb aber, bevor er bestraft werden konnte.
Eine Bestätigung für die entscheidende Rolle Wolseys findet man ins Shakespeares Drama Heinrich VIII.. Wolsey steht im Mittelpunkt des Schauspiels als Widersacher sowohl Katharina von Aragons als auch Anna Boleyns. In der Auseinandersetzung mit diesen weiblichen Hauptfiguren, die beide als tugendhaft, ehrlich und Heinrich ergeben dargestellt werden, erscheint er als bösartige, intrigante Schlange, und das war er auch.
Morus folgt seinem Gewissen
Wen ernannte Heinrich VIII. als Nachfolger Wolseys zum Lordkanzler? Keinen anderen als Sir Thomas More. Er glaubte, daß More als der am höchsten geschätzte Intellektuelle Englands und eifriger Christ entweder seinen Scheidungsfall in Rom zu einem erfolgreichen Ende brächte oder andernfalls dem König in allen dessen Entscheidungen Glaubwürdigkeit verschaffte, und sei es, der Bruch mit Rom. Heinrich hätte aber wissen müssen, daß More ihn in beiden Fällen aus Gewissensgründen nicht unterstützen würde.
More versuchte, so lange es ging, sich aus der Angelegenheit ganz herauszuhalten. Doch 1532 kam der entscheidende Schritt: Heinrich ließ das Parlament den Supremacy Act beschließen, der ihn zum Kopf der Kirche von England macht. Als der englische Klerus am 15. Mai 1532 fast ausnahmslos kapitulierte, trat Morus einen Tag später als Lordkanzler zurück.
Heinrich ersetzte More durch Wolseys engen Mitarbeiter Thomas Cromwell, der auch ein venezianischer Agent war und den Bruch mit Rom wollte. An Cromwells Seite standen zwei weitere venezianische Agenten, Francesco Zorzi und Marco Raphael.
Die Ereignisse nahmen einen raschen Verlauf:
Am 25. Januar 1533 nahm Heinrich die schwangere Anna Boleyn zur Frau. Der Erzbischof von Canterbury, Thomas Cramner, annullierte am 23. Mai seine vorherige Ehe. Am 1. Juni wurde Anna in einer pompösen Zeremonie zur Königin gekrönt. Morus blieb der Zeremonie fern. Morus wurde unter Druck gesetzt, entweder Heinrich als Kopf der Kirche anzuerkennen oder zum Verräter gestempelt zu werden. Dann erließ Heinrich im März 1534 das Thronfolgegesetz, das seinen und Annas Nachkommen den Thronanspruch garantierte – wieder mit der Drohung, wer dies nicht anerkenne, sei ein Landesverräter. Am 13. April 1535 erschien eine königliche Kommission bei Morus, um von ihm den Treueeid zu fordern, was er verweigerte. Einige Tage später wurde er in den Tower geworfen, wo man ihn bis zu seiner Hinrichtung am 6. Juli 1535 beständig drängte, den Treueeid doch noch zu leisten.
Während seines ganzen Verfahrens blieb Morus standhaft dabei, es gehe ihm darum, den Gesetzen Gottes zu gehorchen, die höher stünden als die Gesetze einer weltlichen Autorität. Er hielt zwar an der Heiligkeit der Institution der Ehe fest, betonte aber, es gehe ihm nicht um die Frage der Scheidung an sich, sondern um etwas viel Höheres. Morus war bereit, sich für die Wahrheit zu opfern, was auch mit ihm geschehen würde. Denn wenn er nur den einfachsten Weg wählte, würde dies nicht nur der Kirche einen tödlichen Schlag versetzen, sondern zudem das göttliche Naturrecht verletzen.
Sein Briefwechsel aus dem Gefängnis belegt den inneren Kampf um die Verteidigung der Wahrheit in seinem Wechsel zwischen Agonie und Zuversicht. Eine der bezeichnensten Episoden war eine Diskussion mit seiner Lieblingstochter Margaret, die an ihn appellierte, seine Position noch einmal zu überdenken: „Ihn (den König) hast Du immer so besonders gnädig Dir gegenüber gefunden, und wenn Du dich halsstarrig weigerst zu tun, was er möchte und was Gott nicht mißfällt (wie viele große Weise und Gelehrte behaupten, Du könntest es in dieser Sache tun), so wäre es nach jedes vernünftigen Mannes Meinung ein großer Mangel an Ehrfurcht und, wie ich es selbst von solchen, die Du für gut und hochgebildet hieltest, habe sagen hören, auch eine Gefahr für Deine Seele.“
Morus entgegnete: „Tochter Margaret, wir beide haben über diese Dinge mehr als zwei- oder dreimal gesprochen, und die gleiche Geschichte, die Du mir jetzt erzählst und auch dieselbe Befürchtung hast Du schon zweimal angebracht, und so habe ich Dir auch zweimal geantwortet: Wäre es mir nur möglich, in dieser Sache so zu handeln, daß Seine Königliche Hoheit zufrieden wäre und Gott nicht beleidigt, dann würde keiner bereitwilliger und lieber seinen Eid leisten, als ich es tun wollte, der ich mich dem König der einzigartigen Gunst wegen, die er mir auf vielerlei Weise gezeigt hat, tiefer verpflichtet halte als sonst jemandem. Aber so, wie es um mein Gewissen steht, vermag ich es keinesfalls zu tun. „
Aber Margaret drängt ihn noch einmal, den Treueeid zu leisten. Es sei ein Parlamentsakt, und auch andere hätten es getan, sogar gegen ihr Gewissen. Das will Morus nicht gelten lassen: „Mary Margaret, die Rolle, die Du übernommen hast, spielst Du nicht einmal schlecht. Aber Margaret, zunächst: was das Gesetz des Landes angeht, so ist jeder, der hier geboren wird und lebt, verpflichtet, es auf jeden Fall zu halten unter Androhung weltlicher Strafe und in vielen Fällen auf die Gefahr hin Gott zu mißfallen – aber keiner ist verpflichtet zu schwören, daß jedes Gesetz gut gemacht ist, noch gebunden, Gottes Ungnade zu riskieren, um ein solches Gesetzesgebot zu erfüllen, das tatsächlich unrechtmäßig ist.“
Am 3. Juni 1535 berichtet Morus seiner Tochter Margaret über die letzte Befragung durch die Kommission, die der König geschickt hatte. Zunächst wurde Morus eine Botschaft des Königs überreicht. Er schreibt, „daß Seine Majestät mit meiner Antwort keineswegs zufrieden war, noch sich damit begnügen würde, sondern fände, mein Verhalten sei der Anlaß zu viel Mißgunst und Aufruhr im Lande, und ich sei aufständischer und böser Gesinnung gegen ihn und sei als Untertan verpflichtet – weswegen er seine Ratgeber in seinem Namen noch einmal geschickt habe, es mir bei meinem Untertaneneid zu befehlen –, eine eindeutige und endgültige Antwort zu geben, ob ich die Parlamentsakte gesetzmäßig fände oder nicht. Ja, ich sollte entweder anerkennen und als rechtmäßig bejahen, daß Seine Majestät das Oberhaupt der englischen Kirche sei – oder aber meine Feindseligkeit offen eingestehen.“
Morus schreibt weiter, es schmerze ihn, daß der König einen solchen falschen Eindruck von ihm habe, aber er sei sicher, „daß die Zeit kommen wird, in der Gott meine Treue gegenüber Seiner Königlichen Gnaden ihm und aller Welt bezeugen wird“. Und weiter:
„Nun möchte dies vielleicht nur ein geringer Grund zum Trost erscheinen, denn ich könnte doch hier in der Zwischenzeit zu Schaden kommen. Also dankte ich Gott, daß mein Fall in dieser Sache infolge meiner eigenen Gewissensklarheit so gelagert war, daß ich, auch wenn ich Strafe erdulden müßte, keinen Schaden [an meiner Seele] nehmen könnte; denn ein Mensch kann in einem solchen Fall seinen Kopf verlieren, ohne Schaden zu leiden. Ich war aber ganz sicher: Ich bin nicht böse geartet, sondern habe mich von Anfang an immer daran gehalten, zuerst auf Gott zu schauen und dann auf den König, entsprechend der Lehre, die Seine Hoheit mir, als ich zuerst in seine hohen Dienste trat, erteilt hat – die vornehmste Anleitung, die je ein Fürst seinem Untertan gab.“
Am 1. Juli 1535 wurde Morus in Westminster Hall vor Gericht gestellt, und er bestand darauf, persönlich zu erläutern, warum er die Anklage für unrechtmäßig halte. So sagte er:
„Da ich sehe, daß ihr entschlossen seid, mich zu verurteilen (Gott weiß wie), will ich nun zur Erleichterung meines Gewissens meine Meinung wider die Anklage und das Statut offen und frei darlegen.
Wie diese Anklage auf eine Parlamentsakte gegründet ist, die in unmittelbarem Widerspruch zu den Gesetzen Gottes und seiner heiligen Kirche steht, deren höchste Leitung sich kein weltlicher Fürst auf Grund irgendeines Gesetzes in ihrer Gesamtheit oder auch nur in Teilen anmaßen darf, da sie von Rechts wegen dem Heiligen Stuhl in Rom als ein geistiger Vorrang zusteht, der dem heiligen Petrus und seinen Nachfolgern, den Bischöfen eben jenes Heiligen Stuhls, durch den Mund unseres Heilands selbst als ein Privileg zuerkannt worden ist, darum ist dies kein Gesetz, auf Grund dessen ein Christ von Christenmenschen unter Anklage gestellt werden kann.“
Als ihm entgegengehalten wurde, daß Autoritäten in der Kirche und an den Universitäten nicht mit seiner Sicht der Dinge übereinstimmten, entgegnet Morus, er fühle sich einer höheren Autorität verpflichtet:
„Wenn niemand sonst als ich allein auf meiner Seite stände und das gesamte Parlament auf der anderen, wäre ich unsicher, meine Meinung gegen so viele andere zu vertreten… Aber ich zweifle nicht, daß zwar nicht in diesem Reich, aber doch in der ganzen Christenheit nicht der kleinere Teil der gelehrten Bischöfe und tugendhaften Männer, die noch leben, hierin mit mir meiner Meinung sind. Aber wenn ich von denen sprechen sollte, die schon tot sind und deren jetzt viele sich als Heilige im Himmel befinden, so wäre ich völlig sicher, daß der weitaus größere Teil von ihnen ebenso gedacht hat wie ich. Deshalb, meine Herren, bin ich nicht verpflichtet, mein Gewissen einem einzelnen Reich gegen das allgemeine Konzil der Christenheit anzupassen. Denn jedem eurer Bischöfe kann ich hundert aus den genannten heiligen Bischöfen entgegenstellen. Für euer eines Konzil oder Parlament – Gott weiß, was das für eins ist – habe ich alle Konzile seit tausend Jahren.“
Und er schloß mit den Worten: „Was ich hier sage, ist reine und wahre Notwendigkeit zur Offenbarung meines Gewissens…
Aber wie auch immer, ihr sucht mein Blut nicht so sehr wegen dieses Supremats, sondern deshalb, weil ich die Ehe nicht billigen wollte.“
Morus wurde des Hochverrats schuldig befunden, weil er den Eid auf den König verweigerte. Der Tag seiner Hinrichtung wurde auf den 6. Juli 1535 festgelegt.
Als Morus dem Tod ins Auge sah, tat er dies mit dem für ihn charakteristischen Selbstbewußtsein und Humor, den er Zeit seines Lebens an den Tag gelegt hatte. Sein guter Freund Sir Thomas Pope wurde zu ihm in den Tower geschickt, um ihn darüber zu informieren, daß er am nächsten Tag hingerichtet werden würde. Roper berichtet über diese Szene:
„,Master Pope‘, sagte er, ,ich danke Euch sehr herzlich für Eure gute Nachricht. Ich bin Seiner Königlichen Hoheit immer zu Dank verpflichtet gewesen wegen der Überfülle der Wohltaten und Ehrungen, mit denen er mich immer wieder gütigst überhäuft hat. Aber noch dankbarer bin ich Seiner Gnaden, daß er diesen Ort für mich bestimmt hat, wo ich Zeit und Muße hatte, das Ende meines Lebens zu bedenken. Und so wahr mir Gott helfe, Master Pope, am allerdankbarsten bin ich Seiner Hoheit, daß er geruht, mich so unverzüglich von der Trübsal dieser elenden Welt zu befreien. Und darum werde ich ohne Unterlaß inbrünstig für Seine Gnaden beten, in dieser und auch in der anderen Welt.‘
,Der König wünscht ferner‘, sagte Master Pope, ,daß Ihr vor Eurer Hinrichtung nicht viele Worte macht.‘“
Morus erwidert, er wolle diesem Wunsch entsprechen und dankte dem König, daß dieser zugestimmt habe, daß seine Tochter seiner Beisetzung beiwohnen dürfe.
Als Morus vom Kommandanten des Tower zur Hinrichtungsstätte geführt wurde, konnte er sich aus Schwäche kaum auf den Beinen halten. Er sagte scherzhaft zum Kommandanten: „Helft mir bitte beim Hinaufsteigen, Master Kommandant, für mein Herunterkommen laßt mich selber sorgen.“ Dann bat er alle Anwesenden, für ihn zu beten und zu bezeugen, daß er für den katholischen Glauben sterbe. Als seine letzten Worte wird berichtet: „Ich sterbe als treuer Diener des Königs, aber zuerst als Diener Gottes.“ Morus wurde geköpft, der Kopf mehrere Wochen lang in London öffentlich ausgestellt und dann mit dem Leichnam verbrannt.
Heinrichs Große Sache war eine der größten Tragödien der englischen Geschichte. Heinrich konnte sich zwar durchsetzen, weil er die Macht dazu besaß, aber er und seine Tochter Elisabeth (von Anna Boleyn) erlebten den Niedergang des hohen Tudor-Ideals Heinrichs VII. und die Übernahme Englands durch die venezianische Oligarchie. Anna Boleyn starb, des Ehebruchs angeklagt, unter dem Fallbeil. Die Christenheit litt jahrehundertelang unter unnötigen Konflikten, von denen sie sich selbst heute noch nicht ganz erholt hat.
Heinrich VIII. war eine tragische Figur, denn er besaß das Potential, ein großer König zu sein, so daß Morus und Erasmus große Hoffnungen in ihn setzten, ließ sich aber statt dessen durch Intrigen manipulieren und wurde zum ruchlosen Tyrannen.
Der eigentliche Sieger aber war Sir Thomas Morus, der 1935 zum Heiligen erhoben wurde. Morus steht in der Tradition jener wenigen herausragenden Persönlichkeiten der Geschichte – wie Sokrates (mit dem er oft verglichen wurde) und Johanna von Orleans –, die der Menschheit zu neuem Leben verhelfen, indem sie durch beispielhafte Taten zeigen, welch große Macht die Wahrheitsliebe ist. Morus verkörpert eine Erhabenheit, die sich in jedem Wort und jeder Tat über die belanglose Welt der politischen Intrige und der persönlichen Interessen erhebt, um den Kampf für das Gemeinwohl anzuführen, für eine Gesellschaft, die sich auf die Verpflichtung zu Liebe und Wahrheit gründet.