Diese Rede wurde als Einleitung für ein Schwerpunktthema über den großen französischen Staatsmann, Feldherrn und Dichter Lazare Carnot während der internationalen Konferenz des Schiller-Instituts am 21. November 1998 in Bad Schwalbach gehalten.
In den folgenden Beiträgen stellen wir ein historisches Paradox vor, den „ironischen“ Fall des größten französischen Militärführers: Lazare Carnot (1753–1823). Carnot wurde in Europa und in den USA als „Organisator des Sieges“ bekannt. Nach dem erfolgreichen Unabhängigkeitskrieg der Vereinigten Staaten gegen Großbritannien wendete Carnot das Schicksal Frankreichs, indem er zwischen 1793 und 1797 die entscheidenden militärischen Siege gegen die überwältigende Übermacht der Koalition der europäischen Mächte errang. Das Geheimnis seines Erfolges lag in seiner besonderen „moralischen Führungsqualität“ – seiner Fähigkeit, in den Franzosen eine Liebe zum souveränen Nationalstaat zu erwecken und ihnen zugleich das Gefühl zu vermitteln, daß sie Patriot und Weltbürger sind, deren Identität in der Verteidigung der unveräußerlichen Rechte aller Individuen liegt. Gegen eine scheinbar unbesiegbare Macht setzte Carnot das Konzept der Überlegenheit des schöpferischen Geistes.
Aber die Tragödie ist, daß an diesem großen Staatsmann, Feldherrn und Dichter (er schrieb eigene Gedichte und übersetzte Schillers Handschuh) ein Verrat begangen wurde, dessen historische Auswirkungen bis heute fühlbar sind. Carnot stand „loyal gegenüber der Verfassung“, er war „gegen Eroberungskriege“ und betrachtete sich als „Erzfeind Robespierres“ (von dem Carnot sagte, er habe ein „böses Herz“ und eine „mittelmäßige Intelligenz“). Carnot war die einzige führende Persönlichkeit Frankreichs, die öffentlich protestierte, als Napoleon sich zum Kaiser proklamieren ließ; er liebte die Wissenschaften und Künste und war erfüllt von einer tiefen Liebe zu seiner Nation. Als Folge einer von der britischen Oligarchie gegen ihn eingefädelten politischen Kabale wurde er jedoch 1816 gezwungen, ins Exil zu gehen. Über Warschau, wo ihm von den Kreisen des berühmten polnischen Generals Tadeusz Kosciuszko eine herzliche Aufnahme bereitet wurde, gelangte er mit Hilfe eines Kreises deutscher Freunde nach Magdeburg. Dort lebte Carnot von 1816 bis zu seinem Tode 1823.
Von der eigenen Nation ignoriert, wurden seine schöpferischen Beiträge durch Personen, die mit der wissenschaftlichen Tradition Göttingens und der amerikanischen Militärakademie in West Point verbunden waren, weitervermittelt.
Andreas Ranke, Dino de Paoli und Jacques Cheminade stellen in den folgenden Beiträgen historisches Material vor, das in dieser Form bislang noch nie so dargelegt wurde. Der Grund dafür ist, daß die historische Wahrheit über Carnot und sein europaweites Netzwerk verdreht oder ganz unterdrückt wurde; zum anderen liegt dies daran, daß viele historische Archive, wie zum Beispiel das Militärarchiv in Potsdam, im Zweiten Weltkrieg zerstört wurden.
Wir wollen Carnot vom Standpunkt des sokratischen Prinzips der Führung von Nationen und der Staatskunst betrachten. Wir betrachten die Geschichte, indem wir uns selbst in die Tradition der besten Humanisten einreihen, welche die Geschichte unserer Zivilisation gelebt und gestaltet haben – dazu gehören unsere Freunde Eratosthenes, Homer, Platon, Augustinus, Leibniz, Rabelais, Schiller, Puschkin, Beethoven oder Adam Mickiewicz.
Die unserer Betrachtung zugrundeliegende Frage lautet: Wie werden wir, die wir uns als künftige Lenker von Nationen verstehen, das Schicksal der menschlichen Zivilisation gestalten? Wir stehen heute vor einem beispiellosen weltweiten Finanzkollaps, dessen Folgen weitaus schlimmer sein können als die Tragödien des 20. Jahrhunderts. Die einzige Alternative liegt für uns im Aufbau einer Prinzipiengemeinschaft wahrhaft souveräner Nationalstaaten.
Die Wirkung der amerikanischen Revolution
Carnot lebte und wirkte in einer Zeit, die zu den faszinierendsten Momenten der Menschheitsgeschichte gehört. Es ist die Epoche während und nach dem amerikanischen Unabhängigkeitskrieg. In der berühmten Unabhängigkeitserklärung vom 4. Juli 1776, die vom Ideal eines humanistischen Menschenbildes geprägt ist, heißt es:
„Wir halten folgende Wahrheiten für einleuchtend: Alle Menschen sind gleichgeschaffen. Sie alle sind von ihrem Schöpfer mit unveräußerlichen Rechten begabt. Dazu gehört das Recht auf Leben, Freiheit und Wohlfahrt. Um diese Rechte zu sichern, sind Regierungen eingesetzt, die ihre rechtmäßige Macht von der Zustimmung der Regierten herleiten. Wenn je eine Regierungsform diesen Zwecken verderblich wird, besitzt das Volk das Recht, sie zu ändern oder abzuschaffen und sie auf solche Prinzipien zu gründen und ihre Macht in solch einer Form zu organisieren, die ihnen als die wahrscheinlichste erscheint, ihre Sicherheit und Glückseligkeit zu bewirken.“
Ein Zeitgenosse Carnots, Tissot, beschrieb in einem kleinen Büchlein, das er 1824 über Carnots militärische Erinnerungen schrieb, wie sehr der amerikanische Unabhängigkeitskrieg die wahren Patrioten Europas inspirierte: „Die Unabhängigkeit Amerikas, die mit Hilfe unserer Waffen gewonnen und sichergestellt wurde, elektrisierte die Nation sehr stark, und in allen Köpfen reiften Pläne, wie die politische Lage verbessert werden könne; es war das zentrale Thema aller Diskussionen: Die Truppen fühlten sich geehrt, nach ihrer Rückkehr ,Soldaten der Freiheit‘ genannt zu werden, ein Funken konnte von einem Moment zum nächsten ein allgemeines Buschfeuer auslösen… Die gesamte Armee identifizierte sich mit denen, welche die Unabhängigkeit Amerikas begründet hatten.“
Der amerikanische Unabhängigkeitskrieg war ein historischer Wendepunkt und entscheidender Bezugspunkt für alle republikanischen Humanisten in Europa – wie auch John Quincy Adams (US-Präsident von 1825–29), der als führender amerikanischer Diplomat den europäischen Kontinent häufig besucht hatte, 1821 in einer Rede vor dem US-Kongreß anmerkte:
„In einem siebenjährigen Konflikt wurde die Geschichte des Krieges, der seinen Abschluß in der Unabhängigkeitserklärung fand, zur Geschichte der zivilisierten Welt… Es war die erste, feierliche Erklärung einer Nation über die einzige legitime Grundlage der bürgerlichen Regierung. Es war der Grundstein eines neuen Gebildes, das dazu auserkoren ist, die gesamte Erdoberfläche zu bedecken. Sie zerstörte mit einem Federstrich die Gesetzlichkeit einer Regierung, die auf Eroberung gegründet war. Sie beseitigte all den Unrat, der sich in Jahrhunderten der Knechtschaft angesammelt hatte… Vom Tag dieser Erklärung an war das nordamerikanische Volk nicht länger ein Teil eines fernen Imperiums, der einen unerbittlichen Herren in einer anderen Hemisphäre um Gerechtigkeit und Gnade anflehte.“
Ein weitumspannendes Netzwerk humanistischer Republikaner in Europa stand jahrelang in engem Kontakt mit Benjamin Franklin, Robert Fulton (dem Erfinder der Dampfmaschine) und den späteren US-Präsidenten John Quincy Adams und James Monroe. In Frankreich sammelten sich die Republikaner um Carnot und die Wissenschaftler der École polytechnique: Dazu gehörten Monge, Berthollet, Gay-Lussac, die Brüder Montgolfier, in Rußland war es ein Kreis von Militärs, die dem Dichter Alexander Puschkin nahestanden, in Polen waren es die Kreise um den berühmten General Kosciuszko, der zur gleichen Zeit wie Carnot von Carnots Lehrer Monge an der Ecole des Arts et Métiers in Mézieres in Frankreich ausgebildet worden war und in der amerikanischen Revolution als Festungsbauexperte mitgekämpft hatte. In Deutschland waren es die Kreise um Friedrich Schiller, den Ökonomen Friedrich List und die Gebrüder Humboldt. Vor allem Alexander von Humboldt, der als preußischer Diplomat und Universalgelehrter von 1807 bis 1827 in Paris lebte, stand in ständigem Kontakt mit einem ausgedehnten Netzwerk von Freunden unter den Wissenschaftlern in Frankreich, darunter Carnot, die Astronomen und Physiker Laplace, Lalande, Arago, Biot, La Mettrie, die Chemiker Gay-Lussac, Bertholet, Thenard, Fourtcroy und andere. Er unterhielt zugleich viele Verbindungen zu den Vereinigten Staaten, Rußland und Iberoamerika.
Carnot war die zentrale Persönlichkeit in einem Netzwerk von Personen, die man als „amerikanische Organisatoren“ bezeichnen kann: Europäer, die entschlossen waren, die Erfahrungen des Unabhängigkeitskriegs in Europa zu wiederholen, indem sie in einem Flankenmanöver die Französische Revolution als Hebel zu nutzen versuchten, um in Europa das „amerikanische System“ in einem Krieg gegen das „britische“ Feudalsystem durchzusetzen. Wie Friedrich Schiller und Heinrich Heine richtig beobachteten, war die Französische Revolution anfangs eine Quelle der Hoffnung und Inspiration für alle wahren Patrioten in Europa. Sie wurde dann aber unterminiert und sabotiert durch „britische Einflußagenten“ wie Robespierre, Marat, Barras, Napoleon und durch die anschließende Wiedereinsetzung der Bourbonen.
Carnots Vertreibung aus Frankreich 1816 markierte einen Wendepunkt in der europäischen Geschichte: Mit dem Wiener Kongreß begann damals die Restauration in Europa, eine Phase der Unterdrückung – eingeleitet durch die Karlsbader Beschlüsse. Es war auch das Ende der Vorreiterrolle Frankreichs, die erst viele Jahre danach mithilfe von Persönlichkeiten wie Jean Jaurès und Charles de Gaulle wiederhergestellt werden konnte.
Die Macht der Ideen
Am Beispiel von Carnots militärischen, politischen und wissenschaftlichen Leistungen lernen wir etwas Wesentliches über die Geschichte. Wir erfahren, daß die Geschichte auf Ideen beruht und das Schicksal von Nationen von der souveränen Entscheidung einzelner Menschen bestimmt wird, die sich entschließen, für diese Ideen zu kämpfen.
In dem Moment, als Frankreich seine größte Krise durchlebte, als die Niederlage scheinbar unvermeidbar schien, gelang es Carnot, die Niederlage in einen Sieg zu verwandeln. Der Schlüssel zu seinem Erfolg lag in der „Exzellenz“ seiner Führungspersönlichkeit. So leitete er eine Revolution in der Kriegführung ein; er mobilisierte die besten Wissenschaftler Frankreichs und nutzte das System der École polytechnique, um die Grundlage für eine umfassende Erziehung der Bürger zu legen. Die von Carnot gemachten Entdeckungen neuer wissenschaftlicher Prinzipien im Bereich des Werkzeug- und Maschinenbaus, wurden von diesem benutzt, um in Frankreich und Europa eine industrielle und technologische Revolution einzuleiten.
Carnot war überzeugt, daß der Schlüssel für die Erziehung von Nationen und Völkern in der moralischen Qualität der Führung liegt. Diese beruht nicht auf akademischem Wissen, der Kenntnis irgendwelcher abstrakter Theorien und Büchern, sondern entfaltet sich vor allem unter Krisenbedingungen, im Krieg und anderen Notlagen. Die wichtigste Ressource und Stärke beim Aufbau der Nationen ist die souveräne Schöpferkraft des Individuums. Konfrontiert mit dem Unbekannten – mit Hindernissen und Paradoxa, – wird der Mensch gezwungen, nach kreativen Flanken und mutigen Lösungen zu suchen. „Die Umstände entwickeln manchmal Fähigkeiten in uns, an deren Keim wir gar nicht dachten, sie machen unsere Seelen größer und geben unserer Seele Energie“, sagte Carnot. Als Generäle suchte er Männer aus, die erst 25 oder 30 Jahre alt waren, auf deren Schultern er Verantwortung legte, weil er ihrem Einfallsreichtum und ihrem Mut vertraute.
Carnot nennt diese emotionale Qualität des Geistes, welche unverzichtbar ist, wenn man Hindernisse überwinden und Entdeckungen machen will, „Enthusiasmus“ – Leidenschaft. Sein Sohn Hyppolyte schreibt in seiner schönen, einsichtsvollen Biographie seines Vaters: „Eine große Leidenschaft ist die Seele eines größeren Ganzen… Die Leidenschaft ist das einzigartige Prinzip alles Schönen und Großen in der Welt.“
In einem Gedicht, das er Ode an den Enthusiasmus nannte, schrieb Carnot:
Enthusiasmus, Liebe zum Schönen!
Prinzip der noblen Flammen…
Du bist nicht wütende Trunkenheit,
Du bist keine kalte Vernunft;
Du gehst weiter als die Weisheit,
Ohne ihre Grenzen zu überschreiten.
Delikater Instinkt, der vorausgeht
Dem Rat der Vorsicht
Und den Berechnungen des Urteils.
Ohne „Enthusiasmus“ kann es keine schöpferischen Entdeckungen in Wissenschaft oder Kunst geben. Carnot bezeichnet diese kreative Fähigkeit des Geistes als „natürliche Geometrie“, in der der Geist mit einem coup d’oeil, auf einen Blick, mit „künstlerischer Genialität“ neue Hypothesen formt.
Die preußischen Reformer Gerhard von Scharnhorst und Carl Clausewitz studierten Carnots Konzept der Kriegführung und seine wissenschaftlichen Schriften sehr genau. Die Menschen in Europa, die so verächtlich auf die französischen „Horden von sansculotten„ herabblickten, wurden, wie Scharnhorst in einem Aufsatz über die Französische Revolution analysierte, völlig überrascht von der Qualität der Kriegführung, der moralischen Qualität des „Enthousiasmus“. Clausewitz nimmt darauf Bezug in seinem Buch Vom Krieg, wo er von der moralischen Größe als der Essenz der Kriegführung spricht. Diese Qualität der „Tapferkeit“, schreibt Clausewitz, hat ihre Wurzeln in der Vernunft und in der Kühnheit – was für denjenigen, der ängstlich, zögerlich oder vorsichtig ist, Widersprüche sind. Dies, zusammen mit der Qualität der „Geistesgegenwart“, die das Unbekannte annimmt, und der Entschlossenheit, ist der Schlüssel, ein exzellenter Führer in Krisenzeiten zu sein.
Exzellente Führungspersönlichkeiten sind Menschen, die von einer tiefen Liebe zur eigenen Nation geprägt sind, die sich aber zugleich als Freund aller Nationen verstehen und mit derselben Leidenschaft für das Gemeinwohl ihrer eigenen Nation wie für das aller anderen Nationen kämpfen. Denn es gibt ein die Gemeinschaft der Nationen verbindendes Prinzip, das auf der Idee des Gemeinwohls und des Fortschritts der Menschheit als Ganzer beruht.