Die Gesellschaften der Industrienationen werden derzeit von Erschütterungen erfaßt, die einmalig sind für die Nachkriegsgeschichte und eine historische Wende darstellen. Eine nie dagewesene Massenstreikwelle zieht über West- und Osteuropa hinweg. Arbeiter aus dem Bergbau-, Stahl-, Bau- und Automobilsektor, der Luft- und Raumfahrt, streiken neben Landwirten, Angestellten, Ärzten und Lehrern gegen den Verlust von Arbeitsplätzen, gegen den IWF und das Diktat der Banken – jüngstes Beispiel war das nationale Aufbegehren in Deutschland gegen die Machenschaften der Deutschen Bank im feindlichen Übernahmegeschäft Krupp/Thyssen –, die aus „monetaristischen“ Erwägungen heraus ganze Produktionszweige schließen.
Ob wir die Streiks in Bulgarien, Polen, Ungarn, Deutschland, Frankreich, Belgien, Italien, Spanien betrachten, überall zieht das Volk auf die Straße und verlangt von den Regierungen eine Rückkehr zu einer am Gemeinwohl orientierten, gerechten Weltwirtschaftsordnung, welche den Mensch in das Zentrum der Wirtschaft stellt.
Die sich zuspitzende soziale Krise hat den Hintergrund eines sich immer weiter beschleunigenden Zusammenbruchs des Weltwährungssystems. Der Kollaps des Systems ist unvermeidbar, und die entscheidende Frage ist, ob sich rechtzeitig die Einsicht unter den führenden Staatsmännern einstellt, ein neues Bretton-Woods-Finanzsystem einzuführen und die Weltwirtschaft über ein weltweites Infrastruktur-Aufbauprogramm wieder anzukurbeln, wie es die Präsidentin des Schiller-Instituts Helga Zepp LaRouche zusammen mit der ukrainischen Parlamentsabgeordneten Natalja Witrenko Ende Februar in einem dringenden Appell an den amerikanischen Präsidenten Bill Clinton forderte, oder ob die Welt in Chaos versinkt.
In Zeiten der Gärung, wie der jetzigen, ist aber auch die Chance gegeben, daß der Einzelne über sich selbst hinauswächst und empfänglich wird für wesentliche kulturelle Ideen.
Wie anders ist es sonst erklärbar, daß auf einem Schubert-Festival im französischen Nantes zu Beginn des Jahres 40.000 Besucher zusammenströmten und daß die Schubertkonzerte und Liederabende mit führenden Interpreten in Deutschland ausgebucht sind? Eine tiefe Sehnsucht des Bürgers nach echter Kultur offenbart sich hinter diesen Zahlen. Gerade in Zeiten der tiefen Zerrissenheit und Desillusionierung, Zeiten, in denen die Ideale der Menschheit mit Füßen getreten werden, ist es mehr denn je notwendig, diese Ideale des Schönen, Guten und Wahren für jeden Menschen im „Kunstwerk“ poetisch erfahrbar zu machen und ihn mit dem Genius des Schöpferischen zu berühren.
Friedrich Schiller reflektierte darüber in seinen Briefen Über die ästhetische Erziehung des Menschen und merkte an, daß dies einen großen Anspruch an den Künstler stelle; der Künstler dürfe nicht dem Geist der Zeit folgen, sondern ihm sei die Aufgabe gegeben, in den Herzen der Menschen das Ideal des Schönen, Wahren und Guten aufzurichten: „Den Stoff zwar wird er von der Gegenwart nehmen, aber die Form von einer edleren Zeit, ja jenseits aller Zeit, von der absoluten unwandelbaren Einheit seines Wesens entlehnen. Hier aus dem reinen Äther seiner dämonischen Natur rinnt die Quelle der Schönheit herab, unangesteckt von der Verderbnis der Geschlechter und Zeiten, welche tief unter ihr in trüben Strudeln sich wälzen… Gib also, werde ich dem Freund der Wahrheit und Schönheit zur Antwort geben, der von mir wissen will, wie er den edlen Trieb in seiner Brust, bei allem Widerstande des Jahrhunderts Genüge zu tun habe, gib der Welt, auf die du wirkst, die Richtung zum Guten.“
Eine ähnliche Forderung stellte auch Heinrich Heine auf, der in einer Zeit der Gärung verlangte, der Dichter solle nicht in Revolutionspathos verfallen und dem Volk in seinen Bedürfnissen akzeptanzheischend hinterherrennen, sondern das Volk erheben, es mittels Ironie und Witz mit der Wahrheit und mit Ideen konfrontieren, welche Ewigkeitswert besitzen.
Heinrich Heine verstand sich als „braver Soldat im Befreiungskrieg der Menschheit“, als „Ritter des Heiligen Geistes“, der mit der „poetischen Waffe“ die Menschheit frei machen wollte von engstirnigen Vorurteilen, political correctness, Weltflucht und Schwärmerei. Nur durch Poesie, durch den die Dummheit und Bosheit der Feinde entlarvenden Witz, wäre es möglich, den Menschen zu innerer schöpferischer Freiheit zu bringen.
Heine wies darauf hin, daß nur in der Gebundenheit der Mensch wahrhaft frei sein kann. Vom Dichter fordert dies, will er die „poetische Stimmung“, das Aufnehmen von universellen Ideen erzeugen, daß er den Stoff künstlerisch und nicht willkürlich gestalte. „Der Stoff, das Material des Gedichts das saugt sich aus den Fingern“, schrieb er, „der Stoff gewinnt erst seinen Wert durch künstlerische Gestaltung.“
Heinrich Heines spitze Feder, welche er vor allem gegen den Hauptfeind des gesellschaftlichen Fortschritts in der damaligen Zeit, gegen die englische Oligarchie richtete, brachte ihm viel Haß und Verleumdung ein. Für ihn stand das oligarchische Prinzip in diametralem Gegensatz zu den Idealen der Freiheit des Bürgers, der unveräußerlichen Menschenrechte, der Freiheit, daß jeder Mensch „die Hütte seines Glücks“ auf dieser Erde, die hinlänglich Raum für jeden biete, bauen kann. Sein Porträt des oligarchischen England könnte genausogut auf die heutige Zeit passen: „Ich denke mir das egoistische England nicht als einen fetten, wohlhabenden Bierwanst“, schrieb er in den Französischen Zuständen, „wie man ihn in Karikaturen sieht, sondern, nach der Beschreibung eines Satirikers, in der Gestalt eines langen, magern, knöchernen Hagestolzes, der sich einen abgerissenen Knopf an die Hosen wieder annäht und zwar mit einem Zwirnfaden, an dessen Ende als Knäuel die Weltkugel hängt – er schneidet aber ruhig den Faden ab, wo er ihn nicht mehr braucht und läßt ruhig die ganze Welt in den Abgrund fallen.“
Wir feiern in diesem Jahr den 200. Geburtstag Heinrich Heines, aber auch den 100. Todestag Johannes Brahms‘.
Ibykus hat für diese Ausgabe zwei große Interpreten interviewt: den Pianisten Andras Schiff und den Primarius des legendären Amadeus-Quartetts Norbert Brainin. Die beiden Künstler geben einen interessanten Einblick in das Werk Johannes Brahms‘ (und auch Franz Schuberts) und reflektieren über die Frage, was es bedeutet, in dieser Zeit der Zerrissenheit poetische Stimmung zu erzeugen, einen Sinn für Schönheit und ewige Wahrheiten zu vermitteln, und welches die Anforderungen an den Interpreten sind, ein Kunstwerk Schuberts oder Brahms‘ „adäquat“ darzustellen.
Ein poetisches oder musikalisches Kunstwerk ist Ergebnis bewußter schöpferischer Arbeit; es adäquat darzustellen, verlangt Kenntnis und Durchdringung der Sprache und der Ideen.
Was es auf sich hat mit der poetischen Methode des Kunstwerks, erfahren wir aus dem Werk eines Meisterschülers von Johannes Brahms, Gustav Jenner Johannes Brahms als Mensch, Lehrer und Künstler.
Im Jahre 1887 war Jenner zusammen mit dem Joachim-Quartett (Norbert Brainin weist in seinem Interview auf die Bedeutung der Geigenschule Joachims hin) nach Leipzig gefahren, um dort Brahms zu treffen und diesem einige Beispiele seiner Kompositionen vorzustellen. Was ihm an Brahms auffiel, war dessen tiefe Kenntnis der musikalischen Sprache und dessen Präzision, seine Abneigung gegen Effekte und willkürliche Ornamentierung. Nur durch Gebundenheit des Gedankens und der Form würde das Kunstwerk entstehen, so die Grundüberzeugung des Künstlers Brahms, der an seine Schüler äußerst hohe künstlerische Anforderungen richtete:
„Ich hatte ihm ein Trio für Klavier, Violine und Violoncello, einen Chor mit Orchesterbegleitung, Frauenchöre a cappella und Lieder mitgebracht, und fand ihn bis ins kleinste hinein genau orientiert, wie er denn auch später ohne Ausnahme niemals Arbeiten mit mir durchnahm, die er sich nicht vorher gründlich angesehen hatte. Nach einigen einleitenden Bemerkungen, in denen er aussprach, daß er im allgemeinen einen günstigen Eindruck von meinen Kompositionen bekommen habe, gab er mir zunächst den Chor mit Orchesterbegleitung, der etwas lang geraten war, zurück mit den Worten: ,Schade um das schöne kleine Gedicht.‘ Es war Klaus Groths Wenn ein müder Leib begraben. Dasselbe Schicksal erfuhren die Frauenchöre, ich bekam sie zurück mit der ebensowenig tröstlichen Versicherung: ‚So etwas ist schwer zu machen.‘ Um so eingehender nahm er dann aber das Trio und die Lieder mit mir durch.
Bei dem ersten Satz des Trios wurde viel hin- und hergeblättert. Mit vernichtender Schärfe wies Brahms mir das Unlogische des Aufbaus nach; es war, als wenn alles unter seinen Händen zerbröckelte und das Ganze in seine einzelnen Teile auseinanderfiel. Mit wachsendem Schrecken sah ich, wie schwach und lose diese zusammenhingen; ich erkannte, daß das Band, das sie zusammenhalten sollte, weniger ein innerliches als ein äußerliches war: es war nichts weiter, als das Schema der Sonatenform. Das Wesen der Form begann sich mir zu enthüllen, und ich begriff mit einem Male, daß es nicht genügend sei, hier und da einen guten Einfall zu haben; daß man nicht eine Sonate geschrieben hat, wenn man einige solcher Einfälle äußerlich durch die Form der Sonate zusammenhält, sondern daß umgekehrt die Sonatenform mit Notwendigkeit aus dem Gedanken hervorgehen muß. Schon jetzt machte ich die Erfahrung, daß gerade diejenigen Stellen, von denen ich mir am meisten versprochen hatte, Brahms gar nicht zu interessieren schienen. Bei solchen schwärmerischen Stellen, wo mein Herz höher klopfte, und mein Auge gespannt und angstvoll an dem seinen hing, tadelte er mit ruhiger Kälte ,schläfrige und faule Bässe‘, zeigte mir schwache Harmonien, indem er mit einigen Noten andere andeutete, die sowohl logischer waren, als auch den Gedanken erst klar und kräftig heraustreten ließen, der bei meinen Harmonien sozusagen stecken geblieben und entwicklungsunfähig geworden war. So war es mir eine schmerzliche Enttäuschung, einzusehen, daß oft, wo ich meinte, das Beste geleistet zu haben, gerade da meine Erfindungskraft gestockt hatte. Dem Ganzen aber fehlte jene breite und volle Unterströmung der Empfindung, welche die Einheitlichkeit der Wirkung eines Kunstwerkes hervorruft, indem sie in allen Teilen gleich lebendig sich äußert und allen noch so mannigfaltigen und noch so entfernten Einzelheiten ihr bestimmtes Gepräge gibt. Sätze wie: ,Das hätte auch ebenso ganz anders heißen können‘, gaben mir schon damals viel zu denken. Nach wenigen Minuten hatte ich die niederschlagende Überzeugung, daß meine jetzige Komponiererei ein schwächliches Nachgeben jeder sich vordrängenden Empfindung verrate, sich in einer kindischen Freude an ,schönen‘ Einzelheiten ergehe, mithin ein zielloses Hin- und Hertappen: Dilettantismus sei. Brahms zeigte mir, wie mein Blick mit wahrhaft rührender Zärtlichkeit an unwesentlichen Dingen gehangen hatte, während das Wesentliche, worauf es ankam, unbeachtet geblieben war. Naturgemäß traten diese Mängel im langsamen Satz besonders stark hervor; doch ist es leicht verständlich, wenn ich bekennen muß, daß gerade dieser Satz voll jugendlicher Schwärmerei mein Stolz war: und so fiel denn die ganze Pracht dieses geliebten Adagios als eine bittere Enttäuschung vor meinen sehenden Augen in ein leeres Nichts zusammen. Für meinen Schmerz aber, den Brahms wohl mitempfinden mochte, hatte er nur den zweifelhaften Trost: ,Ein so langes Adagio ist das Schwerste‘.“