Editorial

Rund um den Globus findet derzeit der größte Finanzkollaps der Geschichte statt. Innerhalb weniger Tage wurden Billionen Dollar an Buchwerten allein an der Wall Street vernichtet. Die Fiktion der spekulativen Blase ist zerplatzt. Noch vor einem Jahr stand die ganze Welt im Bann der „Informationsgesellschaft“, nun erlebt sie den Realitätsschock: Die meisten der großen Internetfirmen sind inzwischen auf ein Minimum ihres Aktienwerts geschrumpft; viele mußten bereits den Bankrott erklären.

Besonders verheerend nehmen sich die Folgen der Politik der Globalisierung aus. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion hatten US-Präsident Bush sen. und die britische Premierministerin Thatcher die Politik der Globalisierung gefordert, um rund um den Globus die „Neue Weltordnung“ durchzusetzen. Als Folge der Globalisierung, Liberalisierung und Deregulierung breiten sich heute Seuchen und Epidemien aus. So haben BSE und die Maul- und Klauenseuche europaweit zu einem verheerenden Einbruch im Landwirtschaftssektor geführt.

Als Folge der Konditionalitätenpolitik des IWF brechen immer mehr Länder im Entwicklungssektor unter der Last der Schulden zusammen und versinken in Armut und Not. Krankheiten wie Malaria, TBC und gefährliche neue Seuchen wie AIDS/HIV breiten sich weltweit aus.

Ein Beispiel: Auf der 13. internationalen AIDS-Konferenz in Durban im Juli letzten Jahres hielt die Demographieexpertin des Statistischen Amtes der USA (United State Bureau of Census)

Karen Stanecki eine Rede, die weltweit einen Schock auslöste. In wenigen Jahren, so lautete ihre Prognose, würden die Menschen in vier afrikanischen Ländern – Simbabwe, Botswana, Namibia und Swaziland – eine durchschnittliche Lebenserwartung von nur noch 23–33 Jahren haben; in vielen anderen afrikanischen Ländern würde ein Durchschnittslebensalter von 40 Jahren zur Norm. Staaten mit einer so niedrigen Lebenserwartung könnten nicht als Nationen überleben: Sie könnten weder ihre erwachsene Arbeitsbevölkerung aufrechterhalten noch hätten sie die Zeit, ihre Kinder zu erziehen oder die Möglichkeit, sich um die Gesundheit ihrer Bürger zu kümmern. Seit dem Zeitalter der „Schwarzen Pest“, so Stanecki – die hinzufügte, daß derzeit weltweit 40 Millionen Menschen AIDS-infiziert seien –, habe es keine so hohen Sterberaten gegeben.

Man vergegenwärtige sich noch einmal, was im 14. Jahrhundert in Europa geschah, als die „Schwarze Pest“ ausbrach:

Zwischen 1347 und 1351 kam es infolge gigantischer Bankzusammenbrüche (Bardi und Peruzzi), welche mit einer Serie an Mißernten, Hungersnöten und politischen Wirren zusammenfielen, die Pest aus. 20 Millionen Menschen fielen dieser Katastrophe zum Opfer. Ganz Europa stürzte in ein „dunkles Zeitalter“. Die sozialen Auswirkungen der Pest waren verheerend. Durch die ständig neuen Schrecken wurde das menschliche Empfinden so abgestumpft, daß ein Chronist damals schrieb: „Und die Menschen in dieser Zeit sterben ohne Trauer und sie heiraten ohne Freude.“ In Siena, wo mehr als die Hälfte der Einwohner der Seuchen zum Opfer fielen, wurden die Arbeiten an der größten Kathedrale der Welt eingestellt. Es gab keine Arbeiter mehr und keinen Baumeister, „nur Melancholie und Kummer“ (so schildert es Barbara Tuchman in ihrem Buch Der ferne Spiegel).

„Die Pest ließ die Herzen der Menschen gefrieren“, schrieb Giovanni Boccacio in seinem Decamerone. Kein Vater besuchte seinen Sohn, kein Sohn seinen Vater. Die soziale Wohltätigkeit war tot. Männer und Frauen wanderten ziellos auf dem Lande umher und das Vieh wurde vernachlässigt, da es kaum mehr Arbeitskräfte gab und sich niemand um die Zukunft sorgen wollte. Die Felder wurden nicht mehr bestellt, im Frühjahr nicht gesät. Landstriche verödeten und verwilderten.

Die Parallelen zwischen damals und heute sind erschreckend. Angesichts des rapiden globalen Finanz- und Wirtschaftszusammenbruchs suchen heute die (anglo-amerikanischen) oligarchischen Interessen ihr untergehendes Imperium mithilfe brutaler malthusianischer Politik und damit verbunden einer menschenverachtenden „Kultur des Todes“ zu erhalten.

Der Kult der Häßlichkeit, die Lust an der Dekadenz, am Kulturpessimismus, an dionyischen Technoparaden, ebenso wie eine hysterische Leugnung der Realität und die romantische Flucht in die Irrationalität sind bestimmende Paradigmen unserer heutigen Kultur.

Das Menschenbild dieser Kultur baut auf rabiatem Egoismus und Sozialdarwinismus auf und bereitet angesichts der sich verschärfenden sozialen Krise immer mehr den Boden für das Entstehen protofaschistischer Bewegungen.

Ein typisches Beispiel dafür, mit welchen Mitteln die Oligarchie versucht, die irrationalen Gefühle der Bevölkerung zu instrumentalisieren, bieten die Hollywoodfilme Der Gladiator und der an Horrorszenen und Brutalität nicht zu überbietende Film Hannibal.

Der Film Gladiator spielt im 2. nachchristlichen Jahrhundert zur Zeit des 12. Feldzugs des römischen Kaisers Mark Aurel. Nach seinem Tod übernimmt dessen Sohn Commodus (180–192)

die Herrschaft. Mit ihr setzt die Phase des Niedergangs des Römischen Reiches ein, das sich allerdings noch über einen langen Zeitraum hinweg mittels Eroberungskriegen und Tributzahlungen anderer Völker aufrechterhalten konnte, bis es 410 mit der Plünderung Roms durch die Goten endgültig unterging. „Viktor Roma“, so lautet der Schlachtruf des Films. Es ist der Schlachtruf der römischen Legionäre, mit dem diese gegen die germanischen „Barbaren“ kämpfen. Was damals die Barbaren waren, sind heute die sogenannten „Schurkenstaaten“ – so die unterschwellige Botschaft des Films –, gegen welche die einzige Supermacht ihre „Neue Weltordnung“ durchsetzen will. Die modernen Erben des einstigen heidnisch-römischen Empires sind heute die anglo-amerikanischen oligarchischen Interessen, vertreten durch die US-Administration unter Präsident Bush jun. und ihren engsten Verbündeten England.

„Die römischen Gladiatoren von damals sind die anglo-amerikanischen Söldner von heute“, so kommentierte ein prominenter israelischer Militärhistoriker den Film Gladiator. Das Rad der Geschichte werde heute in die Zeit vor dem 30jährigen Krieg zurückgedreht. „Die Menschen sind friedensmüde, von Natur aus ist der Mensch ein kriegerisches Wesen! Angesichts des wachsenden Gefühls der Erniedrigung, wachsender Impotenz vor den Herausforderungen der heutigen Zeit und der Angst, Opfer von Terroristen und Entführern zu werden, wächst das Gefühl, daß man eine neue Klasse von ,Kämpfern‘, von Gladiatoren braucht. Das sind die modernen Römer“ – so die Propagandalinie.

Der Zuschauer des Films wird Teil einer virtuellen Realität, der Gladiatorenspiele. Als säße er mitten unter den Zuschauern auf der Tribüne im Kolosseum, erlebt er eine Blutorgie nach der anderen: Abstechen, Abhacken von Köpfen und Gliedern, blindwütiges Töten und Metzeleien ohne Ende. Zwischen Mensch und Tier gibt es keinen Unterschied mehr. Menschenleben wird vernichtet, um den Akt des Tötens lustvoll zu genießen. Die Botschaft des Films: Der Mensch ist eine Bestie. Brot und Spiele (unter Kaiser Commodus gab es ihrer 150 im Jahr) sind zentraler Aspekt der oligarchischen Machterhaltung. Die irrationale „vox populi“ bestimmt das politische Geschehen. Ihre Willkür entscheidet darüber, was Recht oder Unrecht ist.

Nach dem Zusammenbruch des Römischen Reichs folgte eine Zeit der Wirren und ein dunkles Zeitalter, an deren Ende der Beginn der karolingischen Renaissance stand. Im 14. Jahrhundert schuf in Reaktion auf die Pest ein Kreis europäischer Humanisten die Renaissance. Zu ihren Wegbereitern gehörten Dante und Petrarca, später folgten große Humanisten wie Nikolaus von Kues, Erasmus, Thomas Morus, Shakespeare und Cervantes und legten die Grundlage für eine kulturelle Renaissance in Europa. Auf dem Erbe Platons und dem christlichen Menschenbild aufbauend, rückten sie die Idee des Gemeinwohls in den Mittelpunkt und schufen die Grundlagen für eine sich damals in Europa ausbreitende humanistische Erziehung, welche mit der Gründung von Schulen und Universitäten einherging. Es war der Beginn der Nationalstaaten, in denen der Aufbau der Infrastruktur, die Entwicklung der Landwirtschaft und Erziehung der Bevölkerung ein rasantes Bevölkerungswachstum einleiteten.

So wie die Humanisten damals, stellen wir heute dieselbe Frage: Werden wir als Folge der globalen Krise ein dunkles Zeitalter oder eine Renaissance erleben? Ibykus will mit der vorliegenden Ausgabe einen Beitrag zur Beantwortung dieser Frage leisten. Sie positiv beantworten heißt, daß wir die Ideen bedeutender Humanisten zum Ausgangspunkt nehmen und uns besonders mit den Ideen des großen Historikers und Dichters Friedrich Schiller vertraut machen, der erkannt hatte, daß „die Schönheit eine notwendige Bedingung der Menschheit“ ist.