Interview mit Omar Merzoug
Omar Merzoug ist Doktor der Philosophie und ein Spezialist für mittelalterliches Denken. Von ihm stammt das Buch Existe-t’il une philosophie Islamique? (Gibt es eine islamische Philosophie?, Les cahiers de l’Islam, 2018). Sieben Jahre lang unterrichtete er am „Al-Ghazali Institute“ der Großen Moschee von Paris Philosophie und islamische Zivilisation. Das Interview führte Karel Vereycken, Direktor und Redakteur der Monatszeitung Nouvelle Solidarité.
Herr Merzoug, nach sieben Jahren Forschung, Studium und Prüfung historischer Dokumente haben Sie soeben, im Jahr 2021, im Verlag Flammarion Ihre begeisternde und gründliche Biographie von Ibn Sina (980–1037) veröffentlicht. Worum geht es darin und warum haben Sie sie jetzt herausgegeben?
Es geht um den berühmten Ali Ibn Sina (im Westen unter seinem lateinischen Namen Avicenna bekannt), einen Wissenschaftler, Arzt, Philosoph und Staatsmann. Er führte ein aufregendes und bewegtes Leben, und sein Einfluß auf die christlichen Denker des Mittelalters war nach Meinung der kompetentesten Fachleute beträchtlich. Er war nicht, wie wir zu glauben pflegen, ein Kommentator, sondern ein eigenständiger Denker, der ein ganzes System schuf, das sich zwar an Aristoteles anlehnte, ihn aber bereicherte und ihm widersprach. Ein unabhängiger Denker also. Als Philosoph wurde er bis ins 17. Jahrhundert hinein gelesen, und Anklänge an sein philosophisches Werk finden sich in den Werken der modernen Philosophen Malebranche, Leibniz und Spinoza. Als Mediziner stand sein Werk lange Zeit auf dem Lehrplan der europäischen Universitäten. Er ist also nicht nur als Wissenschaftler, sondern auch als Mensch eine sehr interessante Persönlichkeit.
Das erwähnte Buch jetzt zu veröffentlichen, bedeutet in erster Linie, diese herausragende Persönlichkeit der muslimischen Welt in einer Zeit zu würdigen, in der man sagen muß, daß der Islam nicht gut angesehen ist. Avicennas Rationalismus, seine intellektuelle Neugier, seine Fähigkeit, sich alle Arten von Wissen anzueignen, sein enzyklopädischer Geist und sein philosophischer Erfindungsreichtum sind alles Eigenschaften, die zur Renaissance einer echten philosophischen Kultur in der muslimischen Welt beitragen könnten, einer philosophischen Kultur, die, wie ich schon sagte, angeschlagen ist.
Sein Vater war Afghane, er selbst wurde in Usbekistan geboren und erhielt eine persische Erziehung; deswegen beanspruchen viele Länder (die es in der damaligen Zeit in ihren heutigen Grenzen noch nicht gab), Erben seines Ruhmes zu sein. Wer hat Recht?
Man leiht nur den Reichen. Aber im Ernst: Avicenna ist Perser und stammt aus Usbekistan. Alles deutet darauf hin, daß das so ist, aber das hindert Türken, Araber und Europäer nicht daran, sich auf ihn zu berufen, ihn zu lesen und ihn sogar zu kritisieren, und genau das ist geschehen.
Der Untertitel Ihres Buches „ou l’Islam des Lumières“ („oder der Islam der Aufklärung“) läßt darauf schließen, daß es mehrere Islams gibt.
Das ist natürlich nicht der Fall, aber es gibt unterschiedliche, ja sogar widersprüchliche Lesarten und Ansätze zum Islam. Das ist nicht neu. Es gibt, kurz gesagt, eine wörtliche Lesart der grundlegenden Texte des Islam und eine subtilere Lesart, die mehr darauf bedacht ist, dem Geist Vorrang vor dem Buchstaben zu geben. Im übrigen läßt der Koran selbst diese unterschiedlichen Lesarten zu (Sure 3, Vers 7).
Wie hat Avicenna Theologie und Philosophie miteinander in Einklang gebracht?
Wie alle großen Denker des Mittelalters bis zur Neuzeit hat sich Avicenna mit diesem wesentlichen und unvermeidlichen Problem der Beziehung zwischen Theologie und Philosophie auseinandergesetzt. Dabei ging es nicht so sehr darum, die Vernunft mit dem Glauben zu versöhnen, sondern vielmehr das Religionsgesetz mit der Vernunft. In dieser Frage hat Avicenna seine Emanationslehre als die einzig wahre Interpretation der Schöpfung dargestellt. Ausgehend von der Grundregel, daß die Geschichten, Allegorien, Metaphern und die gesamte Symbolik des Korans nicht wörtlich genommen werden dürfen, kommt er zu dem Schluß, daß der Koran nach den Grundsätzen der Vernunft zu interpretieren ist. Letztlich ist es die Vernunft, die bei der Auslegung religiöser Texte den Vorrang behält.
Wurde Avicenna zu seiner Zeit für seine Arbeit in der Medizin oder für seine philosophischen Ideen gewürdigt?
In diesem Punkt sind sich die Avicenna-Gelehrten nicht einig. Im Osten wird er viel mehr als Arzt denn als Philosoph geschätzt. Im Westen wird er eher als Philosoph gesehen, zumal jetzt seine Medizin angesichts der Fortschritte der medizinischen Wissenschaft nur noch von historischem Interesse ist.
Neuplatoniker, Aristoteliker und Thomisten behaupten oft, Anhänger von Avicenna zu sein, aber wenn wir ihn lesen, sehen wir, daß er in keine Schublade paßt. Wie denken Sie darüber? Welche Eigenschaften muß man haben, um sich als Schüler von Avicenna zu bezeichnen?
Ein Schüler von Avicenna zu sein würde heute bedeuten, ein Rationalist zu sein; allerdings nicht im Sinne von Rationalismus als eine Art von Agnostizismus oder Atheismus, sondern in dem Sinne, daß die Vernunft berechtigt ist, alle Dinge so zu untersuchen, daß nur wenige Bereiche von ihrem Reich ausgenommen sind. Natürlich läßt Avicenna in seinem Mystizismus, der intellektualistisch zu verstehen ist, einen Übergang zu einem Jenseits der Vernunft zu, was nur durch eine Art Erleuchtung erreicht werden kann. Dies ist auch der Grund, warum einige christliche Denker des Mittelalters eine Verbindung zwischen dem Heiligen Augustinus und Avicenna herstellen konnten.
Ohne je in Bagdad gelebt zu haben und natürlich weit nach der großen Zeit der Abbasiden unter Al-Ma’mun und den „Häusern der Weisheit“ geboren zu sein, wo arabische, jüdische und nestorianische christliche Denker zusammenkamen, um das griechische und syrische Erbe zu übersetzen, sehen Sie in Avicenna einen Erben des mutazilistischen Denkens, das Bagdad groß gemacht hatte?
Avicenna steht der Mu’tazila sicherlich näher als den Anhängern des literalistischen und anthropomorphistischen Ansatzes. Die Mu’tazila setzte sich für die Freiheit des Geistes ein, und das ist mehr oder weniger derselbe Kampf, den Avicenna geführt hat, weil er davon überzeugt war, daß jeder Verstoß gegen dieses Prinzip katastrophal wäre. Wenn es keine Debatte, keine Kontroverse, keinen freien Dialog und keine unabhängige Forschung gibt, ist ein Niedergang des Denkens die Folge. Die Größe der Bagdader Zivilisation bestand gerade darin, daß sie unter al-Ma’mun und seinen unmittelbaren Nachfolgern durch eine bewußte und durchdachte Politik dieses kulturelle Ferment, diese außergewöhnliche intellektuelle Blüte ermöglichte, die es seither in der muslimischen Welt nicht mehr gegeben hat.
Bei der Lektüre Ihrer Biographie, die uns Avicenna in seinem täglichen Leben näher bringt, entdecken wir, daß er kein „intellectuel de salon“ war. Er setzte sich zwar sehr für das Gemeinwohl und die Gesundheit aller ein, doch sein Leben war alles andere als ein „Gesundheitsspaziergang“, und wir erleben, wie er ins ständige Exil gezwungen wurde. Warum war das so?
Der platonischen Tradition folgend, Staaten sollten von Philosophen regiert werden, weil sie die Gelehrtesten sind, übte Avicenna die Verantwortung der Macht direkt aus. Zweimal leitete er einen Staat, was ihn fast das Leben gekostet hätte. Als er notwendige Reformen einleitete und gegen die Privilegien der Armee kämpfte, die er für unangemessen hielt, löste er eine Meuterei unter den Prätorianern aus. Ja, wer sich im öffentlichen Leben für verdienstvolle Ziele einsetzt, ist in gewisser Weise wie Avicenna. Wie Platon scheiterte er mit seinem Vorhaben, aber es war den Versuch wert, und das wird er immer sein.
Warum hat der Kanon der Medizin von Avicenna so viele Fortschritte in der Medizin ermöglicht?
Der Kanon der Medizin ist unter mehreren Gesichtspunkten ein sehr interessantes Buch. Es stellt die Gesamtheit des damaligen medizinischen Wissens dar und hat als solches eine außergewöhnliche Bedeutung für die Nachwelt. In diesem Buch gibt es mehrere interessante Fortschritte. Es ist sehr gut komponiert und beruht durchweg auf den Regeln und Prinzipien der Logik. Außerdem wurde es aus einer pädagogischen Perspektive heraus konzipiert. Ganze Abschnitte des Kanons sind in Form von kurzen Zusammenfassungen geschrieben, um eine schnellere Aufnahme des medizinischen Wissens zu ermöglichen. Avicenna glaubte, daß Krankheiten nur dann verstanden und geheilt werden können, wenn kausale Zusammenhänge hergestellt werden. Er griff Aristoteles‘ Lehre von den vier Ursachen auf, paßte sie an seine medizinischen Forschungen an und vertrat die Ansicht, daß eine Krankheit nur dann vollständig verstanden werden kann, wenn ihre Ursachen erforscht werden. In seinen Augen gibt es eine Einheit zwischen den Organen und den Funktionen des Körpers, ebenso stellt er eine Beziehung zwischen dem Organismus und der Außenwelt her, weshalb er als Arzt prophylaktischen Maßnahmen und der Umwelt eine entscheidende Bedeutung beimaß. Er war auch der erste, der die Anatomie des Auges beschrieb, Rippenfell- und Lungenentzündung diagnostizierte und die infektiöse Meningitis von anderen akuten Infektionen unterschied. Außerdem maß er der körperlichen Ertüchtigung einen hohen Stellenwert bei. Er war wahrscheinlich der erste, der zehn Jahrhunderte vor Freud die Bedeutung der Sexualität und ihre Rolle für das psychische Gleichgewicht des Menschen hervorhob. Letztendlich war er zweifellos einer der Pioniere der psychosomatischen Medizin, wie ich am Beispiel des verliebten jungen Mannes in meiner Biographie dargestellt habe.
Helga Zepp-LaRouche, die Gründerin des Schiller-Instituts, hält ihn für eine große Persönlichkeit, die die beste Tradition in der islamischen Zivilisation inspirieren kann. Sie hat eine umfassende „Ibn-Sina-Initiative“ für den Wiederaufbau Afghanistans und seines Gesundheitssystems ins Leben gerufen. Was halten Sie von einer solchen Initiative?
Das ist zweifellos eine äußerst lobenswerte Initiative, mit der Avicenna wieder in sein Umfeld eingebunden wird – sein Vater war Afghane. So wird Avicenna in zweierlei Hinsicht gewürdigt, nämlich in Bezug auf den Gesundheitsaspekt und die Größe seines Ruhmes.
Was sind die Gründe für den Erfolg Ihres Buches?
Es ist für einen Autor immer schwierig zu sagen, was die Gründe für den relativen Erfolg eines Buches sind. In meinem Fall führe ich ihn in erster Linie auf die biographische Darstellungsweise zurück, die in gewisser Weise einem Roman ähnelt; das Leben von Avicenna ist in der Tat sehr „romantisch“. Dann auf den pädagogischen Ansatz, der die Darstellung dieser bedeutenden Persönlichkeit des Wissens zugänglich macht, und dann vielleicht auch auf einen angenehmen und lockeren literarischen Stil.
Wir kennen Avicennas Werk in der Medizin und jetzt, dank Ihrer Biographie, auch sein Leben. Wann wird ein neues Buch erscheinen, das sich speziell mit seinen philosophischen Ideen befaßt?
Es gibt keine systematische Darstellung des Denkens von Avicenna auf dem Markt; was es gibt, sind Monographien zu einzelnen Themen oder Konzepten von Avicenna, die auf die Arbeit einiger Avicenna-Forscher zurückgehen. In jedem Fall wäre dies ein Werk ganz anderer Art als die Biographie und für ein ganz anderes, begrenztes Publikum bestimmt. Wer weiß, ob mich ein solches Projekt nicht in Versuchung führt?