Beethoven und das Erhabene

„Gib den Frieden – dona pacem“ ist der Schluß-Ruf der Missa solemnis von Ludwig van Beethoven. Vor 180 Jahren, im März 1823, übergab Beethoven ein Widmungsexemplar der „Hohen Messe“ dem Erzherzhog Rudolph, einem Gönner und Freund Beethovens und Bruder des österreichischen Kaisers. Ein Jahr später, im Mai 1824, fand eine denkwürdige „Große musikalische Akademie von L. v. Beethoven“ statt, in der zum erstenmal das Kyrie, Credo und Agnus Dei der Missa solemnis und die 9. Symphonie in Wien uraufgeführt wurden (zusammen mit der Ouvertüre Die Weihe des Hauses). Der zuletzt erklingende Vers aus Friedrich Schillers „Ode an die Freude“ ist „Freude schöner Götterfunken“.

Millionen Menschen sind in diesem Frühjahr auf die Straße gegangen, um für den Frieden zu demonstrieren. Rund um den Erdball sind Menschen von Kriegsangst und Sorgen um den Zusammenbruch der Weltwirtschaft – und damit der Zukunft der nachfolgenden Generationen – gepackt. Die kulturelle Tragweite der gleichzeitigen Uraufführung beider Werke Beethovens, die zu den größten Kunstwerken der Menschheit gehören, zu der mehr als 2000 Zuhörer geströmt waren, ist vielleicht erst heute, nach einem Jahrhundert, in dem Millionen Familien ihre Toten als Folge der beiden Weltkriege zu beweinen hatten, voll zu ermessen. Beethoven hat über Jahre mit beiden Tonschöpfungen, der Missa und dem „Lied des unsterblichen Schillers“, gerungen. Diese Akademie war eine kulturpolitische Offensive Beethovens, um der Menschheit eine „glückselige“ Entwicklungsrichtung im Sinne Schillers und Leibniz‘ zu geben. Diese großen Zeugnisse menschlicher Vernunft, denen Beethoven seinen Wunsch beigab (vor dem Kyrie der Missa) „Von Herzen – möge es wieder zu Herzen gehen!“, sind die persönlichste künstlerische Darstellung der göttlichen Natur des Menschen – das gleichzeitige emotionale Erkennen des „Götterfunken“, der „Unsterblichkeit“ des Menschen und der leidvollen Erfahrung des „Miserere“, der erbarmungswürdigen Endlichkeit des menschlichen Lebens. Diese „andere Kultur“ ist in der gegenwärtigen Zivilisationskrise brandaktuell und zur einzigen Überlebenschance geworden.

In seiner Ansprache zur „Lage der Nation“ Ende Januar hob Lyndon LaRouche, der geistig profundeste Oppositionsführer der USA, die Bedeutung einer „anderen Kultur“, einer alternativen Führungsperspektive zu Krieg und wirtschaftlichem Zusammenbruch, folgendermaßen hervor: „Die Weltfinanzkrise, die Ausbreitung von Seuchen usw. zeigen uns, daß wir einen Zustand erreicht haben, in dem unser Planet nur ein gemeinsames Interesse haben kann. Aber damit das Volk im Interesse des Gemeinwohls an der Regierung mitwirkt, muß man die Kultur einer Nation ansprechen. Man muß die Menschen in ihrer Kultur packen, um sie an der Formulierung der Politik zu beteiligen. Warten Sie nicht darauf, daß aus dem Volk von selbst die richtige Politik kommt. Die Menschen sind auch heute noch sehr rückständig, sie kümmern sich nur um ihre kleinen Sorgen und kaum um die großen Belange. Es gibt nicht viele Jeanne d’Arcs, die notfalls bereit wären, für ein Prinzip ihr Leben einzusetzen, und nicht viele Präsidenten, die dafür eine Amtsenthebung riskieren würden. Aber da sind Menschen, die verzweifelt sind und Führung brauchen. Sie werden sich an diejenigen halten, die das besitzen, was Schiller das Erhabene nannte, die Entschlossenheit und ein Verständnis für Unsterblichkeit haben.((S. a. Neue Solidarität, 5.2.2003.))

In seinem Essay „Der wahre Staatsmann – das historische Individuum“ umschreibt LaRouche die Idee des Erhabenen folgendermaßen: „Andere Bezeichnungen für das, was Schiller das Erhabene nennt, wie Spiritualität, Unsterblichkeit, Einbildungskraft und Wahrheit, beziehen sich richtig betrachtet auf erhabene Erfahrungen, die nur der Mensch machen kann, niedere Lebensformen aber nicht kennen. Der Mensch hat die natürliche Fähigkeit, diese höhere Ebene der Erfahrung zu erkennen, wenn er sie nutzt.“((S. a. Ibykus 81/2002.))

Beethoven sah es als die Aufgabe des „wahren Künstlers“ an, ganz so wie Schiller es sagte, diese „Erfahrung des Großen und Erhabenen“ als Komponist auszudrücken. Deswegen ist die Ausgestaltung des Messetextes eine Annäherung Beethovens an das „Göttliche“ ebenso wie die Bearbeitung von Schillers Ode an die Freude, wo Beethoven mit innerster Leidenschaft die „Erhabenheit“ in seiner musikalischen Darstellung des Verses „Überm Sternenzelt muß ein lieber Vater wohnen“ deutlich macht.

Beethovens Wahrheitssuche

Beethovens Eintragungen in seinem Tagebuch, das er von 1812 bis 1818 als sehr persönliche Niederschrift seiner Gedanken, Empfindungen und ihn interessierender Gedanken anderer großer Denker genutzt hat, spiegeln dies Suchen nach der subjektiven Annäherung an das Spirituelle, Erhabene wieder.

„O Gott! gib mir Kraft, mich zu besiegen, mich darf ja nichts ans Leben fesseln“. „O Gott, Gott, sieh‘ auf den unglücklichen B. herab, laß es nicht länger so dauern.“ „O höre stets Unaussprechlicher, höre mich – Deinen unglücklichen unglücklichsten aller Sterblichen.“ (Solomon, 1, 3, 160)

„Alles, was Leben heißt, sey der Erhabenen geopfert und ein Heiligthum der Kunst, laß mich leben, sey es auch mit Hilfsmitteln, wenn sie sich nur finden!“ (Solomon, 40)

Nach diesen Zeilen befindet sich ein Eintrag über mögliche „Ohrenmaschinen“, ein verzweifelter Wunsch, den der ertaubende Beethoven bereits seit seinem erschütternden „Heiligenstädter Testament“ 1802, als er seine beginnende Schwerhörigkeit bemerkte, immer wieder – ohne Erfolg bei der Verbesserung des Hörens – bis zu seinem Tode hegte. „Die Ohrenmaschinen wo möglich zur Reife bringen, als dann lesen – dieses bist du dir, den Menschen und ihn den Allmächtigen schuldig, nur so kannst du noch einmal alles entwickeln, was in dir alles verschlossen bleiben muß – und ein kleiner Hof – eine kleine Kapelle – von mir in ihr den Gesang geschrieben angeführt, zur Ehre des Allmächtigen – des Ewigen Unendlichen – So mögen die letzten Tage verfließen – und der künftigen Menschheit. Haendel, Bach, Gluck, Mozart, Haydn’s Portraite in meinem Zimmer – Sie können mir auf Duldung Anspruch machen helfen.“ (Eintrag Beethovens um 1814/15, Solomon 41, 42, 43)

Obwohl der Sinn mancher dieser Zeilen nicht ganz klar ist, geben sie Beethovens Gedankenwelt, „noch einmal alles entwickeln, was in dir alles verschlossen …“, „Gesang zur Ehre des Allmächtigen“ schreiben, wieder, Ideen zur Schaffung einer Musik, die um die Ehre Gottes kreist. findet man ab 1819 Hinweise auf die Missa solemnis. Beethovens Erwähnung der Porträts zeigt seine öfters geäußerte Verehrung für die musikalischen Vorfahren und Zeitgenossen, in deren „Anwesenheit“ er seine künstlerische Mission erfüllen will. Natürlich waren Johann Sebastian und Carl Philipp Emanuel Bach seine ganz besonders geschätzten musikalischen Freunde.

Beethovens Beschäftigung mit Schiller und grossen Gegenständen

Beethovens Erwähnung von der „Erhabenen“, „der Kunst“, zeigt seine intensive Beschäftigung mit Schillers Gedanken. Es ist nicht nur sein Entschluß, nach bald dreißig Jahren Beschäftigung mit Schillers Texten, die Ode an die Freude zu verarbeiten (hatte doch bereits 1793 Professor Fischenich aus Bonn an Charlotte von Schiller geschrieben: „Er [Beethoven] wird auch Schillers Freude und zwar jede Strophe bearbeiten. Ich erwarte etwas vollkommenes, denn soviel ich ihn kenne, ist er ganz für das Große und Erhabene.“), sondern immer wieder gibt Beethoven Schiller-Zitate und Hinweise auf Schiller in Briefen und Gesprächen.

In seinem Tagebuch befinden sich drei Einträge, die auf Schiller bezug nehmen: „Der Thränen aerndten will, muß Liebe säen.“ (Wilhelm Tell, Akt VI, Szene 1 – Solomon, 111) Beethoven hatte mehrfach bei Breitkopf & Härtel um ein Geschenk von Schillers Werken gebeten – so zum Beispiel im August 1809: „Vielleicht könnten sie mir eine Ausgabe von Göthe’s und Schillers Vollständigen Werken zukommen lassen. (BGA Nr.395) In Beethovens Nachlaß befanden sich 21 Bände der 1824 erschienenen Grätzer Taschenausgabe von Schillers Werken.

Nur wenige Tage vorher erbat sich Beethoven die Übersendung von Partituren Mozarts und Bachs sowie Tragödien von Euripides. Beethoven schreibt am 26. Juli 1809: „Ich hatte einigemale angefangen wöchentlich eine kleine Singmusik bey mir zu geben – allein der unseelige Krieg stellte alles ein [Wien hatte am 12.5.09 vor den napoleonischen Truppen kapituliert] – zu diesem Zwecke und überhaupt würde mir’s lieb seyn, wenn sie mir die Meisten Partituren, die sie haben, wie zum B. Mozarts requiem etc Haidns Messen überhaupt alles von Partituren wie von Haidn Mozart Bach Johann Sebastian Bach emanuel etc nach und nach Schickten. – Von Emmanuel Bachs Klavierwerke habe ich nur einige Sachen, und doch müßten einige jedem wahren Künstler gewiß nicht allein zum hohen Genuß sondern auch zum Studium dienen, und mein größtes Vergnügen ist es werke die ich nie – oder nur selten gesehn, bey einigen wahren Kunstfreunden zu spielen.“ Beethoven endet diesen Brief mit der charakteristischen Kritik an den Zeitumständen: „Leben sie wohl, ich wünsche, so sehr es unser wüstes Zeitalter zu läßt, erinnern sie sich ihres ergebensten Dieners und Freundes Beethowen.“(BGA Nr.392) Ein paar Monate später schreibt Beethoven an Breitkopf & Härtel einen Brief, in dem er die Übersendung von Fidelio und Christus am Ölberg mitteilt und sagt: „Man hat mir neulich ein Gedicht ‚die Höllenfahrt des Erlösers‘ welches als Folge des Christus am Ölberg dienen könnte, von Leipzig zugeschickt, wie es scheint muß der Verfasser etwas von dem Oratorium vielleicht gesehen oder gehört haben – es ist mit Geist geschrieben.“ (4.2.1810 BGA Nr.424) Beethoven hat dies nicht vertont, aber es zeigt sein Interesse an diesen religiösen Texten.

In Beethovens Tagebuch findet sich dann ein weiteres Zitat aus Wilhelm Tell (er hatte 1809 gehofft, eine Musik dazu schreiben zu können): „Barmherzige Brüder im Tell – schließen einen Halbkreis um den Todten und singen im tiefen Ton: Rasch tritt der Tod den Menschen an – es ist ihm keine Frist gegeben Er stürzt ihn mitten in der Bahn – Es reißt ihn fort von vollem Leben bereitet oder nicht zu gehn! – Er muß vor seinem Richter stehn!“ (Solomon 112) Beethoven hat diesen Text Gesang der Mönche 1817 zum „unverhoften Tod“ des Geigers Krumpholz für 3 Männerstimmen geschrieben.

Beethoven „lebte“ in Schillers Texten. So streut er in einem Brief an Bettina Brentano vom 10. Februar 1811 nach Berlin folgende Zeilen ein: „Wenn ich ihnen auch nicht so oft schreibe, und sie gar nichts von mir sehen, so schreibe ich ihnen doch 1000 mal tausend Briefe in Gedanken – wie sie sich in Berlin in ansehunst [Ansehung] des Weltgeschmeißs finden, könnte ich mir denken, wenn ich’s nicht von ihnen gelesen hätte, Reden, schwäzen über Kunst, ohne Thaten!!!!! Die Beste Zeichnung hierüber findet sich in Schillers Gedicht ‚die Flüsse‘ wo die Spree spricht.“ (Ein Distichon von Schiller aus den Xenien. Der Text lautet: „Die Spree. Sprache gab mir einst Ramler und Stoff mein Caesar, da nahm ich meinen Mund etwas voll, aber schweige seitdem.“ Karl Wilhelm Ramler war der angesehene Poet am Hofe Friedrich des Großen, der hier als „Caesar“ apostrophiert wird, sh. auch Fußnote 3 in BGA Nr.485.)

Weiter wünscht Beethoven alles Glück zu Bettinas Eheschließung und sagt: „Was soll ich von mir sagen ‚Bedaure mein Geschick‘ rufe ich mit der Johanna aus, rette ich nur noch einige Lebensjahre, so will ich auch dafür wie für alles übrige Wohl und Wehe dem alles in sich fassenden Dem Höchsten danken.“ (BGA Nr.485) Beethoven zitiert – ungenau – aus Die Jungfrau von Orleans, V. Akt, 2. Szene, bei Schiller heißt es: „Beweine mein Geschick“.

Beethoven und das Erhabene

Im Tagebuch schließt sich an den Eintrag aus Wilhelm Tell ein Vers aus Plinius an: „Wiewohl, was kann man einem Menschen größeres geben, als Ruhm und Lob und Unsterblichkeit?“. (Solomon 114) Ein paar Zeilen weiter findet man einen Eintrag, der über Beethovens Sorge um seinen Neffen Karl – für den er nach dem Tod seines Bruders um die Vormundschaft kämpft – Auskunft gibt: „Gott helfe, du siehst mich von der ganzen Menschheit verlassen, denn Unrechtes will ich nichts begehen, erhöre mein Flehen doch für die Zukunft nur, mit meinem Karl zusammen zu seyn, da nirgends jetzt sich eine Möglichkeit dahin zeigt; o hartes Geschick, o grausames Verhängniß, nein, nein, mein unglücklicher Zustand endet nie.“ – Der nächste Eintrag enthält dann die Schlußverse von Schillers Braut von Messina: „Dieß Eine fühl‘ ich und erkenn‘ es klar: Das Leben ist der Güter höchstes nicht, Der Uibel größtes aber ist die Schuld.“ Erneut schreibt Beethoven in den nächsten Zeilen seine tiefe Überzeugung über „seine Kunst“: Dich zu retten, ist kein anderes Mittel als von hier, nur dadurch kannst du wieder so zu den Höhen deiner Kunst entschweben, wo du hier in Gemeinheit versinkst, nur eine Sinfonie – und dann fort fort…“ (Solomon 117, 118,119)

Schiller hatte in seinem Aufsatz Vom Erhabenen das Erhabene und seine Wirkung so definiert: „In der Vorstellung des Erhabenen unterscheiden wir dreierlei. Erstlich: einen Gegenstand der Natur als Macht: Zweitens: eine Beziehung dieser Macht auf unser physisches Widerstehungsvermögen: Drittens: Eine Beziehung derselben auf unsre moralische Person. Das Erhabene ist also die Wirkung dreier aufeinanderfolgender Vorstellungen: 1. einer objektiven physischen Macht, 2. unsrer subjektiven physischen Ohnmacht, 3. unsrer subjektiven moralischen Übermacht.“

Auf seine Art hat Beethoven mit der Frage der subjektiven moralischen Überlegenheit gerungen, wovon die o. g. Beispiele Beweis sind.

Am Schluß seiner Tagebucheintragungen 1818 gibt Beethoven Auskunft über seine Gedanken zu einer zukünftigen Missa: „Um wahre Kirchenmusik zu schreiben alle Kirchenchoräle der Mönche etc. durchgehen, wo auch zu suchen, wie die Absätze in richtigsten Uibersetzungen nebst vollkommener Prosodie aller christkatholischen Psalmen und Gesänge überhaupt.“ (Solomon 168) Erneut beschreibt Beethoven die „Aufopferung“ für die Kunst: „Opfere noch einmal alle Kleinigkeiten des gesellschaftlichen Lebens deiner Kunst, o Gott über alles!“ Beethoven schließt an mit einem Zitat aus Homers Odyssee: „denn die ewige Vorsicht lenkt allwissend das Glück oder Unglück sterblicher Menschen.

Es sind ja den Menschen nur wenige Tage beschieden. Wer nur grausam denkt und grausame Handlungen ausübt, Diesem wünschen alle, so lang‘ er lebet, nur Unglück! Und noch selbst im Tod wird sein Gedächtniß verabscheut. Aber wer edel denkt und edle Handlungen ausübt, Dessen würdigen Ruhm verbreiten die Fremdlinge weithin – Unter die Menschen auf Erden, und jeder segnet den Guten.“ (19. Gesang, von Voß übersetzt.) Beethovens Schlußeintrag 1818 stammt aus Christoph Christian Sturms Betrachtungen über die Werke Gottes: „Gelassen will ich mich also allen Veränderungen unterwerfen und nur auf deine unwandelbare Güte, o Gott! mein ganzes Vertrauen setzen. Dein, Unwandelbarer, Deiner soll sich meine Seele freuen. Sey mein Fels, mein Licht, ewig meine Zuversicht!“ (Solomon 169, 170, 171)

Selbstbewusstsein des historischen Individuums

Beethoven gehört als ein selbstbewußter Künstler, der sich seiner welthistorischen Mission ganz bewußt war, zu den wenigen Menschen, der sowohl in seinem künstlerischen Schaffen als auch in seinem „Privatleben“ über das, was Humanität ist, stets radikal Rechenschaft abgelegt hat. Nicht nur seine privaten Notizen, die nicht für die Öffentlichkeit bestimmt waren, belegen dies. Auch seine Briefe, seine Gespräche, soweit sie aus den schriftlichen Zeugnissen erkennbar werden (Konversationshefte), belegen den hohen ethischen Anspruch, seine Geistigkeit, seine Spiritualität zu entwickeln.

Schon seit früher Jugend, schreibt Beethoven, habe er sich darum bemüht: „Es gibt keine Abhandlung die sobald zu gelehrt für mich wäre, ohne auch im mindesten Anspruch auf eigentliche Gelehrsamkeit zu machen, habe ich mich doch bestrebt von Kindheit an, den Sinn der besseren und weisen jedes Zeitalters zu fassen, schande für einen Künstler, der es nicht für schuldigkeit hält, es hierin wenigstens so weit zu bringen.“ (BGA Nr.408) Beethoven liebt vor allem die Wahrheit, so widerspricht er aufs heftigste der Aussage des römischen Dichters Terenz „Veritas odium parit – Die Wahrheit erzeugt Haß“ und schreibt in einem Brief an Goethe: „Denn letztere [die Wahrheit] liebe ich über alles“.(BGA Nr.1562) Beethoven merkt sich auch aus Don Carlos den Vers: „Die Wahrheit ist vorhanden für den Weisen / Die Schönheit für ein fühlend Herz: Sie beide gehören für einander.“ (BGA 8. Band)

So ist nicht überraschend, daß in den Januargesprächen des Jahres 1820, als es erneut um die Zukunft des Neffen ging, Beethoven lapidar festellt: „Sokrates und Jesus waren mir Muster.“ In den Gesprächen im gleichen Zeitraum wird über den Wiener Kongreß geschimpft: „Sie haben sich damals um lauter Seelen und privilegirte Rechte gezankt – dabey aber das Wohl der Menschheit und derselben Vervollkommnung mit Füssen getreten“, schreibt ein Besucher Beethovens. „Wie kann man den Adel des Herzens erben?“ heißt es an anderer Stelle. Und wenig später: „[Der Schriftsteller Johann Baptist] Ruprecht hat eine herrliche Skizze zu einer Oper entworfen. Betitelt: Die Begründung von Pensilvanien oder die Ankunft der Pensilvanier in Amerika. Sein Plan war, die Worte Ihnen zur musikalischen Composition zu übergeben…“ (BKh I, Heft 6) Amerika und die republikanischen Strömungen waren unter den bedrückenden Verhältnissen der Reaktion der Karlsbader Beschlüsse oft Thema bei Beethoven.

„Das Wohl der Menschheit und derselben Vervollkommnung mit Füssen getreten…“

Genau dagegen revoltierte Beethoven. Die Restaurationspolitik von Metternich, das immer banalere Leben, macht Beethoven bedrückt. Krankheiten und Sorgen um den Neffen machen ihm zu schaffen. Über diese existentiellen Sorgen und die Belastungen, trotz dieser Lebensumstände Neues zu schaffen, teilt er sich in jenen Jahren nach 1816 oft mit. So heißt es in einem Brief im März 1817 an Dr. J. Kanka: „…schon seit 15ten Oktober überfiel mich eine Entzündungskatharr, an deßen Folgen ich noch leide, u. auch meine Kunst, doch ist zu hoffen, daß es nach u. nach beßer wird, und ich wenigstens in meinem kleinen Reich der Töne mich wieder reich zeigen kann, bin ich doch in allem übrigen arm – durch die Zeiten? durch die Armuth des Geistes u. Wo????? – leben sie wohl – übrigens macht einem alles um unß nahe her ganz verstummen, dies soll aber zwischen unserm geknüpften Freundschafts u. SeelenBand nicht statt finden.“(BGA Nr. 1099) Am 29. September 1816 schreibt er Antonie Brentano in Frankfurt: „…sonst kann ich ihnen Bedeutendes nichts von hier schreiben, als daß unsre Regierung immer mehr zeigt, daß sie regiert werden müße, u. daß wir glauben, noch lange nicht das schlimmste erlebt zu haben“ (BGA Nr.978). Ein halbes Jahr später an Franz Brentano (1817): „Was mich anbelangt, so ist geraume Zeit meine Gesundheit erschüttert, wotzu ihnen auch unser Staats Zustand nicht wenig bejträgt, wovon bis hieher noch keine Verbeßerung zu erwarten, wohl aber sich täglich Verschlimmerung desselben ereignet.“ (BGA Nr. 1083)

„Bitte um innern und äussern Frieden“

Nach Jahren großer Mühsal übergab Beethoven Erzherzog Rudolph am 19.3.1823 sein Widmungsexemplar der Missa solemnis. Ursprünglich wollte Beethoven sie zur Inthronisationsfeier Rudolphs als Kardinalerzbischof von Olmütz am 9. März 1820 fertigstellen. Er wollte die Messe weit über den kirchlichen Rahmen hinaus gewissermaßen als einen Aufschrei für den Frieden, aber auch Aufruf zur „Vervollkomnung der Menschheit“ benutzen. Schon in seinem Glückwunschschreiben vom 3. März 1819 an Erzherzog Rudolph schimmert davon etwas durch. Er meint, daß die neue Würde (der Ernennung) „nicht ohne Aufopferung von Seiten I.(hrer) K.(aiserlichen) H.(oheit) angenommen“ wurde, aber „Es gibt beynahe kein gutes – ohne Opfer u. gerade der edlere beßere Mensch scheint hiezu mehr als andere Bestimmt zu seyn, damit seine Tugend geprüft werde.“ Später im Brief geht Beethoven auf die musikalischen Arbeiten seines einzigen Schülers, eben Erzherzog Rudolph, ein und schreibt: „I. K. H. können auf zweierley Art schöpfer werden sowohl für das Glück u. Heil so mancher Menschen als auch für sich selbst, Musikal. schöpfer u. Menschen-Beglücker sind in der jezigen Monarchen Welt bisher nicht anzutreffen…“ Beethoven spricht hier seinen oft formulierten Wunsch nach einem weisen Regenten im Sinne Platons aus, ähnlich dem Spruch aus Platons Staat, den er in sein Tagebuch schrieb (Solomon 87): „Wie der Staat eine Constitution haben muß, so der einzelne Mensch für sich selber eine!“

Im gleichen Brief schreibt Beethoven (der Anlaß dazu ist unklar, offenbar ein heftiges Schreiben Rudolphs an Beethoven wegen einer verpaßten Unterrichtsstunde) dann weiter: „der Erlaß I. K. H., daß ich kommen sollte (…) wußte ich nicht zu deuten, denn Hofmann war ich nie bin es auch nicht, u. werde es auch nie seyn können, u. ich komme mir hier gerade vor als, wie Sir Davison in Marie Stuart, als die Königin E(lisabeth) das Todesurtheil in sein Hände übergibt“ (Schiller, Maria Stuart, 4. Akt 11. Szene) und endet den Brief „…der neue Beruf I. K. H., der so sehr die Liebe der Menschen umfaßt, ist wohl einer der schönsten, u. hierin werden I. K. H. Weltlich oder geistlich immer das schönste Muster seyn.“ (BGA Nr.1292)

Mahnung an die europäischen Regenten

Anfang 1823 entschloß sich Beethoven, seine Missa, die er „für das gröste“ seiner Werke hielt, nicht sofort zu veröffentlichen, sondern sie als Abschriften für 50 Dukaten an die europäischen Fürsten zu verkaufen, eine sicher nicht nur in pekuniärer Absicht geplante Aktion. Beethoven wollte sicher sein, daß dieses besondere Werk, das im letzten Teil des Agnus Dei bei den Worten „dona nobis pacem“ von seiner Hand die Beischrift „Bitte um innern und äußern Frieden“ trägt, in die Hände der europäischen Fürstenhäuser, der damaligen Regierenden gelangte.

So schrieb Beethoven einen Brief an die Fürstenhäuser mit den einleitenden Worten „Der Unterzeichnete hat so eben sein neustes Werk vollendet, welches er für das gelungenste seiner Geistesprodukte hält“ (BGA Nr. 1562) und erbittet eine Subskription. Dieser Brief ging u. a. an die Regenten folgender Staaten: Sachsen-Weimar, Mecklenburg, Preußen, Dänemark, Kurhessen, Nassau, Toskana, England, Schweden, Frankreich, Spanien, Rußland, Neapel, Sachsen; ähnliche Schreiben gingen an den Cäcilienverein Frankfurt, den Primas von Ungarn, Fürst Esterhazy, nach Petersburg und auch an Fürst Radziwill, Zelter und Goethe. Es gab zehn positive Antworten, keine Subskription kam u. a. von Sachsen-Weimar, England und Neapel.

Besonders betroffen haben mag Beethoven die Tatsache, daß Goethe auf den voller Ehrerbietung, ja bescheiden geschriebenen Brief überhaupt nicht reagierte. Beethoven schrieb Goethe am 8. Februar 1823: „Euer Exzellenz, Immer noch wie von meinen Jünglingsjahren an Lebend in ihren Unsterblichen nie veralternden Werken, u. Die glücklichen in ihrer Nähe verlebten Stunden nie Vergeßend, tritt doch der Fall ein, daß auch ich mich einmal in ihr Gedächtniß zurückrufen muß…“ Beethoven erbittet dann einen Kommentar Goethes zu seiner Bearbeitung von Meeresstille und Glückliche Fahrt, eine „Belehrung welche gleichsam als wahrheit zu betrachten, würde mir aüßerst willkommen seyn, denn leztere liebe ich über alles, u. es wird nie bei mir heißen: Veritas odium parit“ (siehe oben); er erläutert in aller Offenheit seine bedrängten finanziellen Verhältnisse, seine Krankheiten und bittet Goethe, sich für ihn und die Missa zu verwenden. „Ich weiß Sie werden nicht ermangeln einem Künstler, der nur zu sehr gefühlt, wie weit der bloße Erwerb von ihr entfernt, einmal sich für ihn zu verwenden, Wo Noth ihn zwingt, auch wegen andern, für andere zu walten zu wirken – das gute ist unß allzeit deutlich, u. so weiß ich, daß E. E. meine Bitte nicht abschlagen werden – Einige Worte von ihnen an mich würden Glückseeligkeit über mich verbreiten. – Euer Exzellenz mit der innigsten unbegrenzesten Hochachtung verharrender Beethoven.“ (BGA Nr. 1562) Wie gesagt, es erfolgte keine Antwort aus Weimar.

Aufforderung zur Intervention

Im Februar 1824 schrieben Wiener Kunstfreunde einen Brief an Beethoven, um ihn zu einer öffentlichen Aufführung seiner jüngsten Schöpfungen, der Missa und der 9. Sinfonie, zu bewegen.

In feierlichen Worten bitten die Unterzeichner Beethoven im Namen aller, „die Ihren Werth, und was Sie der Gegenwart und einer kommmenden Zeit geworden sind (…) denen Kunst und Verwirklichung ihrer Ideale mehr als Mittel und Gegenstand des Zeitvertreibes sind“ zu einer musikalischen Akademie. „Noch ist in seinen [Wiens] Bewohnern der Sinn nicht erstorben für das, was im Schooße ihrer Heimath Mozart und Haydn Großes und Unsterbliches für alle Folgezeit erschufen (…) die heilige Trias, in der jene Namen und der Ihrige als Sinnbild des Höchsten im Geisterreich der Töne strahlen…“ Sie beklagen, daß „Flachheit Namen und Zeichen der Kunst mißbraucht und im unwürdigen Spiel mit dem Heiligen, der Sinn für reines und ewig Schönes sich verdüstert und schwindet“. Deswegen fordern sie Beethoven auf: „Entziehen Sie bedrängten Sinne für Großes und Vollendetes nicht länger die Aufführung der jüngsten Meisterwerke Ihrer Hand. Wir wissen daß eine große kirchliche Composition sich an jene erste angeschlossen hat, in der Sie die Empfindungen einer, von der Kraft des Glaubens, und vom Lichte des Überirdischen durchdrungenen und verklärten Seele verewigt haben. Wir wissen daß in dem Kranze Ihrer herrlichen noch unerreichten Symphonien eine neue Blume kränzt.“ Zum Schluß wird noch einmal die Erwartung an Beethoven deutlich „…von Ihnen [erwarten wir] verjüngtes Leben und eine neue Herrschaft des Wahren und Schönen, über die Gewalt welcher der Modegeist des Tages auch die ewigen Gesetze der Kunst unterwerfen will“. (BGA Nr. 1784)

Unterschrieben wurde der Brief vom befreundeten Fürsten Lichnowsky, von Finanzkaufleuten und Bankiers, vom Theaterinhaber, Dichtern und Musikern, die Freunde Beethovens in Wien waren. In diesem Schreiben wird der Wunsch nach einer kulturpolitischen Intervention Beethovens deutlich.

Grosse musikalische Akademie

Am 7. Mai 1824 abends um 19 Uhr fand die große Akademie im Kärnthenertor-Theater statt. Thayer berichtet davon sachlich aber eindringlich: „Das Haus war, wie Schindler berichtet, überfüllt, nur die kaiserliche Loge blieb leer; (…) Beethovens Freunde waren gewiß alle anwesend (…) Unter den Mitwirkenden befanden sich die ersten Künstler: Mayseder, Böhm, Jansa, Linke etc. Neben dem großen Eindrucke, den die Verehrer des Meisters erfuhren, verhelten sie doch andere nicht die Folgen der raschen Einübung so schwieriger Kompositionen (…) es fehlte imponierende Gesamtkraft, richtige Verteilung von Licht und Schatten, Sicherheit der Intonation und nuancierter Vortrag (…) es ist kaum anzunehmen, daß die Größe und Eigenart der neuen Werke den Hörern so rasch nach einer Aufführung aufgegangen wäre. Bei allen war die Wirkung eine mächtige und der Beifall enthusiastisch; leider bemerkte ihn der taube Meister nicht, da er beim Schlusse der Aufführung den Publikum den Rücken zukehrte. Da wendete ihn Caroline Unger dem Proszenium zu, er verbeugte sich, und nun brach ein Beifallsturm aus, wie man ihn in den Räumen kaum gehört hatte. (Thayer, Bd 5)

Beethoven hatte, weil die habsburgische Zensur die Aufführung kirchlicher Werke zu profanen Anlässen nicht duldete, die drei Stücke aus der Missa solemnis, Kyrie, Credo, Agnus Dei, als „Hymnen“ angekündigt. Einen Monat früher hatte die Urauführung der gesamten Missa in St. Petersburg dank der Hilfe Fürst Galitzins stattgefunden. Vielen Zuhörern, auch musikalisch Gebildeten, war die Größe der Messe nicht klar. Urteile – auch noch viele Jahre später – schwankten erheblich zwischen „ungeheuerlichsten Unsinn“ bis zu „Beethoven hat alles übertroffen, was von ihm vorhanden ist“. Insbesondere fanden einige Beethoven-Enthusiasten, beim Agnus Dei wäre „die Gränze des Kirchenstyls“ überschritten. Viele konnten mit der „Kriegstrompete und Trommel“ nichts anfangen. Selbst der Beethovenforscher Nohl spricht (1877) über die Missa als Komposition als „fast nur ein Irren und Missgreifen“ (sh. Lit. Kurt von Fischer). Heute wird die Dramatik dieses bewußt provokanten Kontrastes zwischen dem höchst angstvollen, von der Sopranstimme flehend vorgetragenen Agnus Dei, Miserere und dona nobis pacem zur unmittelbaren Erfahrung des Erhabenen, des Anrührenden.

Über die Größe der 9. Sinfonie, die triumphale Wirkung dieser Tondichtung, muß hier nicht gesprochen werden. Aber auch sie war seinerzeit umstritten. 1828 liest man in der Allgemeinen musikalischen Zeitung, Leipzig, folgenden Bericht: „Ein Londoner Urtheil über Beethoven’s letzte Symphonie“ – „Im Märzheft des Harmonicon (…) liest man darüber folgendes. In der philharmonischen Gesellschaft hatte man vor Kurzem Beethoven s letzte Symphonie an einem Abende zwey Mal gespielt. Es ist eine bizarre Composition und die heisseste Bewunderer dieses grossen Meisters, wenn sie nur etwas Vernunft besitzten, müssen bedauern, dass sie zur Oeffentlichkeit gebracht worden ist. Welches Musikstück, das eine Stunde und zwanzig Minuten dauert, könnte man wohl ohne Ermüdung hören, selbst wenn es voller Schönheiten des ersten Ranges wäre? Wie aber wenn es anders damit ist? – Es ist allerdings unmöglich, dass ein so großer Componist, wie Beethoven, hunderte von Seiten schreiben könnte, ohne einen Funken von Genie durchblicken zu lassen: aber sie sind in so geringer Anzahl in diesem Werke, dass man nicht den Muth hat, sie aufzusuchen.“ – „Beschützt mich gegen meine Freunde: ich werde Sorge tragen, mich gegen meine Feinde zu schützen – sagte einst ein Mann, der die Welt kannte. Die Freunde, welche ihm geraten haben, dieses absurde Stück herauszugeben, sind gewiss die grausamsten Feinde seines Rufes.“ (Kunze) Der deutsche Rezensent, dem ebenfalls die 9. nicht gefällt („überkünstlich“), versucht jedoch die Schärfe des englischen Rezensenten abzumildern mit der Ermahnung, er hätte über Beethoven „menschlicher“ urteilen sollen!

Beethoven hat in einem Brief an Andreas Streicher, dem Jugendfreund Schillers, der sich Singstimmen mit Orgel- oder Klavierauszug der Missa für Singvereine erbeten hatte, hervorgehoben: „Gerne (komme ich dem Wunsche) nach, weil diese Vereine bey öffentlichen, besonders aber Gottesdienstlichen Feyerlichkeiten, ausserordentlich viel auf die Menge wirken können, und es bey der Bearbeitung dieser großen Messe meine Hauptabsicht war, sowohl bey den Singenden als bey den Zuhörenden, Religiöse Gefühle zu erwecken und dauernd zu machen.“ (BGA Nr. 1875)

Beethoven war ganz im Leibnizschen und Schillerschen Sinne von der „besten aller Welten“, von der „Perfektibilität“ des Menschen überzeugt. Deswegen waren diese beiden großen Werke und ihre von Beethoven verantwortete Aufführung im Mai 1824 mit seiner tätigen Mithilfe als dirigierender Komponist (mit Konzertmeister Schuppanzigh und Kapellmeister Umlauf) eine künstlerische Offensive gegen den wachsenden Pessimismus der europäischen Führungen. Bestes Beispiel für letzteres war die wachsende Verbreitung von Schopenhauers pessimistischer Schrift Die Welt als Wille und Vorstellung, 1819 erschienen, worin zielstrebige Entwicklung der menschlichen Geschichte als unmöglich hingestellt wird und der irreale Weltgrund nur als blinder Wille erscheint, als ein „Tummelplatz von Leidenschaften“, die sich sinnlos im Kreise drehen.

Wie anders Beethoven!

LaRouche hat über die Bedeutung welthistorischer Individuen wie Beethoven in dem schon erwähnten Aufsatz folgendes gesagt: „In der jahrtausendealten europäischen Geschichte, die als Geisteskind Ägyptens im antiken Griechenland ihren Ursprung nahm, war der Beitrag des außergewöhnlichen Individuums Gegenstand all der großen Legenden, tragischen Historien und Dialoge, die die Geistesentwicklung der Kulturen der Vergangenheit widerspiegeln. Die großen klassischen Historiker wie Äschylus, Platon, Shakespeare, Lessing und Schiller haben beschrieben, wie man sich im wirklichen Leben zwischen dem Tragischen und dem Erhabenen der Bühne entscheiden muß. Vor dieser Entscheidung stehen auch unsere Nation und wir, über die das Publikum der Zukunft urteilen wird, wenn einst wiederum unser Geschick auf der klassischen Bühne dargestellt wird.“ (Ibykus 81/2001).

Beethoven hat mit sich, voller Bewunderung der von LaRouche erwähnten „großen Geister der Vergangenheit“, um diese Geistesfreiheit des Erhabenen gerungen. Die beiden größten Werke der Musik, die Missa und die 9. Sinfonie, sind dazu angetan, jene Souveränität des Individuums, seine Geistesfreiheit und moralische Leidenschaft zur Gerechtigkeit und Wahrheit zu entwickeln. Heute, in der Übermacht des Visuellen und der sich selbst verbal produzierenden Gesellschaft (Talkshow oder „Gockeln“) – der „öffentlichen Meinung“ – sind authentische Überzeugungen, wahre Ideen und wirkliches Wissen beinahe verschwunden. Beethoven war ein provozierender Künstler, seine Musik ist paradox und provokant, wenn man richtig hinhört.

Die Entwicklung dieser Ich-Stärke als denkendes Wesen, die Bildung dessen, was man authentisch, oder „sich selbst und seinen Prinzipien treu sein“ nennt, wird die entscheidende Voraussetzung für die Bildung zukünftiger neuer Führungseliten und herausragender Persönlichkeiten sein, die die zerbrechenden alten Großorganisationen, etwa Parteien und gewerkschaftliche Verbindungen, erneuern werden müssen. Diese im Wissen leidenschaftliche und sich selbst treue geistige Souveränität ist die Voraussetzung für eine neue Elite, die diese Humanität, diese Liebe, anderen Menschen schenkt. Dies wird die Menschheit aus der gegenwärtigen Krise voranbringen zu einer wirklichen Humanität, wie es in der Missa und mit Schillers Worten in der 9. Sinfonie besungen wird. Beide Werke intensiv in sich nachzuvollziehen, wie damals die begeisterten zweieinhalbtausend Wiener Bürger, die beim ersten Anhören zwar nicht alles begriffen, aber ergriffen waren, ist heute als Abwendung von der übervisuell geprägten Welt notwendig, um zu einem neuen Begriff des „leidenschaftlichen Denkens“, des Erhabenen, zu gelangen.

Wem dies zu schwer erscheinen mag, der denke an Beethovens Antwort auf die Kritik, seine Kompositionen seien „zu schwer“: „Denn was schwer ist, ist auch schön, gut, groß etc, jeder Mensch sieht also ein, daß dieses das fetteste Lob ist, was man geben kann, denn das schwere macht schwizen.“ (am 9.1.1817 an S. A. Steiner BGA Nr. 1061)


Literatur:

Ludwig van Beethoven: Briefwechsel Gesamtausgabe, hrsg. von Sieghard Brandenburg, München 1996, (BGA). Die Zitate sind möglichst getreu der Übertragung wiedergegeben, um etwas von Beethovens eigentümlichem Schreib- und Betonungsstil einzufangen. Maynard Solomon: Beethovens Tagebuch, hrsg. von Sieghard Brandenburg, Mainz, 1990 (Solomon, die Nummern beziehen sich auf die jeweiligen Eintragungen).

Ludwig van Beethovens Konversationshefte, hrsg. von Karl-Heinz Köhler und Gritta Herre, Leipzig, 1972 ff (BKh).

Ludwig van Beethovens Leben, von Alexander Wheelock Thayer, weitergeführt von Hermann Deiters, hrsg. von Hugo Riemann, Bd. 5, Leipzig 1908 (Reprint).

Kurt von Fischer: Missa solemnis D-Dur, in: Beethoven, Interpretationen seiner Werke, hrsg. von A. Riethmüller, C. Dahlhaus, A. Ringer, Laaber 1994.

Ludwig van Beethoven: Die Werke im Spiegel seiner Zeit, hrsg. von Stefan Kunze, Sonderausgabe, Laaber 1996.

Friedrich Schiller: Werke in sechs Bänden, Zürich 1967.