Das Goldene Zeitalter des Islam

Mu’tazilismus und arabische Astronomie – zwei helle Sterne an unserem Firmament


Wir leben in einer Zeit grausamer Ignoranz. Die Geschichte der Zivilisation kennt zwar vielfältige kulturelle Errungenschaften, die uns unendlich bereichert haben, doch heute wird vor allem im Westen alles getan, uns unsere Menschlichkeit zu nehmen.

Berichte in den Medien über brutalste Verbrechen, vor allem durch die Behauptung, diese oder jene abscheuliche oder barbarische Tat sei „im Namen“ dieser oder jener Weltanschauung oder Religion begangen worden, haben den Effekt, uns gegeneinander aufzuhetzen. Wenn wir das nicht abstellen, wird die berühmte These vom „Kampf der Kulturen“, die der britische Islamwissenschaftler Bernard Lewis (ein Mentor von Henry Kissinger, Zbigniew Brzeziński und Samuel Huntington) als Instrument der geopolitischen Manipulation ersonnen hat, zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung.


Einführung

Um Vorurteile und gefährliche Mißverständnisse über den „Islam“ auszuräumen (dessen 1,6 Milliarden Gläubige einen bedeutenden Teil der Weltbevölkerung ausmachen), wollen wir im folgenden einen kurzen Überblick über die wichtigsten Beiträge der arabisch-muslimischen Zivilisation geben.

Wenn man sich zwei wichtige Beiträge des „Goldenen Zeitalters“ des Islam ins Gedächtnis ruft, nämlich die arabische Astronomie und den Mu’tazilismus, wird man sich wieder bewußt, daß Bagdad, Damaskus und Cordoba – ebenso wie Memphis, Theben, Alexandria, Athen und Rom – die Wiege einer universellen Zivilisation waren, die uns bis heute prägt.

Kollage von Raffaels Schule von Athen (links) und des östlichen Äquivalents des „Hauses der Weisheit“ in Bagdad. Bild: Javier Romano/houseofwisdom.org.uk
Kollage von Raffaels Schule von Athen (links) und des östlichen Äquivalents des „Hauses der Weisheit“ in Bagdad. Bild: Javier Romano/houseofwisdom.org.uk

Während in Europa inzwischen anerkannt ist, daß die Erfindung des Buchdrucks in China lange vor Gutenberg stattfand und daß Amerika lange vor Christoph Kolumbus von anderen Völkern entdeckt wurde, kommt übereinstimmend immer wieder zum Ausdruck, die Araber hätten nichts zum Fortschritt der Wissenschaft beigetragen.

Es heißt, Europa hätte sich 1300 Jahre, in der Zeit zwischen dem griechischen Astronomen aus Alexandria Claudius Ptolemäus (rund 100–178 n. Chr.) und dem polnischen Astronomen Nikolaus Kopernikus (1473–1543 n. Chr.) in einem „schwarzen Loch“ befunden.

In seinem Buch Die Nachtwandler von 1958 bewies der britisch-ungarische Schriftsteller Arthur Koestler – der zusammen mit Sydney Hook die CIA-Kampforganisation „Kongreß für Kulturelle Freiheit“ mitbegründete – die westliche Arroganz, indem er erklärte: „Die Araber waren lediglich die Vermittler, Bewahrer und Übermittler des Erbes. Sie hatten wenig eigene wissenschaftliche Eigenständigkeit und Kreativität“.

Nichts ist falscher als das. Kopernikus selbst war, im Gegensatz zu Koestler, mit der arabischen Astronomie bestens vertraut. Im Jahr 1543 zitiert er in seinem Werk De Revolutionibus mehrere arabische Wissenschaftler, genauer gesagt al-Battani, al-Bitruji, al-Zarqalluh, Ibn Rushd (Averroes) und Thabit ibn Qurra. Kopernikus bezieht sich in seinem posthum veröffentlichten Manuskript Commentariolus auch auf al-Battani. Später verwies auch Johannes Kepler (1571–1630) in seinem Werk über Optik auf Alhazen.

Tatsächlich haben Kopernikus und mehr noch Kepler, dessen schöpferischer Reichtum gar nicht hoch genug eingeschätzt werden kann, Antworten auf Fragen gegeben, die von mehreren Generationen arabischer Astronomen aufgeworfen worden waren. Bis heute ist der Korpus der arabischen astronomischen Werke mit etwa 10.000 weltweit erhaltenen, größtenteils unveröffentlichten Manuskripten noch gar nicht erschlossen.

Porträt von Johannes Kepler aus dem Jahr 1610 von einem unbekannten Künstler.
Porträt von Johannes Kepler aus dem Jahr 1610 von einem unbekannten Künstler.
Der Aufbau des menschlichen Auges nach Ibn al-Haitham. Bild: Bibliothek der Süleymaniye-Moschee, Istanbul (CC).
Der Aufbau des menschlichen Auges nach Ibn al-Haitham. Bild: Bibliothek der Süleymaniye-Moschee, Istanbul (CC).

Die Geburt des Mu’tazilismus

Wenn die Beiträge der arabischen und muslimischen Kultur heute zunehmend öffentliche Anerkennung finden, stellt sich die Frage, wie diese Konzentration auf Wissenschaft und Astronomie in einer vor allem religiös geprägten Kultur entstanden sein könnte.

Eine erste Antwort ergibt sich aus der Tatsache, daß im 8. Jahrhundert – kurz nach der Entstehung des Sunnismus (656 n.Chr.), des Kharidschismus (657 n.Chr.) und des Schiitismus (660 n.Chr.) – davon unabhängig eine Schule des muslimischen theologischen und philosophischen Denkens entstanden ist. Diese Strömung, die als „Mu’tazilismus“ (oder Motazilismus) bekannt ist und im Westen als „die Rationalisten“ des Islam bezeichnet wird, geht auf den revolutionären Theologen Wāsil ibn Ātā‘ (700–748 n.Chr.) zurück.

Eine Erklärung für diesen Namen ist, daß es die Mu’tazili ablehnten, sich an den internen Streitigkeiten innerhalb der islamischen Fraktionen zu beteiligen, die mit Hilfe theologischer Interpretationen irdische Macht erlangen wollten, wobei das arabische Wort i’tazala „sich zurückziehen“ bedeutet.

Wasil wurde in Medina auf der arabischen Halbinsel geboren und lebte dann in Basra im heutigen Irak. Dort gründete er eine geistige Bewegung, die sich über die gesamte arabisch-muslimische Welt ausbreitete. Viele seiner Anhänger waren Kaufleute und Nicht-Araber (mawâlî) aus „konvertierten“ iranischen oder aramäischen Familien, Opfer der Politik der Umayyaden-Dynastie, die zwischen Arabern und Nicht-Arabern unterschieden. Diese Annahme könnte die Behauptung erklären, daß sich Mu’taziliten am Sturz der Umayyaden-Dynastie und ihrer Ablösung durch die Abbasiden beteiligten.

Karte des Abbasiden-Kalifats in seiner größten Ausdehnung 233/234 nach Christus. Bild: Wikipedia/AbdurRahman AbdulMoneim
Karte des Abbasiden-Kalifats in seiner größten Ausdehnung 233/234 nach Christus. Bild: Wikipedia/AbdurRahman AbdulMoneim

In klarer Abkehr von der dualistischen Kosmologie (wie im Mazdaismus, Zoroastrismus, Manichäismus usw.) betont der Mu’tazilismus die absolute Einheit Gottes als Entität außerhalb von Zeit und Raum. Für ihn besteht eine enge Beziehung zwischen der Einheit der muslimischen Gemeinschaft (Ummah) und der Anbetung des Herrn. Die Mu’taziliten lehnen sich eng an den Koran an, und es ist völlig falsch, sie als „Freidenker“ des Islam darzustellen.

Allerdings „lehnen wir den Glauben als einzigen Weg zur Religion ab, wenn er die Vernunft ablehnt“, heißt es bei den Mu’taziliten. Gestützt auf die Vernunft (den logos, wie er von den griechischen Denkern Sokrates und Platon vertreten wurde), die er als mit den islamischen Lehren vereinbar ansieht, versichert der Mu’tazilismus, der Mensch könne auch ohne göttliche Offenbarung zu Wissen gelangen.

In ähnlicher Weise betonte Augustinus aus christlicher Sicht, daß der Mensch dem Weg der Wahrheit nicht nur durch das Evangelium (Offenbarung), sondern auch durch die Lektüre des „Buches der Natur“ – Ausdruck und Vorgeschmack der göttlichen Weisheit – folgen könne. Im Buch Salomon, 13, 5 heißt es dazu: „… denn von der Größe und Schönheit der Geschöpfe läßt sich auf ihren Schöpfer schließen.“

Der Mu’tazilismus räumt der menschlichen Vernunft (der Fähigkeit des Denkens) und der Freiheit (der Fähigkeit des Handelns) einen Platz und eine Bedeutung ein, die nicht nur in anderen Strömungen des Islam, sondern sogar in den meisten philosophischen und religiösen Strömungen der damaligen Zeit unbekannt war. Gegen den Fatalismus („mektoub!“ – wie geschrieben steht!), wie er im Islam vorherrschte, bekräftigt der Mu’tazilismus, daß der Mensch für seine Handlungen verantwortlich ist.

Mehr als fünf Jahrhunderte vor Erasmus boten die fünf Prinzipien des mu’tazilitischen Glaubens bereits die Grundlagen für die Lösung der meisten fruchtlosen theologischen Streitigkeiten, die die Renaissance zerstörten und Europa in den Abgrund der Religionskriege stürzten.

Das sind die „fünf Prinzipien“, die von dem mu’tazilitischen Theologen Abd al-Dschabbār ibn Ahmad (935–1025 n. Chr.) beschrieben und 2015 von dem Ökonomen Nadim Michel Kalife zusammengefaßt wurden:

  • Monotheismus (Tauhid): der Glaube, daß Gott über dem menschlichen Verstand steht. Deshalb sollten die Koranverse, in denen Gott auf einem Thron „sitzt“, nur allegorisch und nicht wörtlich ausgelegt werden. Daher bezeichneten die Mu’taziliten ihre Gegner als Anthropomorphisten, die versuchten, den unerkennbaren Gott auf eine menschliche Form zu reduzieren. Und sie kamen zu dem Schluß, dieses eine Detail des Korans reiche aus, um zu beweisen, daß der Koran nicht „schon immer existiert“ habe, sondern von Allah durch den Menschen „erschaffen“ wurde, um ihn dem Gläubigen zugänglich zu machen. Er kann und sollte sich daher weiterentwickeln und an die Zeiten und Umstände anpassen.
  • Göttliche Gerechtigkeit (Al-‚adl): Dies handelt vom Ursprung des Bösen in unserer Welt, in der Gott allmächtig ist. Der Mu’tazilismus proklamiert den freien Willen, wobei das Böse das Werk des Menschen und nicht Gottes Wille ist, denn Gott ist vollkommen und kann daher weder Böses tun noch den Menschen dazu bestimmen. Und wenn menschliches Fehlverhalten der Wille Gottes wäre, verlöre die Bestrafung jeden Sinn, da der Mensch nichts anderes täte, als den göttlichen Willen zu erfüllen. Diese unbestreitbare Logik erlaubte es dem Mu’tazilismus, die Prädestination und den „mektoub“ der sunnitischen Schulen zu widerlegen.
  • Verheißung und Drohung (Al-wa’d wa-l-wa’id): Dieser Grundsatz betrifft das Urteil über den Menschen bei seinem Tod und das Jüngste Gericht, bei dem Gott die Gehorsamen im himmlischen Paradies belohnen und die Ungehorsamen mit ewiger Verdammnis in den Feuern der Hölle bestrafen wird.
  • Der Zwischengrad (al-Manzila baina al-Manzilatain): Dieses Konzept beschäftigt sich mit Reue und Vollkommenheit. In den Worten von Abd al-Dschabbār ist die Lehre vom Zwischengrad das Wissen, daß derjenige, der mordet oder schwere Sünden begeht, ein schwerer Sünder (Fasiq) und kein Gläubiger ist. Er wird nicht gleich behandelt wie der Gläubige in Bezug auf Lob und Zuschreibung von Größe, denn er ist verflucht und soll mißachtet werden. Dennoch ist er kein Ungläubiger, der nicht auf einem muslimischen Friedhof begraben oder für den gebetet werden oder der eine Muslima heiraten kann. Wenn er jedoch nicht vor Ende seines Lebens Buße tut, wird er unwiderruflich in die Hölle kommen.
  • Das Gute ermöglichen und das Tadelnswerte tadeln (Al-amr bil ma’ruf wa al-nahy ‚an al munkar): Dieser Grundsatz erlaubt sogar, sich gegen die Autorität zu erheben, wenn diese ungerecht und unrechtmäßig ist, um den Sieg des Bösen zu verhindern. Dieser Grundsatz zog den Haß der Religionsgelehrten (ʿUlamā) und der Imame auf sich, die darin ein Manöver sahen, ihre eigene Autorität vor den Gläubigen zu schwächen. Die seldschukischen Türken sahen darin eine ernste Gefahr, da es ihre Macht über die Araber in Frage stellte.

Der Mu’tazilismus unter den Abbasiden

In Bagdad gewann der Mu’tazilismus mit dem Aufstieg des Abbasiden-Kalifats im Jahr 749 an Einfluß, zunächst unter dem Kalifen Hārūn ar-Raschīd (765–809) („Aaron der Rechtgeleitete“) und dann unter seinem Sohn al-Ma’mun (786–833) („Der Vertrauenswürdige“). Kurz vor seinem Tod im Jahr 833 machte dieser den Mu’tazilismus zur offiziellen Doktrin des Abbasidenreiches.

Abassidenherrscher bei der Begrüßung von Gästen (Maqamat von al-Hariri, Illustration von Yahyá al-Wasiti, Bagdad 1237). Quelle: Bibliothèque Nationale de France, MS Arabe 5847.
Abassidenherrscher bei der Begrüßung von Gästen (Maqamat von al-Hariri, Illustration von Yahyá al-Wasiti, Bagdad 1237). Quelle: Bibliothèque Nationale de France, MS Arabe 5847.

Dies war jedoch zu viel für die konservativen Ulama und Imame, die sich gegen die aufgeklärte Vision des Kalifen auflehnten, weil dadurch die Möglichkeiten einer säkularen Gesellschaft zunahmen, gleichzeitig aber ihr Einfluß auf die Gesellschaft sank. Angesichts dieser Revolte ging die abbasidische Verwaltung (größtenteils Perser), die den Mu’tazilismus vertrat, fünfzehn Jahre lang, 833–848, rücksichtslos gegen die sunnitischen (arabischen) Geistlichen vor. Diese blutige Verfolgung hinterließ in den Köpfen der Menschen einen zunehmend bitteren Beigeschmack, insbesondere als die abbasidische Macht sich weigerte, muslimische Gefangene in den Händen der Byzantiner freizulassen, wenn sie nicht dem Dogma von der „ewig existierenden“ Natur des Korans abschwörten.

Im Jahr 848 änderte der Kalif Jafar al-Mutawakkil (847–861) schließlich seinen Kurs und forderte die Traditionalisten auf, die Hadithe (Überlieferungen) zu predigen, in denen Mohammed die Mu’taziliten und ihre Anhänger verurteilt hatte.

Die dialektische Theologie (Kalam) wurde verboten, und die Mu’taziliten waren am Bagdader Hof nicht mehr willkommen. Dies bedeutete auch das Ende der geistigen Toleranz und die Rückkehr der Verfolgung von Christen und Juden.

Die Begeisterung für die Wissenschaft sollte zwar anhalten, doch der Mu’tazilismus verschwand mit dem Fall der Abbasiden und der Zerstörung Bagdads durch die Mongolen im 13. Jahrhundert.

Dabei hat der Mu’tazilismus auch das Judentum beeinflußt. Das Buch der Glaubensartikel und dogmatischen Lehren (Kitâb al-Amanat wa-l-I’tiqadat) des jüdischen Rabbiners Saadia ben Joseph Gaon (882–942) aus dem 10. Jahrhundert, der in Bagdad lebte, ist sowohl von der christlichen theologischen Literatur als auch von islamischen Ideen inspiriert (Karaiten). Das Buch der göttlichen Einheit (Kitâb al-tawhîd), von Saadias karaitischem Zeitgenossen Jacob Qirqisani (gest. 930), ist leider nicht erhalten.

Dies brachte die deutsche Islamwissenschaftlerin Sabine Schmidtke dazu, über den Einfluß des Mu’tazilismus auf das Judentum Folgendes zu schreiben:

Die neue Tradition jüdischen rationalen Denkens, die sich im Laufe des 9. Jahrhunderts herausbildete, war in ihrer Anfangsphase sowohl inhaltlich als auch methodisch hauptsächlich von der christlichen theologischen Literatur geprägt. Zunehmend fanden spezifisch mu’tazilitische islamische Ideen wie die Theodizee((Eine Theodizee (oder „Gerechtigkeit Gottes“) ist eine Erklärung des offensichtlichen Widerspruchs zwischen der Existenz des Bösen und zwei göttlichen Eigenschaften: seine Allmacht und seine Güte.)) und der freie Wille des Menschen sowie die Betonung der Einheit Gottes (Tauhid) Anklang bei jüdischen Denkern, von denen viele schließlich das gesamte Lehrsystem der Mu’tazila übernahmen. Die nun entstandene ,jüdische Mu’tazila‘ beherrschte das jüdische theologische Denken für die nächsten Jahrhunderte.

Trotz der Irrtümer muß anerkannt und unterstrichen werden, daß die optimistische philosophische Vision des Mu’tazilismus (Vernunft, freier Wille, Verantwortung, Vervollkommnung des Menschen) wesentlich zum Entstehen eines wahren goldenen Zeitalters der arabischen Kultur und Wissenschaft beigetragen hat.

Schließlich ist es interessant festzustellen, daß heute „neo-mu’tazilitische“ Strömungen als Reaktion auf obskurantistische Lehren und die von ihnen hervorgerufenen barbarischen Handlungen auftauchen. Für den ägyptischen Reformdenker Ahmad Amin aus dem 20. Jahrhundert war „der Tod des Mu’tazilismus das größte Unglück, das den Muslimen widerfuhr; sie begingen ein Verbrechen gegen sich selbst“.

Bagdad

Im Jahr 762 begann der zweite Abbasiden-Kalif al-Mansur (714–775) („der Siegreiche“) mit dem Bau einer neuen Hauptstadt, Bagdad. Unter dem Namen „Madīnat as-Salām“ (Stadt des Friedens) enthielt sie den Hofpalast, die Moschee und Verwaltungsgebäude. Der kreisförmige Grundriß basierte auf früheren Traditionen, vor allem auf Plänen, die der iranischen Stadt Gur (heute Firuzabad) zugrunde lagen.

Die Stadt Bagdad und ihre Kanäle zwischen 767 und 912 nach Christus.
Die Stadt Bagdad und ihre Kanäle zwischen 767 und 912 nach Christus.

Dieses Gebiet ist das Herz des fruchtbaren Mesopotamiens, dem „Land zwischen den Flüssen“ Euphrat und Tigris, die beide in der Türkei entspringen. Hier entwickelten die Sumerer im 10. Jahrtausend v.Chr. die Bewässerung, den Ackerbau (Getreide und Viehzucht) und die Schrift (3400 v.Chr.).

Bagdad, eine mächtige und kultivierte Stadt, beherrschte den gesamten Orient und wurde zur Hauptstadt der arabischen Welt. Die am Tigris gelegene Stadt, in der heute etwa 10 Millionen Menschen leben, ist nach wie vor die größte Stadt des Irak und die zweitgrößte Stadt der arabischen Welt (nach Kairo).

Minarett der Großen Moschee von Samarra, von dem viele im Westen glaubten, es sei der Turmbau zu Babel. Bild: Wikipedia/Chris Hoare
Minarett der Großen Moschee von Samarra, von dem viele im Westen glaubten, es sei der Turmbau zu Babel. Bild: Wikipedia/Chris Hoare

Die abbasidischen Städte entstanden auf riesigen Flächen. Die Paläste und Moscheen von Samarra, der neuen Hauptstadt von 836, erstreckten sich über 40 Kilometer entlang des Tigris. Entsprechend der Größe des Geländes wurden monumentale Gebäude errichtet, wie die Abu-Dulaf-Moschee oder die Große Moschee von Samara, die zu dieser Zeit ihresgleichen suchten. Ihr kurioses Spiralminarett mit 52 Metern Höhe inspirierte in den folgenden Jahrhunderten die westlichen Darstellungen des Turmbaus zu Babel.

Darüber hinaus gelang es den Abbasidenherrschern, ihren Einfluß auf die Provinzgouverneure zu verstärken, wofür sie eine äußerst disziplinierte und gehorsame Armee aus Chorasan (einer Region im Nordosten Irans)((Chorasan ist eine Region im Nordosten des Iran. Der Name stammt aus dem Persischen und bedeutet „woher die Sonne kommt“. Chorasan wird von den Afghanen auch als der mittelalterliche Name Afghanistans angesehen. In der Tat umfaßte dieses Gebiet das heutige Afghanistan sowie das südliche Turkmenistan, Usbekistan und Tadschikistan.)) sowie auf ein ausgeklügeltes System von Postkutschen und Poststationen einsetzten. Die Gouverneure, die zur Zeit der Omaijaden-Kalifen kaum Steuern zahlten unter dem Vorwand, sie müßten vor Ort für die Verteidigung der Kalifatsgrenzen aufkommen, mußten nun die vom Herrscher auferlegten Abgaben entrichten.

Die neue „Papier“-Straße

Nach dem militärischen Sieg gegen die Chinesen in der Schlacht von Talas (einer Stadt im heutigen Kirgisistan) im Jahr 751, dem Jahr, das den östlichsten Vorstoß der abbasidischen Armeen markierte, öffnete sich Bagdad der chinesischen und indischen Kultur.

Die Abbasiden übernahmen schnell eine Reihe chinesischer Techniken, insbesondere die Papierherstellung. Diese Kunst war in Samarkand (Hauptstadt von Sogdien, heute Usbekistan) entwickelt worden, einer weiteren Zwischenstation auf der Seidenstraße. Die Handwerker in dieser Stadt glätteten das Papier mit einem Achatstein. Die daraus resultierende extrem glatte und glänzende Oberfläche nahm weniger Tinte auf, so daß beide Seiten desselben Blattes verwendet werden konnten. Die Chinesen, die das Seidenpapier erfunden hatten, brauchten ihr Papier nicht zu glätten, weil sie mit Pinseln und nicht mit Stiften schrieben.

Hārūn ar-Raschīd war sehr an der industriellen Herstellung von Papier interessiert. Er ordnete die Verwendung von Papier in allen Verwaltungen des Reiches an: Es war einfacher herzustellen, billiger und sicherer als Seidenpapier, weil man das Geschriebene nicht so leicht ausradieren konnte. Er begründete die Papierfabriken von Samarkand. Bald gab es ähnliche Produktionsstätten in Bagdad, Damaskus und Tiberias (um 1046), in Kairo (um 1199), wo es auch als Verpackung für Waren verwendet wurde, und im Jemen zu Beginn des 13. Jahrhunderts. Zur gleichen Zeit wurden in Nordafrika mehrere Papierfabriken errichtet. Vor 1106 gab es 104 Papierfabriken in Fes (Marokko), und zwischen 1221 und 1240 insgesamt 400 Papiermühlen. In Andalusien (Spanien) entstanden sie 1054 in Jativa (bei Valencia) und 1085 in Toledo.

Agroindustrielle Revolution

Die ersten abbasidischen Kalifen bewirkten den wirtschaftlichen Übergang vom Omayyaden-Modell von Abgaben, Ausbeutung und dem Verkauf von Sklaven hin zu einer Wirtschaft, die auf Landwirtschaft, Produktion, Handel und Steuern basierte. Die Einführung energieintensiverer Technologien (im Vergleich zu den früheren) revolutionierte die Bewässerung und die gesamte Landwirtschaft:

  • Der Bau von Kanälen, die die Bewässerung ermöglichten und Überschwemmungen einschränkten;
  • der Bau von Staudämmen und Nutzung der von ihnen erzeugten mechanischen Energie;
  • der Bau von Wassermühlen;
  • die Nutzung der Gezeitenenergie;
  • der Bau von Windmühlen;
  • die Destillation von Kerosin, dem ersten reichlich vorhandenen und preiswerten Brennstoff für Lampen, der bis heute genutzt wird.((Im 10. Jahrhundert beschreibt der persische Mediziner Muhammad ibn Zakariya ar-Razi in seinem Buch der Geheimnisse die Destillation von Petroleum zur Gewinnung von Kerosin oder „Leuchtpetroleum“.))

Die industrielle Nutzung von Wassermühlen in der islamischen Welt geht auf das 7. Jahrhundert zurück. Zur Zeit der Kreuzzüge gab es in allen Provinzen der islamischen Welt funktionierende Mühlen, von al-Andalus und Nordafrika bis zum Nahen Osten und Zentralasien. Diese Mühlen erfüllten verschiedene landwirtschaftliche und industrielle Aufgaben.

Antike (senkrecht stehende) Windmühlen von Nashtifan, Persien.
Antike (senkrecht stehende) Windmühlen von Nashtifan, Persien.

Wenn Cervantes (ein Anhänger von Erasmus) seinen Don Quijote die Windmühlen von La Mancha angreifen läßt – einer Region Spaniens mit starkem arabischen Einfluß –, zieht er nicht nur ironisch über den Ritterkult her, sondern attackiert auch das wahnsinnige Unterfangen der Kreuzzüge.

Die Bewässerung, übernommen aus der Antike – wie Nilüberschwemmungen in Ägypten, Kanäle in Mesopotamien, Pendelbrunnen (shadoof), Wasserräder zur Wasserförderung (noria), Dämme in Transoxianien, Chuzestan und im Jemen, unterirdische Stollen am Fuße der Berge im Iran (qanat) oder im Maghreb (khettara) –, wurden durch solide Gemeinschaftsarbeit und durch staatliche Eingriffe vorangetrieben.

Die abbasidischen Handwerker und Ingenieure entwickelten Maschinen (Pumpen zum Beispiel) mit Kurbelwellen und verwendeten Zahnräder in Mühlen und Wasserhebeanlagen. Außerdem nutzten sie Dämme, um Wassermühlen und Wasserhubmaschinen mit zusätzlicher Energie zu versorgen. Diese Fortschritte ermöglichten die Mechanisierung vieler landwirtschaftlicher und industrieller Aufgaben und setzte viele Arbeitskräfte frei für kreativere Tätigkeiten.

In seiner Blütezeit im 10. Jahrhundert hatte Bagdad 400.000 bis 500.000 Einwohner. Das Überleben der Stadt basierte auf einem ausgeklügelten Kanalsystem zur Bewässerung der Felder und zur Handhabung der wiederkehrenden Überschwemmungen von Euphrat und Tigris. Beispiel: der parallel zum Tigris verlaufende Nahrawan-Kanal, durch den das Wasser des Tigris umgeleitet werden konnte, um die Hauptstadt vor Überschwemmungen zu schützen.
In seiner Blütezeit im 10. Jahrhundert hatte Bagdad 400.000 bis 500.000 Einwohner. Das Überleben der Stadt basierte auf einem ausgeklügelten Kanalsystem zur Bewässerung der Felder und zur Handhabung der wiederkehrenden Überschwemmungen von Euphrat und Tigris. Beispiel: der parallel zum Tigris verlaufende Nahrawan-Kanal, durch den das Wasser des Tigris umgeleitet werden konnte, um die Hauptstadt vor Überschwemmungen zu schützen.

Es entwickelte sich ein vielfältiger landwirtschaftlicher Anbau: Getreide (Weizen, Reis), Obst (Aprikosen, Zitrusfrüchte), Gemüse, Oliven (in Syrien und Palästina), Sesam (im Irak), Rüben, Raps, Flachs oder Rizinusöl (in Ägypten), Wein (in Syrien, Palästina, Ägypten), Datteln, Bananen (in Ägypten), Zuckerrohr.

Die Viehzucht war wichtig für die Ernährung, für die Versorgung mit Wolle und Leder und für den Transport (Kamele, Dromedare, Pferde). Schafe gab es überall, aber auch die Büffelzucht entwickelte sich. Kleine Geflügel-, Tauben- und Bienenzuchtbetriebe wurden geführt. Die Bevölkerung ernährte sich überwiegend vegetarisch mit Reiskuchen, Weizenbrei, Gemüse und Obst.

Im Zuge dieser agroindustriellen Revolution entstanden zahlreiche Industrien, darunter die ersten Textilfabriken, die Herstellung von Seilen, Seide und, wie bereits erwähnt, die Papierherstellung. Auch die Metallverarbeitung, die Glaswaren-, Keramik- und Werkzeugherstellung sowie das Kunsthandwerk blühten in dieser Zeit auf.

Karl der Große, Bagdad und China

Im 8. und 9. Jahrhundert schlossen die Abbasiden und die karolingischen Franken mehrere Abkommen und Bündnisse, um die Umayyaden und das byzantinische Reich zurückzudrängen.

Karl der Große sandte drei diplomatische Gesandtschaften an den Hof von Hārūn ar-Raschīd, und dieser schickte seinerseits mindestens zwei Gesandtschaften an Karl den Großen. Der Kalif übermittelte zahlreiche Geschenke, darunter Gewürze, Stoffe, einen Elefanten und eine automatische Uhr, die in den fränkischen Königsannalen von 807 beschrieben wird. Sie zeigte die 12 Stunden mit Kupferkugeln an, die zu jeder Stunde auf eine Platte fielen, und sie hatte außerdem zwölf Reiter, die in denselben Abständen nacheinander erschienen.

Hārūn ar-Raschīd schickte auch eine diplomatische Mission nach Chang’an (heute Xi’an), der Hauptstadt der Tang-Dynastie und dem östlichen Endpunkt der Seidenstraße. Sein westlicher Markt wurde zum Zentrum des Welthandels. Nach den Aufzeichnungen der Tang-Six-Behörde unterhielten mehr als 300 Nationen und Regionen Handelsbeziehungen mit Chang’an.

Maritime Seidenstraße

Diese diplomatischen Beziehungen zu China vollzogen sich zeitgleich mit der maritimen Expansion der muslimischen Welt in den Indischen Ozean und den Fernen Osten. Abgesehen von Nil, Tigris und Euphrat gab es nur wenige schiffbare Flüsse, so daß der Transport auf dem Seeweg sehr wichtig war. Die Schiffe des Kalifats begannen von Siraf, dem Hafen von Basra, nach Indien, in die Straße von Malakka und nach Südostasien in See zu stechen.

Bis zur Ankunft der Portugiesen im 16. Jahrhundert dominierten die arabischen Kaufleute den Handel im Indischen Ozean. Hormus war ein wichtiges Zentrum für diesen Handel. Auch im Mittelmeerraum gab es ein solches dichtes Netz, und muslimische Länder standen untereinander und mit europäischen Mächten wie Venedig und Genua in enger Beziehung.

Karl der Große nimmt einen Elefanten, ein Kamel und andere Geschenke in Empfang, die ihm von Harun ar-Raschīd geschickt wurden (Miniatur, 14. Jahrhundert). Bild: Schatz der Abtei von St Moritz (Schweiz)
Karl der Große nimmt einen Elefanten, ein Kamel und andere Geschenke in Empfang, die ihm von Hārūn ar-Raschīd geschickt wurden (Miniatur, 14. Jahrhundert). Bild: Schatz der Abtei von St Moritz (Schweiz)

Die zentralasiatische Seidenstraße zwischen China und Europa verlief durch das Abbasidenkalifat. Zu dieser Zeit hielten sich in Kanton (arab.: Khanfu), einer Hafenstadt mit 200.000 Einwohnern in Südchina, viele Händler aus muslimischen Ländern auf. Als der chinesische Kaiser Yongle beschloß, seine berühmte Schiffsflotte nach Afrika zu schicken, wählte er als ihren Anführer Admiral Zheng He (1371–1433) aus, einen Hof-Eunuchen, der von Geburt an Muslim war. Als dann der portugiesische Kapitän Vasco da Gama 1497 die kenianische Stadt Malindi erreichte, stand ihm ein astronomisch bewanderter arabischer Matrose zur Seite, der ihn direkt nach Kozhikode (Calicut) in Indien führte.

Wissenschaftliche und kulturelle Renaissance

Unter dem Kalifat von Hārūn ar-Raschīd und seinem Sohn al-Ma’mūn erlebten Bagdad und die Abbasiden ein wahres goldenes Zeitalter in den Wissenschaften (Philosophie, Astronomie, Mathematik, Medizin) und der Kunst (Architektur, Poesie, Musik, Malerei). Für den britischen Schriftsteller Jim Al-Khalili „brachte die Verschmelzung des griechischen Rationalismus mit dem mu’tazilitischen Islam eine humanistische Bewegung hervor, wie man sie vor dem Italien des 15. Jahrhunderts kaum gesehen hat“.

Buch der Bilder der Fixsterne
Sternbild Schütze aus dem Buch der Bilder der Fixsterne von Abd al Rahman al Sufi.

Auf dem Gebiet der Wissenschaften fand sehr früh eine Assimilation hellenistischer, indischer und persischer astronomischer Lehren statt. Mehrere Sanskrit- und Pehlewi-Schriften wurden ins Arabische übersetzt.((Sanskrit zählt zu den ältesten bekannten indoeuropäischen Sprachen (noch älter als Latein und Griechisch). Es ist vor allem die Sprache der religiösen Texte des Hinduismus und wird als solche weiterhin als Kultursprache verwendet, wie es das Lateinische in den vergangenen Jahrhunderten im Westen war.))1

Die indischen Werke des Astronomen Aryabhata (476–560), eines bedeutenden Wissenschaftlers der indischen Gupta-Renaissance, und des Mathematikers Brahmagupta (590–668) wurden schon früh von ihren arabischen Kollegen zitiert. Eine berühmte Übersetzung ins Arabische erschien um 777 unter dem Titel Zij al-Sindhind (Indische Astronomische Tabellen). Die Quellen weisen darauf hin, daß dieser Text nach der Reise eines indischen Astronomen übersetzt wurde, der von 770 an auf Einladung des abbasidischen Kalifen al-Mansur an dessen Hof arbeitete.

Die Araber übernahmen auch die (aus der indischen Mathematik übernommenen) Sinuskurven, die sie den von den griechischen Astronomen verwendeten Kreissehnen vorzogen. Aus derselben Zeit stammt eine Sammlung astronomischer Chroniken, die im sassanidischen Persien über zwei Jahrhunderte hinweg zusammengestellt wurde und auf Arabisch als Zij al-Shah (Königliche Tabellen) bekannt ist.

Die Häuser der Weisheit

Nach einem heftigen Streit mit seinem Bruder, der ihn entmachten wollte, wurde al-Ma’mun, der jüngste Sohn von ar-Raschīd, im Jahr 813 der achte abbasidische Kalif. Er interessierte sich besonders für die Arbeit der Gelehrten, vor allem derjenigen, die des Griechischen mächtig waren. Er versammelte in Bagdad Denker aller Glaubensrichtungen, die er großzügig und mit größter Toleranz behandelte. Sie alle schrieben in arabischer Sprache, die es ihnen ermöglichte, sich gegenseitig zu verstehen. Für die umfangreiche Bibliothek seines Vaters brachte er Manuskripte aus Byzanz mit. Diese erste öffentliche Bibliothek, die Gelehrte, Übersetzer, Dichter, Historiker, Ärzte, Astronomen, Wissenschaftler und Philosophen nutzen konnten, war der Grundstein der Häuser der Weisheit (Bayt al-Hikma), in denen lange vor den westlichen Universitäten Übersetzungs-, Lehr-, Forschungs- und sogar Gesundheitsaktivitäten stattfanden. Hier wurden alle bekannten wissenschaftlichen Manuskripte der damaligen Zeit, insbesondere griechische Schriften, zum Studium gesammelt.

Künstlerische Darstellung des Alltags im „Haus der Weisheit“. Bild: 1001inventions
Künstlerische Darstellung des Alltags im „Haus der Weisheit“. Bild: 1001inventions

In Bagdad blieb diese kulturelle Blüte nicht auf den Hof beschränkt, sondern war auch auf den Straßen präsent, wie die folgende Beschreibung von Bagdad durch Ibn ‚Aqīl (1040–1119) bezeugt:

Zuerst ist da der große Platz, der Brückenplatz genannt wird. Dann der Vogelmarkt, ein Markt, auf dem man alle Arten von Blumen finden kann und an dessen Seiten sich die eleganten Geschäfte der Geldwechsler befinden. (…) Dann der Markt der Gastronomen, der Bäcker, der Metzger, der Goldschmiede, der wegen seiner schönen Architektur einzigartig ist: hohe Gebäude mit Balken aus Teakholz, die Räume mit Kraggewölben tragen. Und dann ist da noch der riesige Markt der Buchhändler, auf dem sich auch die Gelehrten und Dichter treffen.

Persien, die Nestorianer und die Medizin

Als Vorbild für die „Häuser der Weisheit“ wird oft der Einfluß Persiens genannt. Tatsächlich hatten die Barmakiden, eine Familie persischen Ursprungs, großen Einfluß auf die ersten abbasidischen Kalifen.((Die Barmeciden oder Barmakiden sind Mitglieder einer persischen Adelsfamilie, die ursprünglich aus Balkh in Baktrien (nördlich von Afghanistan) stammt. Diese Familie buddhistischer Ordensleute („paramaka“ bedeutet in Sanskrit: „Vorsteher eines buddhistischen Klosters“), die zu Zoroastriern wurden und dann zum Islam konvertierten, stellte viele Wesire für die Abbasiden-Kalifen. Die Barmakiden hatten sich einen bemerkenswerten Ruf als Mäzene erworben und gelten als die Hauptverantwortlichen für die glänzende Kultur, die sich damals in Bagdad entwickelte.)) Al-Ma’muns Tutor war Dschafar ibn Yahya Barmaki (767-803) aus einer Familie der Armenier stammend und Sohn des persischen Wesirs, der seinem Vaters ar-Raschīd diente. Die persische Elite, die die abbasidischen Kalifen beriet, interessierte sich sehr für die Werke der Griechen, mit deren Übersetzung während der Herrschaft des Sassanidenkönigs Chosrau I. Nuschirwan (531–579) begonnen worden war.

Die Ruinen von Gondishapur. Bild: Tehran Times
Die Ruinen von Gondishapur. Bild: Tehran Times

Dieser gründete in Gondishapur die Akademie für Medizin. Viele nestorianische (christliche) Schreiber und Gelehrte((Die christologische These des Nestorius (rund 381–451), Patriarch von Konstantinopel von 428 bis 431, wurde vom Konzil von Ephesus als häretisch erklärt und geächtet. Für Nestorius gibt es in Jesus Christus zwei Hypostasen, eine göttliche und eine menschliche. Von der Ostkirche aus war der Nestorianismus eine der historisch einflußreichsten Formen des Christentums in der Welt während der Spätantike und des Mittelalters bis hin zu Indien, China und der Mongolei.)) hatten dort nach dem Konzil von Ephesus im Jahr 431 Zuflucht gefunden. Die liturgische Sprache der Nestorianer war Syrisch, ein semitischer Dialekt.((Das Syrische (eine Form des Aramäischen, der Sprache Christi) ist neben dem Lateinischen und dem Griechischen die dritte Komponente des antiken Christentums, die ihre Wurzeln im Hellenismus hat, aber auch aus dem nahöstlichen und semitischen Altertum stammt. Von den ersten Jahrhunderten an entwickelte sich das syrische Christentum symmetrisch zur griechisch-lateinischen christlichen Tradition nach Westen und nach Osten, bis nach Indien und China. Syrisch ist noch heute die liturgische und klassische Sprache (ähnlich wie Latein in Europa) der syrisch-orthodoxen, syrisch-katholischen, assyrischen, chaldäischen und maronitischen Kirchen im Libanon, in Syrien, im Irak und in Südindien. Schließlich ist es der Zweig des Christentums, der am meisten mit dem Islam in Berührung kam und in dem er weiter lebte.))

Wie die Juden besaßen diese nestorianischen Christen eine kosmopolitische Kultur und Sprachkenntnisse (Syrisch und Persisch), die es ihnen ermöglichten, als Vermittler zwischen dem Iran und seinen Nachbarn aufzutreten. Dank ihres Zugangs zur Weisheit der griechischen Antike waren sie häufig als Ärzte tätig.((In Südwestasien blieb die griechische Tradition in mehreren Städten unter christlichem Einfluß lebendig: Edessa (heute Urfa in der Türkei), damals Hauptstadt der Grafschaft Edessa, einem der ersten lateinischen Staaten des Ostens, der der islamischen Welt am nächsten lag; Antiochia (heute Antakya in der Türkei); Nisibe (heute Nusaybin in der Türkei); Mahuza („Die Städte“), eine irakische Metropole am Tigris, zwischen den Königsstädten Ktesiphon und Seleukeia am Tigris und Gondishapur (heute im Iran), deren Ruinen erhalten sind. Hinzu kommen die Städte Latakia (in Syrien) und Amed (heute Diyarbakir in der Türkei), in denen sich jakobitische Zentren befanden (Christen des Ostens, aber Mitglieder der syrisch-orthodoxen Kirche, nicht zu verwechseln mit den Nestorianern).))

Eine chinesische Keramikstatuette aus der Tang-Dynastie, die einen sogdischen Händler zeigt, der auf einem baktrischen Kamel reitet.
Eine chinesische Keramikstatuette aus der Tang-Dynastie, die einen sogdischen Händler zeigt, der auf einem baktrischen Kamel reitet.

Die medizinische Akademie von Gondishapur((Die Gondishapur-Akademie befand sich in der heutigen Provinz Chuzestan im Südwesten Irans, in der Nähe des Flusses Karoun. Dort wurde Medizin, Philosophie, Theologie und Wissenschaft unterrichtet. Der Lehrer waren nicht nur in den zoroastrischen und persischen Traditionen bewandert, sondern unterrichteten auch griechische und indische Sprachen. Zur Akademie gehörten eine Bibliothek, ein Observatorium und das älteste bekannte Lehrkrankenhaus. Historikern zufolge war das iranische Cambridge im 6. und 7. Jahrhundert das wichtigste medizinische Zentrum in der Alten Welt (definiert als das Gebiet Europas, des Mittelmeerraums und des Nahen Ostens).)) hatte im 5. Jahrhundert dank der aus Edessa vertriebenen syrischen Gelehrten ihren Höhepunkt erreicht. In dieser Schule wurde die Medizin auf der Grundlage der Übersetzungen des griechischen Gelehrten und Arztes Claudius Galen gelehrt. Seine Lehren wurden in einem großen Krankenhaus in die Praxis umgesetzt, eine Tradition, die in der muslimischen Welt aufgegriffen wurde. Die Schule war ein Treffpunkt für griechische, syrische, persische und indische Gelehrte, die sich gegenseitig beeinflußten. Als Erbe des griechischen medizinischen Wissens von Alexandria bildete die Schule von Gondishapur mehrere Generationen von Ärzten am Hof der Sassaniden und später an dem der muslimischen Abbasiden aus. Bereits 765 konsultierte der abbasidische Kalif al-Mansur, der von 754 bis 775 regierte, den Leiter des Krankenhauses von Gondishapur, Georgios ben Bakhtichou, und lud ihn nach Bagdad ein. Seine Nachkommen arbeiteten und lehrten dort als Ärzte. Lange nach der Etablierung des Islam schickten die arabischen Eliten ihre Söhne auf diese christlich-nestorianische Schule.

Timotheus I. (727–823) war von 780 bis 823 christlicher Patriarch der Ostkirche („Nestorianer“). Seine erste Entscheidung bestand darin, den Sitz seiner Kirche nach Bagdad zu verlegen, der dort bis zum Ende des 13. Jahrhunderts bleiben sollte, wodurch er privilegierte Beziehungen zwischen den Nestorianern und den abbasidischen Kalifen herstellte. Als Mann, der Syrisch, Arabisch, Griechisch und schließlich Pehlewi beherrschte, genoß Timotheus die Achtung der abbasidischen Kalifen al-Mahdi, ar-Raschīd und al-Ma’mun.

Während der 43 Jahre des Pontifikats von Timotheus lebte die Ostkirche in Frieden. Darüber hinaus spielten die Nestorianer eine wichtige Rolle bei der Ausbreitung des Christentums in Zentralasien und über die Seidenstraße bis nach China. In Zentralasien war vor der Ankunft des Islam das Sogdische (die iranische Sprache Sogdiens und seiner Hauptstadt Samarkand) die Verkehrssprache der Seidenstraße.((Sogdisch ist eine mitteliranische Sprache, die im Mittelalter von den Sogdiern gesprochen wurde, einem Handelsvolk, das in Sogdien lebte, einer historischen Region, zu der Samarkand und Buchara gehörte und mehr oder weniger das heutige Usbekistan, Tadschikistan und Nordafghanistan umfaßte. Vor der Ankunft des Arabischen war Sogdisch die Verkehrssprache an der Seidenstraße. Sogdische Händler ließen sich in China nieder, und sogdische Mönche gehörten zu den ersten, die dort den Buddhismus verbreiteten. Bereits im 6. Jahrhundert wandten sich chinesische Herrscher an die sogdische Elite, um diplomatische, kommerzielle, militärische und sogar kulturelle Fragen zu klären, was viele Sogdier dazu veranlaßte, aus Zentralasien und den Grenzregionen Chinas in die großen politischen Zentren Chinas zu ziehen.))

Übersetzen, Verstehen, Lehren, Verbessern

In den „Häusern der Weisheit“ von Bagdad und Basra konnten die Gelehrten Übersetzungen von Geschichten und Texten einsehen, die nach dem Zusammenbruch des Reiches von Alexander dem Großen gesammelt worden waren. Dazu gehörten auch Texte, die ursprünglich unter der Ägide der Sassaniden aus dem Syrischen ins Persische übersetzt worden waren.

Arabische Manuskriptbibliothek (Maqamat von al-Hariri, Illustration von Yahyá al-Wasiti, Bagdad 1237) | Bild: Bibliothèque Nationale de France, MS Arabe 5847.
Arabische Manuskriptbibliothek (Maqamat von al-Hariri, Illustration von Yahyá al-Wasiti, Bagdad 1237) | Bild: Bibliothèque Nationale de France, MS Arabe 5847.

Der arabische Historiker und Wirtschaftswissenschaftler Ibn Chaldun (1332–1406), der aus einer großen andalusischen Familie jemenitischer Herkunft stammte, würdigte diese Bemühungen um die Bewahrung und Verbreitung des griechischen Erbes:

Was ist mit den Wissenschaften der Perser geschehen, deren Schriften zur Zeit der Eroberung auf Befehl Omars vernichtet wurden? Wo sind die Wissenschaften der Chaldäer, der Assyrer, der Bewohner von Babylon? Wo sind die Wissenschaften, die in der Vergangenheit unter den Kopten herrschten? Es gibt nur ein einziges Volk, das der Griechen, dessen wissenschaftliche Werke wir ausschließlich besitzen, und das ist der Sorgfalt zu verdanken, mit der al-Ma’mun diese Werke übersetzt hat.

Diese ersten Übersetzungen ins Arabische machten der arabisch-muslimischen Welt Hunderte von Texten über Philosophie, Medizin, Logik, Mathematik, Astronomie, Musik usw. zugänglich. Die Übersetzungen aus dem Griechischen, Pehlewitischen, Syrischen, Hebräischen, Sanskrit und anderen Sprachen umfaßten die Werke von Platon, Aristoteles, Pythagoras, Sushruta, Hippokrates, Euklid, Charaka, Ptolemäus, Claudius Galen, Plotin, Aryabhata und Brahmagupta.

Sie wurden von Kommentaren, Übersetzungen von Kommentaren usw. begleitet und führten zu einer neuen Form der Literatur. Nach Angaben des nestorianischen Patriarchen Timotheus I. übersetzte er auf Wunsch des Kalifen al-Mahdi die Thesen des Aristoteles aus dem Syrischen ins Arabische. Er schrieb auch eine Abhandlung über Astronomie, das Buch der Sterne, das heute als verschollen gilt.

Als Liebhaber der Astrologie und Astronomie machte al-Ma’mun einst die Übergabe eines Exemplars des Almagest, dem Hauptwerk des Ptolemäus, zur Bedingung für einen Frieden mit dem Byzantinischen Reich. Es sollte wohl das gesamte griechische astronomische Wissen enthalten. Im Jahr 829 errichtete er im oberen Stadtteil von Bagdad die erste ständige Sternwarte der Welt, das Observatorium von Bagdad. Es ermöglichte den Astronomen, die die astronomische Abhandlung des Griechen Hipparchos von Nicäa (190–120 v. Chr.) sowie sein Sternenregister übersetzt hatten, die Bewegung der Planeten methodisch zu verfolgen.

Sā’id al-Andalusī (1029–1070) berichtet über al-Ma’muns Interesse an der Astronomie und seine Bemühungen, sie zu fördern:

Sobald al-Ma’mun Kalif wurde, bemühte sich seine edle Seele nach Kräften, Weisheit zu erlangen, und zu diesem Zweck befaßte er sich besonders mit der Philosophie; außerdem studierten die Gelehrten seiner Zeit eingehend ein Buch von Ptolemäus und die darin gezeichneten Diagramme eines Fernrohrs. So versammelte al-Ma’mun alle großen Gelehrten aus den Regionen des Kalifats, und bat sie, die gleiche Art von Instrument zu bauen, um die Planeten entsprechend zu beobachten wie Ptolemäus und seine Vorläufer. Das Objekt wurde gebaut, und die Gelehrten brachten es im Jahr 214 n. Chr. (829 n. Chr.) in die Stadt al-Schamîsiyya in der Region von Damaskus im Scham. Durch ihre Beobachtungen bestimmten sie die genaue Dauer eines Sonnenjahres sowie die Neigung der Sonne, den Austritt ihres Zentrums und die Lage ihrer verschiedenen Flächen. Dadurch kannten sie den Zustand und die Positionen der anderen Planeten. Der Tod des Kalifen al-Ma’mun im Jahr 218 n. Chr. (833) setzte diesem Projekt ein Ende, aber nach seiner Fertigstellung nannten sie das astronomische Fernrohr das „Ma’mun-Teleskop“.

Zu den wichtigsten Astronomen, Mathematikern, Denkern, Gelehrten und Übersetzern, die sich in den „Häusern der Weisheit“ aufhielten, gehören al-Dschāhiz (776–867), al-Chwārizmī (780-850), Sahl Rabban al-Tabarī (786–845), al-Haddschadsch (786–823) und vor allem al-Kindi (801–873), bekannt als Alkindus, der als Vater der arabischen Philosophie gilt und als Mu’tazilist angesehen wird. Zu erwähnen sind auch die Brüder Banū Mūsā („Kinder des Moses“); Hunayn ibn Ishāq (808–873); Thabit ibn Qurra (836–901), Qusta ibn Luqa (820–912) und Ibn Sahl (940–1000).

Diese Gelehrten, die wegen der zahlreichen Forschungsmöglichkeiten nach Bagdad gezogen waren, arbeiteten interdisziplinär. al-Ma’mun überwachte die wissenschaftlichen Projekte und stellte die Widersprüchlichkeiten fest, die sich aus den Übersetzungen der griechischen, persischen und indischen Quellen ergaben. Er beschrieb den Gelehrten auch die nächsten großen wissenschaftlichen Herausforderungen:

  • Die Präzisierung der Tabellen der astronomischen Ephemeriden des Ptolemäus dank leistungsfähigerer astronomischer Observatorien.
  • Die genaue Berechnung des Erdumfangs mit moderneren Methoden als denen des griechischen Astronomen Eratosthenes (3. Jahrhundert v. Chr.).
  • Die Erstellung einer Weltkarte mit den neuesten geografischen Erkenntnissen über die Entfernungen zwischen Städten und die Größe der Kontinente.
  • Die Entschlüsselung der ägyptischen Hieroglyphen, die al-Ma’mun bei seiner Reise nach Ägypten entdeckt hatte.

Übersetzungen von Platon

Wenn behauptet wird, die Wiederentdeckung von Aristoteles und seiner rein empirischen Methode habe die Wissenschaft in dieser Zeit vorangebracht, läßt man die Wiederentdeckung Platons außer acht, dessen dialektische und hypothetische Methode oft mehr für die Wissenschaft getan hat als der blinde Empirismus.

Grafik eines arabischen Manuskripts aus dem 13. Jahrhundert, das Sokrates (Soqr't) im Gespräch mit seinen Schülern zeigt.
Grafik eines arabischen Manuskripts aus dem 13. Jahrhundert, das Sokrates (Soqr’t) im Gespräch mit seinen Schülern zeigt.

Al-Kindis intensive Beschäftigung mit der platonischen Tradition spiegelt sich in seinen Zusammenfassungen der Apologie und des Kriton sowie in seinen eigenen Werken wider, die den Phaedon paraphrasieren oder vom Menon und dem Gastmahl inspiriert sind. Der syrische Gelehrte Ibn al-Batrīq, ein Mitglied von al-Kindis Kreis in Bagdad, übersetzte den Timaios.

Der wichtigste Übersetzer des „Hauses der Weisheit“ war Hunain ibn Ishaq. Er und sein Kreis übersetzten die Kommentare des griechischen Arztes Claudius Galen zum Timaios, insbesondere die Werke Über das, was Platon im Timaios sagte, und Über die Lehren des Hippokrates und Platon. Aus Hunains eigenen Werken wissen wir, daß seine Schüler Galens verloren gegangenen griechischen Zusammenfassungen von Platons Kratylos, Sophistes, Parmenides, Euthydemos, Politeia und Gesetze übersetzt haben. Schließlich präsentierte und kommentierte der Arzt al-Razi Plutarchs Abhandlung Über die Entstehung der Seele im Timaios.

Ende des „Goldenen Zeitalters“

Mit dem Machtantritt von al-Mutawakkil im Jahr 847 wurde der Mu’tazilismus nach und nach beseitigt, und die „Häuser der Weisheit“ auf einfache Bibliotheken reduziert. Ein Reisender berichtete anläßlich seines Besuches in Bagdad im Jahr 891, es befänden sich dort noch mehr als hundert öffentliche Bibliotheken. Nach dem Vorbild der Bayt al-Hikma wurden an jeder Straßenecke der Stadt kleine Büchereien gegründet.

Die endlosen theologischen Debatten zwischen Experten wurden mehr und mehr vom Sektierertum dominiert. Die mu’tazilistische Elite kapselte sich vom Volk ab, das das Selbstvertrauen verloren hatte. Mit Erleichterung begrüßte es schließlich die obskurantistische Lehre von al-Ghazali (lat.: Algazel, 1058–1111), dem ärgsten Feind der Mu’taziliten.

Al-Ghazalī forderte eine radikale Lösung: Die Philosophie hat mit der Religion übereinzustimmen – was laut al-Ghazalī selten der Fall ist. Er verschärfte seine Position immer mehr und griff die griechisch-arabische Philosophie zunehmend an, die sich in seinen Augen der Blasphemie schuldig gemacht hatte.

Während der Perser Ibn Sina (lat. Avicenna, 980–1037), Autor des Kanons der Medizin (um 1020), griechische Philosophie und muslimische Religion miteinander verband, wollte al-Ghazalī die erste durch die zweite ersetzen.

So gab al-Ghazalī seinem berühmtesten und wichtigsten Werk den Titel Die Inkohärenz der Philosophen, das er 1095 verfaßte. Darin prangert er den „Hochmut“ der Philosophen an, die behaupten, den Koran mit Hilfe von Platon und Aristoteles „neu zu schreiben“. Ihr Irrtum sei vor allem ein logischer, und der Buchtitel solle ihre „Inkohärenz“ unterstreichen: Sie wollen den Koran mit der griechischen Philosophie vervollständigen. Der Koran selbst entstand aber erst später in der Geschichte und brauche daher nicht vervollständigt zu werden. Er fordert eine sehr viel wörtlichere Auslegung des Korans, während Ibn Sina, wenn auch mit Vorsicht, einen metaphorischen Ansatz vertritt. In Wahrheit haben der Aristotelismus und der Nominalismus gesiegt.

Ab dem 11. Jahrhundert riefen die Abbasiden, deren Reich immer mehr zerfiel, die türkischen Seldschuken-Prinzen zum Schutz vor den Schiiten auf, die vom Fatimidenkalifat in Kairo unterstützt wurden. Nach und nach sorgten die türkischen und mongolischen Truppen aus Zentralasien für die Sicherheit des abbasidischen Kalifen und überließen ihm die Ausübung seiner religiösen Macht.

Im Jahr 1258 setzten die Seldschuken jedoch den letzten Kalifen ab und konfiszierten seinen Titel als Nachfolger des Propheten. Dadurch erhielten sie die religiöse Macht über die vier Schulen des Sunnitentums. Um die arabische und persische Bevölkerung zu unterwerfen, schufen die Seldschuken die Madrasa (Koranschule). In ihr wurde die konservative Lehre des acharitischen Sunnitentums unter Ausschluß der dialektischen mu’tazilitischen Theologie gelehrt, die sie als ideologische Bedrohung der türkischen Autorität über die Araber betrachteten.

Der Niedergang des Abbasidenreichs ist auf Nachlässigkeit in der Verwaltung und bei der Instandhaltung von Kanälen zurückzuführen; überschwemmungsbedingte Hungersnöte, soziale Ungerechtigkeit, Sklavenaufstände und religiöse Spannungen zwischen Schiiten und Sunniten waren die Konsequenz. Ende des 9. Jahrhunderts revoltierten mehrfach die Zendj, schwarze Sklaven (aus Sansibar), die in den Sümpfen des unteren Irak arbeiteten, besetzten sogar Basra und bedrohten Bagdad. Der Kalif stellte die Ordnung um den Preis einer beispiellos gewaltsamen Unterdrückung wieder her. Die Aufständischen wurden schließlich 883 blutig niedergeschlagen. Das Reich erholte sich nicht mehr.

Im Jahr 1019 verbot der Kalif jede neue Auslegung des Korans und wandte sich damit radikal gegen die mu’tazilitische Schule. Der Entwicklung des kritischen Denkens und der intellektuellen und wissenschaftlichen Innovationen im arabischen Reich wurde ein brutaler Riegel vorgeschoben, dessen Folgen noch heute spürbar sind.

Mongolenbelagerung von Bagdad im Jahr 1258.
Mongolenbelagerung von Bagdad im Jahr 1258.

Mehr noch als durch die Kreuzzüge wurden durch die mongolischen Offensiven ganze Teile der arabisch-muslimischen Zivilisation verwüstet. Dschingis Khan (1155–1227) zerstörte zur großen Freude einiger westlichen Vertreter die muslimischen Königreiche Khwarezm (1218) und Sogdien mit Buchara und Samarkand (1220) und die große Stadt Merv im Jahr 1221. Im Jahr 1238 nahm sein Sohn Moskau und dann Kiew ein, im Jahr 1240 Polen und Ungarn. 1241 wurde Wien bedroht.

Bevor sie 1273 die Song-Dynastie in China zu Fall brachten, wandten sich die Mongolen gegen die Abbassiden. So fanden die „Häuser der Weisheit“ am 12. Februar 1258 ein brutales Ende, als die Mongolen unter der Führung von Hülägü (dem Enkel von Dschingis Khan) in Bagdad einfielen. Sie töteten den letzten abbasidischen Kalifen al-Mu’tasim (obwohl er sich ergeben hatte), zerstörten die Stadt Bagdad und ihr Kulturerbe. Hülägü ordnete auch die Ermordung der gesamten Familie und des Gefolges des Kalifen an.

Der Mu’tazilismus wurde verboten, und die prächtige Sammlung von Büchern und Manuskripten im „Haus der Weisheit“ in Bagdad warf man in das schlammige Wasser des Tigris, das sich durch die Tinte auf den Büchern und Manuskripten braun färbte.

In einem Bericht heißt es, die Mongolen hätten 24.000 Gelehrte getötet und eine unüberschaubare Anzahl von Büchern soll verloren gegangen sein. Die Lehre des Mu’tazilismus war nur durch die Texte der traditionalistischen Theologen bekannt, die ihn angegriffen hatten. Erst die Entdeckung der umfangreichen Werke von Abd al-Dschabbār ibn Ahmad im 19. Jahrhundert ermöglichte es, die Schlüsselrolle zu verstehen, die diese Denkströmung in der arabischen Renaissance und bei der Herausbildung der heutigen muslimischen Theologie, ob sunnitisch oder schiitisch, gespielt hatte.

Bis zum Irak-Krieg von 2003 war der Irak der weltweit größte Herausgeber wissenschaftlicher Publikationen in arabischer Sprache. Infolge des Chaos, verursacht durch einen im Namen der „Demokratie“ und „gegen den Terror“ geführten Krieg, wurden sowohl die Nationalbibliothek als auch das Nationalarchiv geplündert und verbrannt. Das Gleiche geschah mit der Zentralbibliothek der frommen Vermächtnisse, der Bibliothek der irakischen Universität der Wissenschaften sowie mit vielen öffentlichen Bibliotheken in Bagdad, Mosul und Basra. Das Gleiche gilt für die archäologischen Schätze des irakischen Museums und seiner Bibliothek. Offensichtlich haben einige Leute der Zivilisation den Krieg erklärt.

  1. Pehlewi oder Mittelpersisch ist eine iranische Sprache, die während der Sassanidenzeit gesprochen wurde. Sie stammt vom Altpersischen ab. Mittelpersisch wurde gewöhnlich mit der Pehlewi-Schrift geschrieben. Die Sprache wurde auch mit der manichäischen Schrift von den Manichäern Persiens geschrieben. []