Aus Ibykus Nr. 67 (2/1999):
Zum Goethe-Jahr 1999: Ungehörige, aber notwendige Reflexionen über ein bleibendes Paradox
von Helga Zepp-LaRouche
Wer wollte bezweifeln, daß Johann Wolfgang Goethes dichterisches Werk von außergewöhnlichem Genie zeugt, daß er lyrische Kostbarkeiten und vollendete Formen schuf, daß er ein beeindruckendes Einfühlungsvermögen in die menschliche Seele ebenso wie in zwischenmenschliche Beziehungen und die Natur besaß? Und welcher humanistisch denkende Mensch empfände nicht angesichts der sprachlichen Verwahrlosung unserer Zeit das Verlangen, Goethe für die Schönheit zu preisen, die er der deutschen Sprache geschenkt hat?
Ja, man könnte noch eine lange Reihe von Vorzügen aufzählen, die Zartheit der Jugendlyrik oder seinen enormen Beitrag zum Höhepunkt der deutschen Klassik in den zehn Jahren der Zusammenarbeit mit Schiller, dennoch: bei der Gesamtbetrachtung von Leben und Werk bleibt Goethe für mich ambivalent.
Ich verfolge dabei kein akademisches Interesse. Jeder, der nicht völlig abgestumpft und vom Zeitgeist völlig vereinnahmt worden ist, spürt, daß wir derzeit eine existentielle Krise erleben, das Ende einer Epoche, das alle Krisen des 20. Jahrhunderts in den Schatten zu stellen droht. Unsere Gesellschaft wird nicht überleben, wenn wir nicht in kurzer Zeit zu den Werten und der Denkweise der Klassik zurückkehren, zu der Methode von Platon, Nikolaus von Kues, Leibniz, Schiller und Humboldt. Die Methode, die wir dabei anwenden müssen, ist die gleiche, mit der es gelang, die Schrecken des 14. Jahrhunderts zu überwinden und die Goldene Renaissance des 15. Jahrhunderts zu schaffen. Sie ist die gleiche, mit der es G. E. Lessing und Moses Mendelssohn im 18. Jahrhundert gelang, den Einfluß der „Aufklärung“ zurückzudrängen und den Boden für die deutsche Klassik zu bereiten.
Wir müssen nicht nur Personen in verantwortlichen Positionen durch die Klassik wieder an die „großen Themen der Menschheit“ heranführen, sondern die sog. „normalen Mitmenschen“ dafür gewinnen, für die Fragen, die über unser aller Zukunft entscheiden, die Verantwortung zu übernehmen. Wir müssen den besten Teil in der Bevölkerung ansprechen, damit, wie Schiller es in Die Schaubühne als moralische Anstalt betrachtet sagt, die Weisheit sich „in milderen Strahlen“ schließlich durch die ganze Bevölkerung verbreitet. Wir brauchen heute Menschen, die so denken und handeln wie zum Beispiel Lessing, M. Mendelssohn und Schiller.
Bei einem geringeren Geist könnte man vielleicht „nachsichtiger“ sein, doch unverzeihlich ist Goethes völlige Indifferenz in den Freiheitskriegen von 1812–14, in denen es um die „großen Themen der Menschheit“ ging. Wie konnte er, der immerhin Wilhelm von Humboldt persönlich kannte, dem damit die politischen Anstrengungen der Preußischen Reformer nicht unbekannt sein konnten, zu einer Zeit, als man in Deutschland mehr um Freiheit und Verfassungsstaatlichkeit kämpfte als zu irgendeinem anderen Moment in der Geschichte, dem Imperator Napoleon mit Bewunderung entgegentreten (wenn er dies später auch relativiert hat)?
Die Erklärung ist leider einfach: Goethe war gegenüber den oligarchischen Kräften seiner Zeit ein Opportunist. So schrieb Ludwig van Beethoven, nachdem er Goethe in Teplitz und Karlsbad kennengelernt hatte, am 9. November 1812 an Breitkopf und Härtel in Leipzig: „Goethe behagt die Hofluft zu sehr, mehr als es einem Dichter ziemt. Es ist nicht viel mehr über die Lächerlichkeiten der Virtuosen hier zu reden, wenn Dichter, die als die ersten Lehrer der Nation angesehen sein sollten, über diesem Schimmer alles andere vergessen können.“
Schiller forderte, daß der Künstler sich erst zum idealischen Menschen veredeln müsse, ehe er es wagen dürfe, sein Publikum zu rühren. Er und Beethoven waren sich also durchaus einig über den Standard, den man vom wahren Künstler verlangen muß.
Auch viele Werke des jungen Goethe sind den historischen und epistemologischen Auseinandersetzungen der Zeit nicht angemessen. Die Leiden des jungen Werther entstanden in einer Zeit, in der Lessing und Moses Mendelssohn der empiristischen Aufklärung den Kampf angesagt hatten und gegen die von den oligarchischen Kräften verfolgte negative Tradition des Römischen Reiches die griechische Klassik neu belebten.
Heinrich Heine schreibt in Religion und Philosophie in Deutschland: „Indessen in der Hauptsache hatte er [der Freund und Herausgeber der Aufklärer, Nicolai] immer recht, wenn er auch nicht begriffen, was Goethe mit seinem Werther eigentlich sagen wollte, so begriff er doch ganz gut dessen Wirkungen, die weichliche Schwärmerei, die unfruchtbare Sentimentalität, die durch diesen Roman aufkam und mit jeder vernünftigen Gesinnung, die uns not tat, in feindlichem Widerspruch war. Hier stimmte Nicolai ganz überein mit Lessing, (…) der den Werther ein ,warmes Produkt‘ nannte.“
Man könnte den Werther vielleicht als „jugendlichen Ausrutscher“ betrachten (der damals aber eine ganze Welle von Selbstmorden auslöste), wenn da nicht eine Schwäche geblieben wäre.
Alles Streben nach reiner Klassizität während der gemeinsamen Jahre mit Schiller hinderte Goethe auch nicht daran, mit den erklärten Gegnern der Klassik, den Romantikern, vor allem den Schlegels, Kompromisse zu machen. Während Schiller, an den sich die Schlegels auch herangemacht hatten, in diesen „Laffen“, wie er sie nannte, ein ästhetisches und ethisches Ärgernis sah und jeglichen Kontakt mit ihnen abbrach, fand Goethe es nützlich – so Heine –, daß sie mit der Verehrung seiner Person zu seinem Renommée beitrugen.
Heine erklärt treffend die moralischen und politischen Unterschiede zwischen der Schillerschen und Goetheschen Auffassung:
„Indem die Goethianer von solcher Ansicht ausgehen, betrachten sie die Kunst als eine unabhängige zweite Welt, die sie so hoch stellen, daß alles Treiben der Menschen, ihre Religion und ihre Moral, wechselnd und wandelbar unter ihr hin sich bewegt. Ich aber kann dieser Ansicht nicht unbedingt huldigen; die Goethianer ließen sich dadurch verleiten, ihre Kunst selbst als das höchste zu proklamieren und von den Ansprüchen jener ersten wirklichen Welt, welcher doch der Vorrang gebührt, sich abzuwenden.
Schiller hat sich jener ersten Welt viel entschlossener angeschlossen als Goethe, und wir müssen ihn in dieser Hinsicht loben. Ihn erfaßte lebendig der Geist seiner Zeit, er rang mit ihm, er ward von ihm bezwungen, er folgte ihm zum Kampfe, er trug sein Banner, und es war dasselbe Banner, worunter man auch jenseits des Rheines so enthusiastisch stritt und wofür wir noch immer bereit sind, unser bestes Blut zu vergießen. Schiller schrieb für die großen Ideen der Revolution, er zerstörte die geistigen Bastillen, er baute an dem Tempel der Freiheit, und zwar an jenem ganz großen Tempel, der alle Nationen, gleich einer einzigen Brüdergemeinde umschließen soll; er war Kosmopolit. Es begann mit jenem Haß gegen die Vergangenheit, welchen wir in den ,Räubern‘ sehen, wo er einem kleinen Titanen gleicht, der aus der Schule gelaufen ist und Schnaps getrunken hat und dem Jupiter die Fenster einwirft; er endigte mit jener Liebe für die Zukunft, die schon im ,Don Carlos‘ wie ein Blumenwald hervorblüht, und er selber ist jener Marquis Posa, der zugleich Prophet und Soldat ist, der auch für das kämpft, was er prophezeit, und unter dem spanischen Mantel das schönste Herz trägt, das jemals in Deutschland geliebt und gelitten hat.
Der Poet, der kleine Nachschöpfer, gleicht dem lieben Gott auch darin, daß er seine Menschen nach seinem Bilde schafft. Wenn daher Karl Moor und der Marquis Posa ganz Schiller sind, so gleicht Goethe seinem Werther, seinem Wilhelm Meister und seinem Faust, worin man die Phasen seines Geistes studieren kann. Wenn Schiller sich ganz in die Geschichte stürzt, sich für die gesellschaftlichen Fortschritte der Menschheit enthusiasmiert und die Weltgeschichte besingt, so versenkt sich Goethe mehr in die individuellen Gefühle oder in die Kunst oder die Natur. Goethe, den Pantheisten, mußte die Naturgeschichte endlich als ein Hauptstudium beschäftigen, und nicht bloß in Dichtungen, sondern auch in wissenschaftlichen Werken gab er uns die Resultate seiner Forschungen. Sein Indifferentismus war ebenfalls ein Resultat seiner pantheistischen Weltansicht.“
Dieser Unterschied in der Themenwahl hat direkte Auswirkungen auf das politische Bewußtsein in der Bevölkerung, auf welche der Poet wirkt. Man hat den deutschen Klassikern in der Folgezeit vorgeworfen, daß sie letztlich unpolitisch gewesen wären, sie hätten sich eigentlich in die Kunst zurückgezogen. Doch hier muß man emphatisch zwischen Schiller und Goethe unterscheiden. Schiller stimmte mit Wilhelm von Humboldt überein, daß nach dem Scheitern der französischen Revolution, die in den Jakobinerterror ausgeartet war, jede Verbesserung im Politischen nur durch die Veredelung des Individuums möglich sei. Daß er in den Ästhetischen Briefen der Kunst diese Rolle zusprach, wurde oft so mißgedeutet, daß diese Veredelung auf die Kunst beschränkt bliebe. Das Gesamtwerk, besonders aber die Briefe selbst lassen hingegen keinen Zweifel daran, daß Schiller die wirkliche Befreiung des Menschen im Sinn hatte und den „Bau der politischen Freiheit“ als das „höchste Kunstwerk“ ansah.
Indem der Mensch die kreative Leistung des Dichters, Komponisten oder Malers nachvollzieht, werden bei ihm seine eigenen schöpferischen Fähigkeiten angesprochen. Je mehr der Mensch diese Fähigkeiten durch die große Kunst übt, desto freier wird er, und so ist für Schiller der einzige Mensch, der wirklich frei ist, das Genie. Der Mensch wird durch die Kunst wirklich frei, nicht nur zum Schein, sagt Schiller u. a. in der Vorrede zur Braut zu Messina. Goethes Dichtung hatte eine solche ästhetische Erziehung des Menschen nicht explizit zum Ziel.
Auch hier stimme ich Heinrich Heines Urteil zu: „Das Beispiel des Meisters leitete die Jünger, und in Deutschland entstand dadurch jene literarische Periode, die ich einst als ,die Kunstperiode‘ bezeichnet und wobei ich den nachteiligen Einfluß auf die politische Entwicklung des deutschen Volkes nachgewiesen habe. Keineswegs leugne ich bei dieser Gelegenheit den selbständigen Wert der Goetheschen Meisterwerke. Sie zieren unser teures Vaterland, wie schöne Statuen einen Garten zieren, aber es sind Statuen. Man kann sich darin verlieben, aber sie sind unfruchtbar: die Goetheschen Dichtungen bringen nicht die Tat hervor wie die Schillerschen. Die Tat ist das Kind des Wortes, und die Goetheschen schönen Worte sind kinderlos. Das ist der Fluch alles dessen, was bloß durch Kunst entstanden ist. Die Statue, die der Pygmalion verfertigt, war ein schönes Weib, sogar der Meister verliebte sich darin, sie wurde lebendig unter seinen Küssen, aber soviel wir wissen, hat sie nie Kinder bekommen.“
Ich fürchte, so ähnlich wird es auch heute in Deutschland gehen, wo es im Goethe-Jahr vor Veranstaltungen zu, von und über Goethe nur so wimmelt. Der bessere (und zahlungskräftige)
Teil des Publikums läßt sich erbauen, die Veranstalter machen das Geschäft, und man kann glücklich sein, wenn wenigstens der eine oder andere Jugendliche zum Goetheabend statt zur Loveparade gefunden hat. Aber ob sich die Besucher darum auch nur in einer einzigen aktuellen politischen Frage intelligenter und moralischer verhalten, das mag bezweifelt werden.
Warum Schiller immer wieder in aller Welt Menschen zu Großem angeregt hat, während Goethes Werke eher einen passiven Kunstgenuß fördern, das hat mit der „ungeheuren Kluft“ zwischen den Denkweisen der beiden zu tun, die Goethe selbst konstatierte. In Goethes Weltanschauung steht „Erfahrung“ im Mittelpunkt, in Schillers die „Idee“.
Im Rahmen der sich entwickelnden Zusammenarbeit und Freundschaft bemühten sich die beiden Dichter, des Gegensatzes ihrer Denkweise bewußt, um eine höhere Ebene, um einen „höheren idealischen Gattungsbegriff“, der diesen Gegensatz überwand. Trotzdem war Goethes Methode nicht unbedingt darauf gerichtet, die kognitiven Fähigkeiten seiner Umwelt und seines Publikums zu verbessern.
Viele Zeitgenossen, allen voran Wilhelm von Humboldt, heben hervor, welchen ungeheuren Reichtum an Ideen Schiller in seinen Gesprächen entfaltete. „Er behandelte den Gedanken immer als ein gemeinschaftlich zu gewinnendes Resultat, schien immer des Mitredners zu bedürfen, wenn dieser sich auch bewußt blieb, die Idee allein von ihm zu empfangen, und ließ ihn nie müßig werden“, schrieb Humboldt. „Schiller sprach nicht eigentlich schön. Aber sein Geist strebte immer in Schärfe und Bestimmtheit einem neuen geistigen Gewinne zu, er beherrschte dies Streben und schwebte in vollkommener Freiheit über seinem Gegenstande.“
Humboldt faszinierte vor allem die von Schiller neu geschaffene Gattung der „Ideendichtung“. In einem Brief an Schiller schrieb er: „Das Übergewicht, das Sie (meiner Meinung nach) in der Tat charakterisiert, liegt in der Einbildungskraft selbst, es ist das der Kraft ihres fortschreitenden Strebens über das verweilende Vergnügen an der Ausbildung des erzeugten Stoffes. Das Feuer der Ihrigen entzündet sich unaufhörlich von neuem durch eigene Reibung.“ Humboldt erkannte diese kognitive Methode, die Schillers „Gedankendichtung“ ebenso zu eigen war wie seiner gesamten Denkweise, deshalb so klar, weil sie seinem eigenen Wesen entsprach und weil er von Schiller geprägt und beflügelt war. Das fruchtbarste Ergebnis dieser Affinität zwischen Schiller und Humboldt war das bisher beste Erziehungssystem: Humboldt goß die Schillersche Methode der ästhetischen Erziehung in ein Bildungssystem, dessen erklärtes Ziel ein schöner Charakter, also eine schöne Seele, und die Ausbildung der kognitiven Fähigkeiten der Schüler und Studenten durch Forschung und Lehre war.
Diese gemeinsame Überzeugung, daß Ideen die bewegende Kraft in der Geschichte sind, verband Schiller und Humboldt lebenslang. So schrieb Humboldt am 22.10. 1803: „Der Maßstab der Dinge in mir bleibt fest und unerschütterlich, das Höchste in der Welt bleiben und sind – die Ideen.“ Und noch am 2.4.1805 stellt Schiller fest: „Und am Ende sind wir ja beide Idealisten und würden uns schämen, uns nachsagen zu lassen, daß die Dinge uns formten, und nicht wir die Dinge.“
Gerade wenn über ein Thema schon sehr viel gesagt und geschrieben wurde, ist es schwierig, Wahrheiten auszusprechen, ohne daß fehlgedeutete Bezüge zu früheren Aussagen hergestellt werden. Aber wie Heinrich Heine richtig befand, ist Goethe mehr von seinen Apologeten geschadet worden als von seinen Kritikern. Nur weil gewisse Pietisten sich seinerzeit in die Debatte, wer größer sei, Schiller oder Goethe, vehement eingemischt haben, heißt dies nicht, daß man diese Frage nicht stellen oder beantworten könnte.
Im Verhältnis zwischen Schiller und Goethe haben beide gegeben und empfangen: Man muß nur das Wort der beiden Dichter so nehmen, wie sie es selber in ihrem Briefwechsel dokumentiert und wie sie sich gegenüber anderen Personen geäußert haben. Wer aber der Außergewöhnlichere von beiden war, steht außer Frage. Der Freund Schillers, der ihn neben Körner wohl am selbstlosesten geliebt und mit Sicherheit am besten verstanden hat, sei hier zitiert. In seinem bemerkenswerten Brief an F. H. Jakobi schrieb Humboldt am 15.10. 1796:
„Ich habe Schiller, nicht gerade seine Werke, obgleich ich auch in diesen doch ziemlich bewandert, äußerst genau studiert und mache es mir zu eigentlichen Geschäft, dies Studium zu einer gewissen Vollendung zu bringen. Ich fahre darin umso unermüdlicher fort, weil ich überzeugt bin, daß das Studium eines so seltenen und in seiner Art einzigen Genies einen erweiterten Begriff des menschliches Geistes überhaupt gibt. Ich habe nie einen gesehen, dessen Geist mit so merkwürdig gewesen wäre, und so aufrichtig ich zum Beispiel Goethe und Kant verehre, so ist mir keiner von beiden für die Kenntnisse der menschlichen Intellektualität so wunderbar und wichtig.
Sie fühlen schon, daß ich hiermit nicht eine Vergleichung absoluter Größen machen, daß ich vielmehr einzig Schiller eine eigene Klasse anweisen will, die er auch, meines Erachtens, schlechterdings bildet. Kant hat ein entschiedenes philosophisches, Goethe ein entschiedenes Dichtergenie, beide vielleicht, wie ich ernsthaft glaube in höherem Grade, als bisher je eins aufstand, aber ihre Gattung ist bekannt und zu allen Zeiten dagewesen. Mit Schiller ist es durchaus ein anderer Fall. Er trägt durchaus und in allem, was er treibt, das Gepräge des echten Genies, von dem es nicht möglich ist, sich zu irren, aber sowohl gegen seinen dichterischen als gegen seinen philosophischen Beruf kann ich starke Ausnahmen machen. Dies allein würde gar nicht viel beweisen. Es gibt genug halbe und hie und da wirkliche Genies, die aus Mangel an bestimmter Ausbildung oder an entschiedenem Triebe zwischen zwei Fächern herumschwanken und darum in beiden unglücklich und für sich nur umso unvollkommener sind. Das ist gewiß am wenigsten nach Ihrem Urteil mit Schiller der Fall. In ihm strebt der Geist eigentlich das philosophische und das poetische Genie ineinander zu verschmelzen, und dadurch ist er der Schöpfer einer Phantasie, von der noch bis jetzt kein Beispiel vorhanden war und die man sehr unrichtig mit der bisherigen sogenannten philosophischen verwechseln würde, so wie er eben dadurch auch in der Philosophie eine Originalität erreicht hat, die sich auf weit mehr als auf den bloßen Vortrag erstreckt.“
Tatsächlich hat Schiller es auf nie dagewesene und seitdem nie wieder erreichte Weise verstanden, die platonisch-humanistische philosophische Tradition mit der Poesie zu einer neuen höheren Gattung zu verschmelzen. Die Ideendichtung, in der die hervorbringende Tätigkeit des Geistes in der Poesie selbst neue Konzepte schafft, über die poetische Empfänglichkeit für die Vielfalt der Naturerscheinungen hinaus, darin war Schiller einzigartig.