Die Zeitschrift Ibykus versucht die humanistische Tradition der Universalgeschichte lebendig zu erhalten, und befindet sich mit diesem Anliegen natürlich in einer Opposition zum Zeitgeist. Zu den Grundprinzipien dieser Tradition gehörte jahrhundertelang die Aufgabe der Regierung, den moralischen Charakter der Bevölkerung durch eine Vielzahl von Angeboten zu verbessern. Wilhelm von Humboldt und das nach ihm benannte Bildungssystem, dessen Ziel der schöne Charakter war, übten in diesem Sinn einen nachhaltigen Einfluß aus nicht nur in Deutschland, sondern auch in den Erziehungssystemen vieler Länder der Welt, besonders in den USA bis zum Eintritt der USA in den Ersten Weltkrieg auf der Seite Großbritanniens. In Europa wurde die Bedeutung Humboldts erst mit der Erziehungsreform der OECD von 1970 beendet.
Eine der bekanntesten Darstellungen dieser Thematik stammt von dem italienischen Maler Ambrogio Lorenzetti, der 1338–39 den Freskenzyklus mit den Effekten von guter und schlechter Regierung im „Saal der Neun“ des alten Rathauses von Siena schuf. Wenn man diese Allegorie auf die heutigen Regierungen anwendet, stellt man eine für viele vielleicht überraschende Paradigma-Verschiebung fest. Der chinesische Präsident Xi Jinping hat wiederholt die außerordentliche Bedeutung der ästhetischen Erziehung für Schüler und Studenten als Voraussetzung für die Entwicklung eines schönen Geistes betont, die wiederum die Vorbedingung für die Schaffung neuer großer Kunstwerke sei. Vor kurzem verfügte die chinesische Regierung, daß Jugendliche nur noch drei Stunden pro Woche Zugang zu Internet-Spielen haben, und bezeichnete dabei die durch exzessive Beschäftigung mit digitalen Geräten aller Art entstehende Abhängigkeit als „spirituelles Opium“. Schon einige Jahre zuvor verbot die chinesische Medienbehörde Hip-Hop und Rap, mit dem Argument, daß in diesen Musikrichtungen ein degradiertes Frauenbild vermittelt würde.
Die westlichen Medien haben sich angewöhnt, solche Meldungen aus China damit zu kommentieren, daß all dies noch ein weiterer Beweis dafür sei, daß China immer autokratischer werde, daß die freie Entfaltung der Bürger zunehmend unterdrückt werde, und – natürlich – wie unvergleichlich viel besser die Werte des freien Westens im Vergleich mit Diktaturen wie Rußland und China doch seien. Aber wird diese vermeintliche Freiheit nicht mit Zügellosigkeit bzw. Gesetzesfreiheit verwechselt?
Laut eines Berichtes des „Beijing Children’s Legal Aid and Research Center“ vom August dieses Jahres berichteten 90 Prozent der Eltern, daß ihre Kinder durch eine Abhängigkeit von Internet-Spielen signifikante Veränderungen in ihren Stimmungen und sogar ihrer Persönlichkeit entwickelten, einige sogar soweit, daß sie anscheinend eine völlig andere Person geworden waren. Minderjährige hätten nach diesen Beobachtungen die Tendenz, die in den Spielen vorherrschende Gewalt und das blutrünstige Verhalten zu imitieren, und es wird von Fällen berichtet, wo Jugendliche nach stundenlangen Sitzungen in der virtuellen Spielwelt auch im realen Leben gewalttätig wurden. Eine ähnliche Debatte ist in den USA nach den schon zur Routine gewordenen „schoolshooter“-Vorfällen seit langem im Gange, ohne daß es der Regierung allerdings eingefallen wäre, den Zugang zu den Internet- und Video-Spielen zu beschränken.
Da sich die kommende mögliche sogenannte „Ampel“-Koalition in Deutschland weitgehend einig zu sein scheint, was die Legalisierung von Marihuana betrifft, sollte man sich schleunigst die Erfahrungen ansehen, die mit dieser Politik in den USA gemacht worden sind. Nachdem dort in Dutzenden Bundesstaaten diese Drogen legalisiert wurden, sind die Ergebnisse vor allem für Jugendliche und junge Erwachsene, also die demographischen Gruppierungen, deren Gehirn sich noch in der Entwicklung befindet, verheerend. Es seien hier nur folgende Konsequenzen genannt: Häufung von mit Marihuana-Konsum im Zusammenhang stehenden Verkehrsunfällen, steigende Mengen von „legal“ gekauften Drogen, die trotzdem mit noch gefährlicheren Substanzen verunreinigt waren, steigende Krankenhaus-Einweisungen, massiver Anstieg von Straftaten, ein Anstieg um 25 Prozent von „Cannabis Use Disorder“ in der Altersgruppe der 12–17jährigen in den „legalen“ Staaten, ein fast siebenfacher Anstieg von Konsumenten in der Gruppe der Acht- bis Zwölfklässler. Die Beispiele USA und Holland sind der eklatante Beweis, daß die Drogenlegalisierung das kognitive Potential der gegenwärtigen und kommenden Generationen nachhaltig zerstört und nur der Drogenmafia und der Finanzoligarchie nützt.
Der russische Außenminister Sergej Lawrow hatte schon 2021 in seiner jährlichen Pressekonferenz die qualitative Veränderung der westlichen Werte kommentiert, die der Westen pausenlos in alle nicht-westliche Staaten zu exportieren versuche. Diese Werte seien offensichtlich nicht mehr die Werte, die den Europäern von ihren Großeltern bekannt seien, sondern folgten dem Prinzip „Alles ist erlaubt“. Sie unterschieden sich radikal von jenen Werten, die in Rußland seit Jahrhunderten von Generation zu Generation überliefert würden, die man in seinem Land immer noch hochhalte und an künftige Generationen weitergeben wolle. Wenn der Westen nun verlange, daß sein Land und viele andere diese neuen, man könnte sagen „nachchristlichen“ Werte akzeptieren sollten, einschließlich grenzenloser sexueller Freizügigkeit und einer Liberalisierung aller Aspekte des menschlichen Lebens, sei dies ebenso ungehörig wie inakzeptabel.
Die illusionäre Arroganz der Kreise, die mit Francis Fukuyama den Zerfall der Sowjetunion gleich zum „Ende der Geschichte“ erklärten, sollte Anlaß zur Reflexion einiger der Prämissen des westlichen Denkens geben. Hinter dieser anmaßenden These stand die Vorstellung, daß sich mit dem Scheitern des Sowjetkommunismus augenblicklich das westliche Demokratiemodell über die ganze Welt ausbreiten würde. Gut dreißig Jahre später ist es eher das westliche liberale Modell einer „regelbasierenden Ordnung“, das sich als unausführbar erweist. Das vielleicht gravierendste Beispiel für die irregeleitete Intention, das westliche Demokratiemodell anderen Kulturen aufzuzwingen, ist das desaströse Scheitern der stärksten Militärmacht der Welt – der USA und der NATO – in Afghanistan, die in zwanzig Jahren Krieg nicht gegen 65.000 Taliban-Kämpfer gewinnen konnten. Bisher vermißt man eine ernsthafte Aufarbeitung, warum dieser Krieg, der von Anfang an falsch definiert war, so grandios verloren wurde. Wie spätestens durch die 2019 von der Washington Post veröffentlichten „Afghanistan Papers“ offensichtlich wurde, hatten die führenden Militärs nicht den leisesten Dunst von der Kultur Afghanistans oder den politischen Kräften, mit denen sie es zu tun hatten.
Für einen wirklichen Dialog der Kulturen
Es ist also höchste Zeit, ein anderes Verhältnis zu den anderen Kulturen dieser Welt zu entwickeln. Anstatt jedes Mal, wenn eine dieser anderen Nationen es ablehnt, die letzte Variante von „Woke“-Kultur, LGBTQ+ oder das Gendering ihrer Sprache zu übernehmen, dieses Land als diktatorische Autokratie zu denunzieren, sollte man sich lieber um einen wirklichen Dialog der Kulturen bemühen, um zu verstehen, aus welcher kulturellen Tradition diese Länder kommen. Für das friedliche Zusammenleben auf dieser Erde wäre eine solche Herangehensweise mit Sicherheit zielführender.
Und hier kommen wir zur eigentlichen Crux der Sache. Wer einen Dialog der Kulturen führen will, muß seine eigene Hochkultur kennen. Wer in den letzten Jahren in Asien gereist ist, wird festgestellt haben, daß viele Kulturen dort nicht nur davon ausgehen, daß das 21. Jahrhundert das asiatische und Asien der Motor der Weltwirtschaft und des wissenschaftlichen und technologischen Fortschritts sein werde, sondern daß diese Staaten auch mit großem Stolz ihre zum Teil 5000 Jahre alten Kulturen für ihre Bevölkerung lebendig machen. Kulturgüter werden liebevoll und aufwendig restauriert, Bauwerke, Skulpturen, Malereien, Buchkunst etc. durch Digitalisierung weit über den Kreis der Besucher vor Ort zugänglich gemacht, Dichtkunst und Malerei befördert und generell die ästhetische Erziehung der Bevölkerung in den Mittelpunkt des sozialen Lebens gestellt.
In Deutschland und in den USA gibt es natürlich all das auch – mit einem wesentlichen Unterschied: Die Beschäftigung mit der klassischen Hochkultur ist nicht etwas, womit die allgemeine Bevölkerung beschäftigt ist. Man braucht sich nur die Unterhaltungssendungen der öffentlich-rechtlichen Fernsehanstalten von Helene Fischer bis den unsäglich idiotischen Quiz-Sendungen anzusehen, von den privaten Sendern gar nicht erst zu reden. Dahinter stehen natürlich ebenso wie bei der Drogenlegalisierung die harten Interessen der Finanzoligarchie. Die klassische Kultur hingegen ist bestenfalls auf diversen Musikfestivals zu erleben, dann allerdings zu Eintrittspreisen, die für normal verdienende Familien mit zwei Kindern kaum erschwinglich sind. Es gibt Chöre, exzellente Ausstellungen in Museen – aber es gibt eben sehr viel mehr vom Regietheater ruinierte Aufführungen und als Kunst deklarierte Ausgeburten der Häßlichkeit.
Das Problem besteht nicht darin, daß die sogenannten „autokratischen“ Staaten die tollen westlichen Werte ablehnen, sondern darin, daß wir in Europa und den USA uns von unserer eigenen Hochkultur meilenweit entfernt haben. Dabei wäre es so einfach, an den großartigen Ideen der andalusischen, italienischen und deutschen Renaissance, der französischen Ècole Polytechnique und der deutschen Klassik wieder anzuknüpfen und darauf aufbauend, etwas Neues zu schaffen. Es wäre so einfach – wir müssen nur genügend viele Menschen dazu motivieren, ihre Bücher- und Musikschränke zu öffnen, die Bibliotheken zu nutzen, ihren Geist wieder auf die Schätze unserer Kultur zu konzentrieren, und der erste Schritt zu einer neuen Renaissance wäre getan.
Der Ibykus sieht es als seine Aufgabe an, den Lesern eben diese Anregung zu geben, sich mit den Autoren der Weltliteratur, den bahnbrechenden Denkern aller Epochen und all jenen großen Geistern zu beschäftigen, die uns die Kraft geben können, das Mittelmaß und die Verworfenheit der Gegenwart zu überkommen.