In diesem Jahr war das Cello-Festival in Kronberg, das alle zwei Jahre unter der Schirmherrschaft von Marta Casals Istomin, der Witwe des legendären spanischen Cellisten Pablo Casals, durchgeführt wird, dem 75. Geburtstag des bedeutenden ungarischen Cellisten Janos Starker gewidmet. Starker, der 1946 aus politischen Gründen über Frankreich in die USA emigrierte, war zunächst Solocellist (in Dallas unter Antal Doráti, und an der New Yorker Met sowie in Chicago unter Fritz Reiner) großer amerikanischer Orchester; seit dem Ende der 50er Jahre konzentrierte er sich auf eine Solistenkarriere, die ihn auf alle Konzertpodien der Welt führte und ihm auch viele renommierte Schallplattenpreise einbrachte. Starker arbeitete mit allen führenden Orchestern und Dirigenten der Welt zusammen; seine zahlreichen Sonatenabende bestritt er u. a. mit dem polnischen Pianisten Mieczyslaw Horszowski, dem Japaner Shigio Neriki und dem Deutschen Günter Ludwig, der ihn fast 30 Jahre lang bei seinen Konzerten in Europa „begleitete“. Gleichzeitig widmete Starker sich aber auch mit großem Engagement der Ausbildung des Nachwuchses, wobei ihm die Professur an der Musikschule der Universität Indiana in Bloomington, wo er auch heute noch unterrichtet, die besten Voraussetzungen bot.
Starker, der bereits mit neuneinhalb Jahren an der Budapester Musikakademie aufgenommen wurde und 1939 als fünfzehnjähriger mit einer aufsehenerregenden Aufführung der außerordentlich schwierigen Solosonate von Zoltan Kodály debütierte, gehört zu den bedeutendsten Cellisten dieses Jahrhunderts und gilt als großer Lehrer seines Fachs. Seine Meisterklassen in Kronberg hatten außerordentlichen Zulauf – sowohl von „schockierend guten“ (Starker) Nachwuchscellisten, als auch von interessierten Zuhörern. Im Anschluß an eine Podiumsdiskussion über die Probleme bei der Ausbildung junger Musiker am 24. Oktober hatte Ibykus Gelegenheit, mit Starker ein Gespräch zu führen; mit ihm unterhielten sich Ortrun und Hartmut Cramer.
Während Ihrer Meisterklasse heute morgen hatten Sie einem Studenten bei der Einstudierung der Kodály-Solosonate etwas klargemacht, was uns als Zeitschrift für Poesie, Wissenschaft und Staatskunst natürlich besonders interessiert: Sie hatten diesen jungen, ganz ausgezeichneten Cellisten auf die Bedeutung der Betonung in der ungarischen Sprache hingewiesen – grundsätzlich wird die erste Silbe betont –, und daß sich daraus natürlich entsprechende Konsequenzen für die Phrasierung, d. h. die Interpretation der ungarischen Musik ergeben. Auch heute Nachmittag bei der Podiumsdiskussion mit Ihren Kollegen klang das noch einmal in Bezug auf die russische Musik – den „russischen Akzent“ – an. Könnten Sie das näher erläutern?
Musik ist eine Sprache; wenn zum Beispiel französische Musik gespielt wird, dann klingt das etwa so ähnlich, wie die Franzosen sprechen. Allerdings sind die wichtigsten musikalischen Grundlagen von Bach, Mozart, Beethoven, Brahms und anderen großen klassischen Komponisten gelegt worden. Was das Verhältnis von Sprache und Musik betrifft, so ist das für die ungarischen Musiker sehr einfach zu verstehen, denn wir Ungarn akzentuieren in der Regel die erste Silbe eines Wortes; auf dieser Silbe liegt also das Gewicht. Diese Tatsache wird oft als Beantwortung der Frage angeführt, wieso es möglich ist, daß so ein kleines Land wie Ungarn mehrere große Komponisten und viele berühmte ausübende Musiker – meistens Dirigenten, Pianisten, Geiger und Cellisten – hervorgebracht hat. Ich glaube, das hat tatsächlich damit zu tun, daß wir viel einfacher die Prinzipien des Musizierens verstehen können.
Wegen der ungarischen Sprache?
Ja, wegen der Besonderheiten unserer Sprache. Und außerdem hatten wir die einmalige Chance, von den größten Musikern unterrichtet zu werden; von Musikern, die teilweise noch Brahms persönlich gekannt haben, aber auch Liszt und andere. Deshalb können wir ungarische Musiker behaupten, daß wir über diese Komponisten eine direkte Verbindungslinie mit Beethoven haben.
Wenn wir in Bezug auf die Sprache noch einen Schritt weitergehen, und uns auf die poetische Sprache, die Poesie, konzentrieren: Die Musik ist ja eine Form von poetischer Sprache, nicht der Alltagssprache, wie sie sich vielleicht in der Rap-Musik äußert…
…um den poetischen Inhalt in der Musik auszudrücken, benutzen wir meistens das, worüber ich gestern bei meiner Klasse gesprochen habe, die Agogik. Das bedeutet, daß bei einem gespielten Vierertakt die vier Schläge nicht alle vier gleich – d. h. gleichwertig – sind, sondern unterschiedlich betont werden, wenn auch die Gesamtzeit dieses Taktes genau eingehalten werden muß! Weitet man das Ganze auf eine längere Phrase aus, nennen wir das Rubato. Das ist allerdings problematisch, denn wenn der Künstler sich dabei in einen bestimmten Ton oder Klang „verliebt“ und dabei die Taktwerte – manchmal sogar um einen ganzen Schlag – verlängert, dann ist das nicht etwa „frei“, sondern falsch. Das hören wir zwar oft, und manchmal ist es für das Publikum auch sehr ansprechend, aber es ist trotzdem falsch. Natürlich ist das auch eine Disziplinfrage.
Wir wollten auf den Aspekt hinweisen, daß bei der poetischen Sprache, bei einem Gedicht, der Sinngehalt nicht in den Worten liegt, sondern „hinter“ den Worten, und daß ein Musiker – wie Furtwängler es formulierte – nicht die Noten spielt, sondern „das, was zwischen den Noten liegt“.
Die einzige Art, wie ich das von Ihnen Gesagte beschreiben kann, ist so: Ein musikalisches Werk ist ein Entwicklungsprozeß mit einem bzw. mehreren Höhepunkten. Und da ist es nicht nur wichtig, den Höhepunkt zu erreichen, sondern auch das nicht auszulassen, was unterwegs passiert. Dabei gibt es meistens Probleme. Wenn man jung ist, dann will man unbedingt schnell ankommen; wenn man älter wird, dann ist…
…der Weg das Ziel…
…genau. Und außerdem müssen wir, wenn wir den Höhepunkt erreichen, auch daran denken, was nachher passiert. Denn wenn wir fortwährend Höhepunkte spielen, dann haben wir zum Beispiel in einer Tschaikowskij-Sinfonie immer nur Höhepunkte und sonst nichts.
Wir möchten Sie gerne zu Ihrer persönlichen künstlerischen und intellektuellen Entwicklung befragen. Sie haben ja des öfteren beschrieben, daß Ihr wichtigster Lehrer der Komponist Leó Weiner gewesen ist. Und da gibt es das berühmte Paradox – das wir Sie bitten möchten für unsere Leser noch einmal zu beschreiben, da Leó Weiner hier in Deutschland, zumindest heute, kaum bekannt ist; also das Paradox, daß er einer der bedeutendsten Lehrer, andererseits eigentlich aber weder Pianist, noch Cellist, noch Geiger war. Können Sie das erläutern?
Leó Weiner war ein musikalisch Großer. Er war der disziplinierteste Musiker, den wir in Ungarn je gekannt haben, und zu seinen Schülern gehörten immerhin solch berühmte Dirigenten wie Solti, Doráti, Ormandy und Fritz Reiner. Ich kann mich nur immer wiederholen: Weiner hat uns darin unterrichtet, wie man Musik hören, was man darin suchen und worauf man dabei achten muß. Viele haben beobachtet und darüber geschrieben, daß Weiner die verschiedenen Instrumente nur schlecht bzw. gar nicht spielen konnte. Wenn er uns Schülern zum Beispiel auf dem Klavier zeigen wollte, wie eine Passage gespielt werden mußte, dann hat er damit angefangen, in unserem Beisein diese Stelle zu üben, und erst beim vierten oder fünften Mal war er zufrieden: „Ja, so müßte das klingen“.
Erst dann sagte ihm der Ausdruck zu?
Ja, auf diese Weise haben wir gelernt, Musik zu interpretieren. Wir konnten miterleben, wie er durch dieses oftmalige Probieren den richtigen musikalischen Ausdruck gesucht und gefunden hat; dabei wurde uns klar, daß man Musik nicht so spielen darf, daß das Ende einer Phrase oder Note gewissermaßen mit einem Vokal endet, sondern immer mit einem Konsonanten enden muß. Quasi wie beim Pedal des Klaviers. Leider haben das die meisten Menschen nicht gelernt. Deshalb sage ich immer, daß man zuerst die Buchstaben lernen muß, aus denen dann die Silben gemacht werden; daraus entstehen dann die Wörter, mit denen daraufhin Sätze gebildet werden. Erst dann können wir daran denken, Poesie zu schreiben.
Man kann nicht sofort mit der Poesie anfangen. Das ist nicht mein Weg. Meist ist es jedoch umgekehrt; da kommt der Lehrer und sagt dem Musikstudenten: „Denk an einen grünen Baum“, oder: „Denk daran, daß die Sonne scheint“. So Musik zu empfinden bzw. zu unterrichten, ist nicht meine Natur. Mein Zugang ist dagegen: „Achte darauf, was am Ende der Note bzw. Phrase passiert; was zwischen den Noten passiert, und wenn Du dabei eine poetische Idee in Deinem Kopf hast bzw. entwickelst, dann bist Du in der Lage, den richtigen musikalischen Ausdruck zu finden. Denn dann kennst Du den Weg, um zu dem von Dir angestrebten Ziel zu gelangen.“
Damit Sie eine Idee von einem Stück bekommen, was hat Weiner Ihnen im wesentlichen beigebracht?
Ich kam zu ihm als Cellist, als „Wunderkind“. Das erste Mal, als ich bei ihm Unterricht in Kammermusik hatte – damals war ich 12 Jahre alt –, spielte ich ihm zusammen mit einem Klavierstudenten die 2. Cellosonate von Beethoven vor. Nachdem er sich zuerst eingehend mit dem Pianisten beschäftigt hatte, forderte er mich auf, das Thema auf der D-Saite zu spielen. Ich platzte heraus: „Das ist aber sehr schwierig!“ Worauf er mich mit den Worten nach Hause schickte: „Dann übe!“ Das war meine erste Stunde bei Leó Weiner; eine Lektion fürs Leben! Denn seitdem wähle ich bei musikalischen Problemen nie eine Lösung, die technisch bequemer ist, sondern immer die musikalisch notwendige.
Weiner wurde ja vor allem als Vermittler musikalischer Ideen gerühmt. Schwerpunkt seiner Lehrtätigkeit war die Kammermusik; er führte die systematische Ausbildung von Bläserensembles ein und brachte seinen Studenten bei, in einem Kammerorchester diszipliniert ohne Dirigenten zu spielen. Seine große Liebe, vor allem in seinen letzten Jahren, war jedoch das klassische Streichquartett. Haben Sie auch das bei ihm studiert?
Ja, jahrelang Streichquartett; dann Trios und Sonaten.
Was waren Weiners musikalische Vorbilder?
Die großen klassischen Komponisten. Man könnte sagen, daß Weiner – musikalisch gesprochen – nie im 20. Jahrhundert ankommen wollte. Als ihm eine Komposition von Strawinskij oder einem damals ähnlich „modernen“ Komponisten vorgelegt wurde, warf er nur kurz einen Blick darauf und sagte: „Nein, Danke! Was habt ihr sonst noch?“ Maßstab aller Musik waren für ihn Mozart, Beethoven, Schubert, Schumann etc.
Wo und wie ist Weiner ausgebildet worden?
In Budapest, wo er Schüler des berühmten Hans Koeßler war, der zu Brahms Freundeskreis gehört hatte und seinerzeit als Professor für Komposition an der Akademie lehrte. In derselben Klasse wie Weiner saßen übrigens auch Ernst von Dohnányi, Béla Bartók und Zoltan Kodály. Bei einem Kompositionswettbewerb, bei dem Werke ohne Namen des Komponisten eingereicht wurden, hat Weiner den ersten Preis bekommen; seine Arbeit wurde also besser bewertet, als die der drei anderen. Aber bei Weiner war es in einem gewissen Sinne wie bei Casals; als Casals 1915 von Kodály persönlich dessen Solosonate bekommen hat, sagte er ihm: „Ich bin zu alt dafür!“
Eine ähnliche Haltung hatte auch Weiner, der im klassischen Stil schrieb. Es hat jahrelang – ich glaube, sechs Jahre – gedauert, bis seine Werke gedruckt wurden.
Abschließend noch zu einem Problem, das während der Podiumsdiskussion angesprochen wurde; daß das Entscheidende bei der Ausbildung der Berufsmusiker darin besteht, sich nicht nur auf die musikalische Erziehung und Ausbildung der Schüler zu konzentrieren, sondern ihnen auch ein gutes Fundament in der Allgemeinbildung zu geben.
Das wurde leider nur erwähnt, darüber haben wir viel zu wenig gesprochen. Ich habe des öfteren darauf hingewiesen, daß die sog. musikalischen „Wunderkinder“ meist auch hervorragende Fähigkeiten auf anderen Gebieten haben; doch muß man dies Potential auch entwickeln. Das Wichtigste ist natürlich die Ausbildung der Vernunft; aber auch die Erziehung in Geschichte – vor allem Kunstgeschichte –, Sprachen etc. Zum Beispiel ist es nicht genug, wenn ein elfjähriges Mädchen von Korea nach Bloomington kommt mit der einzigen Qualifikation, alle 24 Paganini-Etüden spielen zu können. Deshalb mache ich mir Sorgen, was mit den Kindern passiert, die zum Beispiel hier bei diesem Festival in Kronberg hervorragen. Als „Slava“ [Rostropowitsch] einem zwölfjährigen koreanischen Kind den ersten Preis gegeben hat, hat mich das mit Sorge erfüllt. Denn diese Kinder sofort Konzerte spielen zu lassen, ist nicht richtig. Ich bin gegen „Wunderkinder“, obwohl ich selbst eines war; doch bin ich niemals als „Wunderkind“ ausgebeutet worden.
Noch eine allerletzte Frage: Wie beurteilen Sie heute das Problem der Akzeptanz großer klassischer Musik? Es wird für die klassische Musik ja immer schwieriger, sich gegen die Unterhaltungsmusik zu behaupten, so daß – wie vorhin in der Diskussion anklang – selbst ernsthafte Pädagogen für das sog. „Crossover“, also die Vermengung von Popmusik und klassischer Musik, plädieren. Wie stehen Sie dazu?
Diese Frage zieht sich durch die ganze Geschichte von Kunst, sowohl der Musik als auch der Malerei. Zu keiner Zeit hat sich mehr als ein Prozent der Bevölkerung für klassische Kunst interessiert. Alles, was wir in einem ganzen langen Künstlerleben versuchen, ist, aus diesem einen Prozent zwei zu machen; und das ist immerhin eine Steigerung um hundert Prozent! Es ist ganz egal, wieviele Konzerte wir spielen, wie engagiert wir argumentieren und was wir als Künstler sonst noch tun: mehr können wir nicht erreichen! In Deutschland gab es eine Zeit, wo an einigen ausgewählten Plätzen bis zu fünf Prozent der Bevölkerung zu Hause musiziert haben oder ins Opernhaus gegangen sind. Auch in Israel gab es Momente, wo dieser Prozentsatz ebenfalls fünf, manchmal sogar sechs Prozent erreichte – aber nur dann, wenn Künstler und Intellektuelle in großen Scharen aus Europa eingewandert sind. In solchen Fällen mußten dann berühmte Musiker aus Übersee bis zu sechsmal in großen Sälen das gleiche Programm spielen.
Doch normalerweise – und das läßt sich leicht nachprüfen –
überstieg der Anteil der Menschen, die sich in einem Land für klassische Kunst interessieren, nicht die Marke von zwei Prozent. Aus diesen einen oder zwei Prozent der Gesamtbevölkerung rekrutiert sich die heutige Zuhörerschaft bei klassischen Konzerten; allerdings mit dem Unterschied, daß wir heute – auch relativ – dreimal so viele ausgebildete Musiker haben wie früher. Da spielt natürlich die soziale Lage eine große Rolle; die Eltern kümmern sich darum, daß ihre Kinder Musik lernen, und zwar oft mit dem Ziel, daß sie unbedingt Berufsmusiker bzw. berühmte Solisten werden. Früher war die treibende Kraft in diesen Fällen praktisch immer die jüdische Mutter – jetzt sind es die koreanischen und chinesischen Mütter. Der Grund ist offensichtlich: Erfolge in Musik und Wissenschaft ermöglichen diesen Menschen einen sozialen Aufstieg, der ihnen sonst verwehrt wäre.