Nach einer Unterbrechung von 14 Jahren sind wir hocherfreut, unsere Kulturzeitschrift Ibykus wieder neu herausgeben zu können, die bereits 25 Jahre lang von 1981 bis 2006 erschienen war. Damit bieten wir unseren Lesern ein Magazin, das sich mit den Prinzipien der klassischen Kunst auseinandersetzt und die Hochphasen der Kultur in den verschiedenen Epochen der Universalgeschichte behandelt – also auch in sehr unterschiedlichen Kulturkreisen.
Die nunmehr einjährige Erfahrung mit der Coronavirus-Pandemie läßt die Beschreibungen Boccaccios im Decameron über die Schrecken des 14. Jahrhunderts in einem neuen Licht erscheinen. Rückblickend kann es für die Gegenwart zuversichtlich stimmen, daß damals auf das dunkle Zeitalter der Pest und des Aberglaubens die Goldene Renaissance des 15. Jahrhunderts folgte, die das Fundament für die folgenden 600 Jahre der europäischen Zivilisation legte.
In der italienischen Renaissance waren mehrere Aspekte aufeinander getroffen, die eine völlig neuartige Blüte in Kunst und Wissenschaft hervorriefen, und genau aus diesem Beispiel können wir Inspirationen für uns heute gewinnen. Einer dieser Aspekte war die von den damaligen Humanisten um Petrarca erhobene Forderung nach einer Rückkehr zu den ursprünglichen Quellen, also den Originalschriften der großen Denker, und ein anderer die Berührung mit der griechischen Antike und dem Werk Platons, das von der Delegation der griechisch-orthodoxen Kirche bei den Konzilien von Ferrara und Florenz mitgebracht wurde. Platons Schriften waren nach dem Untergang des antiken Griechenlands in Europa rund 1700 Jahre lang so gut wie verschollen gewesen, und ihre Verbreitung traf mit den revolutionären neuen Ideen des Nikolaus von Kues und anderer Denker der Renaissance, wie Filippo Brunelleschi, dem Architekten der berühmten Kuppel des Florenzer Doms, oder Leonardo da Vinci zusammen. In diesem Sinn gehen wir davon aus, daß die heute dringend notwendige Renaissance der klassischen Kultur nur möglich sein wird, wenn wir uns die größten Kunstwerke in der Dichtung, Musik und den bildenden Künsten wieder neu erschließen.
Es ist allerdings nicht zu leugnen, daß sich die westliche Kultur schon vor Ausbruch der heutigen Pandemie seit langem im Niedergang befindet. Ohne hier auf alle Phasen dieser Entwicklung seit dem Angriff der Romantik auf die deutsche Klassik eingehen zu wollen, sei nur auf die von den USA in den 1980er Jahren ausgehende gezielte political correctness verwiesen, die die Weichen für die Verbreitung eines gähnenden Mittelmaßes stellte und so jegliche Originalität und Kreativität einebnete und nivellierte.
Inzwischen ist die Machtausweitung der neuen Gedankenpolizei soweit fortgeschritten, daß die Vorstandschefs einer Handvoll von IT-Giganten des Silicon Valley eigenmächtig unliebsame politische Strömungen zensieren und damit die Redefreiheit einschränken können.
Das Gerechtigkeitsprinzip Ibykus
Nicht zuletzt deshalb halten wir für unsere Zeitschrift an dem Namen Ibykus fest, der Schillers Gedicht Die Kraniche des Ibykus entlehnt ist und der auf das naturrechtliche, verborgen wirkende Prinzip der Gerechtigkeit hinweist.
Friedrich Schiller hatte auf das Scheitern der Französischen Revolution mit seiner Theorie der ästhetischen Erziehung reagiert, die davon ausging, daß jegliche Verbesserung im Politischen nur durch die Veredlung des Individuums möglich sein würde. Er betrachtete die Ausbildung des Empfindungsvermögens, die Erziehung der Emotionen auf die gleiche Ebene wie die der Vernunft, als das dringlichste Erfordernis seiner Zeit.
Da diese Verbesserung seiner Ansicht nach weder von den korrupten, erschlafften Regierungen noch von den verwilderten Massen ausgehen konnte, wies er der klassischen Kunst diese Aufgabe zu. Damit die Kunst diesen Effekt haben kann, muß sie das Kriterium der Schönheit erfüllen. Nur so kann sie eine versöhnende Rolle zwischen der Vernunft und dem Reich der Sinne spielen.
Schiller lehnte die Sichtweise Kants ab, der einen objektiven Schönheitsbegriff bestritt und das Schöne nur im wahrnehmenden Subjekt lokalisierte. Er setzte dieser einen Schönheitsbegriff aus der Vernunft entgegen, der durch die Erfahrung zwar bestätigt werden konnte, aber ihrer nicht bedurfte, um seine Gültigkeit zu beweisen. „Schönheit ist also nichts anderes als Freiheit in der Erscheinung“, schrieb er am 8. Februar 1793 an seinen Freund Körner, und später: „Die große Idee der Selbstbestimmung strahlt uns aus gewissen Eigenschaften der Natur zurück, und diese nennen wir Schönheit.“ Kunst, wenn sie diesen Namen verdienen soll, muß schön sein, weil sie nur so den gesetzmäßigen Effekt auf den Menschen hat. In der Vorrede zur Braut von Messina mit dem Titel „Über den Gebrauch des Chors in der Tragödie“ schreibt er:
„Die wahre Kunst aber hat es nicht bloß auf ein vorübergehendes Spiel abgesehen; es ist ihr Ernst damit, den Menschen nicht bloß in einen augenblicklichen Traum von Freiheit zu versetzen, sondern ihn wirklich und in der Tat frei zu machen, und dieses dadurch, daß sie eine Kraft in ihm erweckt, übt und ausbildet, die sinnliche Welt, die sonst nur als ein roher Stoff auf uns lastet, als eine blinde Macht auf uns drückt, in eine objektive Ferne zu rücken, in ein freies Werk unseres Geistes zu verwandeln und das Materielle durch Ideen zu beherrschen.“
Es ist diese unbestreitbare Wirkung der Kunst, die gegen die geistigen Verrenkungen des Zeitgeists wie dem Regietheater oder z. B. der Atonalität verteidigt werden muß. Und deshalb lag auch Kant mit seiner Theorie, daß eine zufällig an die Wand geworfene Arabeske schöner sei als ein Kunstwerk, bei dem man den Plan des Künstlers entdecken könne, vollkommen daneben.
Wir widmen die erste Ausgabe der Neuauflage des Ibykus Beethoven – nicht nur, weil das Beethoven-Jahr wegen COVID-19 verlängert werden sollte, bis die vielen abgesagten Konzerte und Feierlichkeiten nachgeholt werden können, sondern weil Beethoven wie kein anderer klassischer Komponist die von Schiller erwähnte Kraft im Menschen freisetzt, die ihn wirklich frei macht. Seine Werke eröffnen dem Zuhörer den direkten Zugang zu jener Fakultät seines eigenen Geistes, aus der die Kreativität entsteht, und sie haben zudem jene erhebende Wirkung, die wir angesichts der beispiellosen Herausforderungen unserer Gegenwart so sehr bedürfen.
Natürlich ist es vor allem das Spielen und Hören von Beethovens Musik, die diesen wohltuenden Effekt hat. Aber auch die intellektuelle Beschäftigung mit den musikalischen Ideen, den historischen Hintergründen der Kompositionen und der außergewöhnlichen Persönlichkeit Beethovens erschließen ein tieferes Verständnis der Musik und steigern so das geistige Vergnügen. Im Raum steht das Urteil Norbert Brainins, Primgeiger des berühmten Amadeus-Quartetts, der Beethoven als den größten Künstler aller Zeiten ansah. Beethoven hat nicht nur in seinen verschiedenen Werken, Sonaten, Klavierkonzerten, seinem Violinkonzert, den Sinfonien, der Oper Fidelio, den Liedern meist Unerreichtes komponiert; besonders aber repräsentieren seine späten Streichquartette mit ihrer stringenten vierstimmigen Motivführung eine im Grunde nicht mehr zu steigernde Klasse für sich.
Beethoven an die Seite gestellt werden muß allerdings Friedrich Schiller, der – wie Wilhelm von Humboldt richtig erkannte – eine eigene einzigartige Kategorie repräsentiert, die Dichtung und Philosophie zu einem höheren Ganzen verwebt. In der Schrift Über Schiller und den Gang seiner Geistesentwicklung urteilte Humboldt:
„Über den Begriff der Schönheit, über das Ästhetische im Schaffen und Handeln, also über die Grundlagen aller Kunst so wie über die Kunst selbst, enthalten diese Arbeiten alles Wesentliche auf eine Weise, über die niemals möglich sein wird, hinauszugehen… Niemals vorher sind diese Materien so rein, so vollständig und lichtvoll abgehandelt worden. Es war aber damit unendlich viel nicht bloß für die sichere Scheidung der Begriffe, sondern auch für die ästhetische und sittliche Bildung gewonnen. Kunst und Dichtung waren unmittelbar an das Edelste im Menschen geknüpft, dargestellt als dasjenige, woran er erst zum Bewußtsein der ihm innewohnenden, über die Endlichkeit hinaus strebenden Natur erwacht.“
Wie der geneigte Leser an diesen Ausführungen und ausgewählten Zitaten erkennen kann, vertritt Ibykus einen Blickpunkt, der sich ganz bewußt an Ideen orientiert, von denen sich der heutige Zeitgeist meilenweit entfernt hat. Aber wenn wir von der Italienischen Renaissance lernen können, an vergangene Hochphasen der Kultur anzuknüpfen, wenn man ein dunkles Zeitalter überwinden will, dann tun wir in Corona-Zeiten gut daran, uns auf die klassischen Perioden unserer eigenen und der Universalgeschichte zu beziehen, in der Hoffnung, daß dadurch neue Visionen und eine neue Renaissance inspiriert werden.