Lyndon LaRouche hielt die folgende Rede am 5. November 2002 in Saltillo, Mexiko, auf der Simulcast-Konferenz bei der Autonomen Universität Coahuila. Er wurde dabei von Jesus Ochoa Galindo, dem Dekan der Universität, vorgestellt, der sagte: „Die Globalisierung ist ein strategisches Phänomen, aber wohin führt sie uns? Zu diesem speziellen Thema stelle ich Ihnen den renommierten Wirtschaftswissenschaftler und ehemaligen Kandidaten für die US-Präsidentschaft Lyndon LaRouche jr. vor. Niemand kann die wirtschaftlichen Aspekte des Phänomens der Globalisierung und die Vorwegnahme von Veränderungen der aktuellen Tendenzen besser behandeln als Herr LaRouche.“ Wir veröffentlichen seinen Vortrag, weil er eindringlich die Lage des globalen Südens Anfang der 2000er Jahre schildert und bereits damals die Richtung aufzeigt, die die BRICS, die SCO, die ASEAN und viele afrikanische Länder heute einschlagen.
Ich werde vier Themenbereiche ansprechen, die miteinander verbunden sind. Erstens werde ich die systemischen Merkmale der Krise aufzeigen. Zweitens werde ich die Ursachen dieser systemischen Krise benennen. Drittens werde ich die Lösungen für die Krise aufzeigen, wobei der Schwerpunkt auf Mexiko und den Vereinigten Staaten liegt. Zuguterletzt werde ich mich der Frage zuwenden, welche Rolle die Institutionen in dieser Krise spielen, d. h. das wirtschaftliche Versagen der internationalen Institutionen und insbesondere der Vereinigten Staaten, vor allem in der Zeit von 1964 bis heute. Es ist offensichtlich, daß weder die Wirtschaftswissenschaftler noch die Politiker verstanden und vorausgesehen haben, welche Art von Krise sie selbst geschaffen hatten, die zu der gegenwärtigen Situation geführt hat.
Das bedeutet, daß wir im akademischen Umfeld, vor allem bei der Ausbildung der Studenten im Alter von etwa 18 bis 25 Jahren – der entscheidenden Schicht, die die nächste Generation von Führungskräften hervorbringt – gewisse Verbesserungen vornehmen und von der sogenannten monetaristischen Wirtschaftstheorie wieder zum sogenannten protektionistischen Modell zurückkehren müssen, oder zu dem, was ich lieber als physisches Wirtschaftsmodell im Gegensatz zum finanziell-monetären bezeichne.
Die heutige Krise in der gesamten Hemisphäre wird vor allem an der aktuellen Krise in Brasilien deutlich. In Südamerika sieht man, wie Argentinien insbesondere seit 1982 zerstört wurde. Man sieht, wie Bolivien Gefahr läuft, wieder in eine Drogendiktatur zurückzufallen. Man sieht ähnliche Krisen an den Grenzen zu Brasilien und Argentinien, Paraguay und Uruguay. Man sieht, wie Peru seine Souveränität durch einen Putsch verliert, der unter der Leitung von Präsident Clinton organisiert wurde. Man sieht, wie Ecuador als Nation jede tatsächliche Souveränität über ihre inneren Angelegenheiten verweigert wird. Man sieht, was in Mittelamerika geschehen ist. Man sieht den fortschreitenden Zerfall von Kolumbien. Man sieht, wie in Venezuela eine neue Krise ausbricht. Man sieht den allgemeinen Zustand in der Karibik. Und Brasilien steht im Zentrum hiervon.
Brasilien: Der IWF ist so oder so am Ende
Gegenwärtig sieht sich Brasilien einer ungeheuren Last gegenüber. Es gibt keine Möglichkeit, daß Brasilien die Schulden tragen kann, die ihm jetzt auferlegt werden. Das Land ist für diese Schulden nicht wirklich verantwortlich. Die Schulden wurden dem Land von internationalen Institutionen unter starkem Druck der Vereinigten Staaten auferlegt, insbesondere durch die Dollarisierung der brasilianischen Schulden im Jahr 1989, was eine Tragödie war. Es gibt keine Möglichkeit, diese Schulden unter diesen Bedingungen zu bezahlen. Der IWF verlangt, daß Brasilien sich allen Forderungen der Märkte beugt, die im wesentlichen korrupt sind. J.P. Morgan, Chase und Citibank sind praktisch bankrott, und ohne die Vereinigten Staaten als physischer Macht wären sie tatsächlich bankrott. Unter den gegenwärtigen Bedingungen gibt es für sie keine Hoffnung für die Zukunft. Dies gilt auch für das Bankensystem der Vereinigten Staaten im allgemeinen. Das Federal-Reserve-System der Vereinigten Staaten ist bereits bankrott und wird nur durch die politische Macht der Vereinigten Staaten aufrechterhalten. Die Bankensysteme in Europa sind bankrott. Die Zentralbankensysteme sind bankrott, und das ist der Zustand in weiten Teilen der Welt.
Der IWF – der zusammen mit der Weltbank für diesen Bankrott verantwortlich ist, der sich im Laufe der Jahre entwickelt hat – kommt jetzt nach Brasilien und sagt: „Brasilien, ihr habt schlecht gewirtschaftet. Ihr müßt unsere Vormundschaft akzeptieren. Wir, die euch ruiniert haben, sind gekommen, um euch zu helfen, indem wir euch noch mehr ruinieren.“ Was würde passieren, wenn Brasilien vor dem IWF kapitulierte, und alles akzeptierte, das den Forderungen ähnelt, die der IWF an das Land stellt? Brasilien würde sterben! Es würde untergehen, und zwar schnell. Nicht über mehrere Jahre, sondern über Monate! Sehen Sie sich die Zahlen an. Betrachten Sie die Größenverhältnisse. Nehmen Sie die Kosten für den Schuldendienst. Nehmen Sie die Auswirkungen dieser Bedingungen und den Zusammenbruch der brasilianischen Wirtschaft. Schauen Sie, was mit Argentinien passiert, und sehen Sie, daß das, was in Argentinien passiert ist, jetzt mit voller Wucht auf Brasilien übergreift.
Schauen Sie sich die Zustände in der ganzen Hemisphäre an. Sehen Sie sich an, was Mexiko in der nächsten Runde droht. 5 Millionen Mexikaner, die in den Vereinigten Staaten arbeiten, drohen ihren Arbeitsplatz zu verlieren, weil die Vereinigten Staaten bankrott sind! Die Finanzmärkte in den Vereinigten Staaten brechen zusammen. Nur die politische Macht Washingtons sorgt dafür, daß die Märkte scheinbar überleben. Die Vernichtung von Geldwerten ist enorm und wird noch größer werden. Und dann sind da noch die besonderen Regionen Mexikos, die in hohem Maße von Exporten in die Vereinigten Staaten abhängig sind, vor allem in Kategorien wie Elektronik und Automobilteile. Der Automobilmarkt in den Vereinigten Staaten und in anderen Ländern ist im Umbruch. Die sogenannte New Economy, die Informationsgesellschaft, ist tot. In ihrer jetzigen Form hat sie keine Zukunft. Damit droht Mexiko in eine ähnliche Situation zu geraten wie Brasilien. Und das gilt im Grunde für die ganze Welt.
Wenn Brasilien sich also dem IWF unterwirft, wird es schnell Selbstmord begehen, und der Rest der Hemisphäre wird folgen. Nur wenn Brasilien Widerstand leistet und sich nicht unterwirft, könnte es überleben. Wenn der durchschnittliche Zinssatz in Brasilien unter 10 Prozent gehalten und geeignete Bedingungen für die Refinanzierung der Schulden geschaffen würden, könnte Brasilien überleben und könnte Teil einer Erholungsperspektive für die Hemisphäre sein. Wenn aber Brasilien unter diesen Bedingungen überlebte, würde der IWF bankrott gehen. Unter den gegenwärtigen Umständen könnte er diese Art der finanziellen Umstrukturierung nicht verkraften.
So oder so, der IWF ist in seiner jetzigen Form tot. Wenn er sich durchsetzt, stirbt er. Wenn er scheitert, stirbt er. Dies ist ein Hinweis darauf, was wir als systemische Krise bezeichnen, im Gegensatz zu dem, was einige Leute das statistische Phänomen von „Boom-Bust-Zyklen“ nennen. Dies ist kein zyklisches Phänomen. Bei zyklischen Phänomenen handelt es sich um Finanzspekulationen, die sich wie ein Parasit auf die Wirtschaft auswirken. Das geht soweit, bis die Wirtschaft zusammenbricht. Dann werden auch einige der Finanziers in den Bankrott getrieben. Die Wirtschaft wird durch den Konkurs der angehäuften Finanzprobleme entlastet und kann sich, wenn sie noch nicht strukturell zerstört ist, wieder erholen. Die Landwirtschaft wird weiter von den Landwirten bewirtschaftet. Die Industriebetriebe – vielleicht nicht alle – werden wieder von den Herstellern betrieben. Das ist eine zyklische Krise. Doch wir haben es nicht mit einer zyklischen Krise zu tun, sondern mit einer systemischen Krise.
Die Ursprünge der Krise
Es gibt Lösungen. Doch sehen wir uns zunächst an, wie es zu dieser systemischen Krise gekommen ist. In der unmittelbaren Nachkriegszeit, etwa von 1945 bis zum Ende des Indochina-Krieges, waren die Vereinigten Staaten die weltweit führende produktive Gesellschaft, was die physische Produktion pro Kopf und pro Quadratkilometer angeht. Die relative Produktivität von Arbeit und Produktion der Vereinigten Staaten war die höchste der Welt. Die Vereinigten Staaten arbeiteten mit der halben Welt zusammen, wovon viele Länder profitierten, zwar nicht zu gleichen Teilen, aber sie profitierten. Sie nutzten die durch das Bretton-Woods-System geschaffenen Bedingungen, um die Lebensbedingungen in ihren Ländern zu verbessern.
Das galt für die meisten Länder. Das galt für Brasilien. Das galt für Argentinien, das bei Kriegsende bereits den vierthöchsten Lebensstandard der Welt hatte. Argentinien war eine ausgesprochene Erfolgsgeschichte, aber dann ging man auf verschiedene Weise daran, es zu ruinieren. Insgesamt aber haben die meisten Länder Fortschritte gemacht. Westeuropa blühte unter dem Einfluß des amerikanischen Wiederaufbaumodells nach dem Krieg auf. Andere Teile der Welt blühten auf. Japan wurde mit Unterstützung der USA wieder aufgebaut. Korea kam aus der Vergessenheit in die Freiheit und florierte.
Dann änderte sich die Situation. Ungefähr 1964, als der Indochina-Krieg begann, wurde in den Vereinigten Staaten ein kultureller Wandel eingeleitet. Er wurde einer Generation von Jugendlichen aufgezwungen, die damals die Oberschule besuchten oder in die Universitäten drängten. Diese Generation, damals Jugendliche oder sehr junge Erwachsene, besetzt heute die meisten Spitzenpositionen in der Regierung und anderen Institutionen oder in Unternehmen. Sie haben in ihrem Erwachsenenleben noch nie in einer Gesellschaft gelebt, in der die Produktion an erster Stelle steht.
Unter Einkommen stellen sich viele in den Vereinigten Staaten die Schulden auf ihrer Kreditkarte vor. US-Bürger haben kein Einkommen, sie haben eine Kreditkarte, und ihr Einkommen dient ihnen als Geldfluß, um den Schuldendienst auf ihrer Kreditkarte abzuwickeln. Sie bezahlen ihre Wohnungen praktisch auf Kreditkarte. Sie kaufen keine Häuser mehr oder nehmen Hypotheken auf, basierend auf dem, was sie sich leisten können, um die Hypothek zurückzuzahlen. In den Vereinigten Staaten ist so eine gewaltige Immobilienblase entstanden – mit Dachpappe verkleidete Bretterbuden, deren Hypothekenwert auf 400.000 bis eine Million Dollar geschätzt wird. In der Gegend um Washington, D.C., im sogenannten New-Economy-Korridor der Informationsindustrie, liegt die Rate der Zwangsvollstreckungen bei etwa 30 Prozent. Die Leidtragenden sind Menschen, die jetzt arbeitslos sind oder zwei Jobs brauchen, damit sie ihre Häuser nicht verlieren werden. Die ganze Gegend wird aussterben. In Kalifornien und anderen Regionen des Landes sieht es ähnlich aus. …
Der IWF trat also als Berater, als Erpresser, auf und sagte der mexikanischen Regierung: „Hier ist der Wert, auf den Sie Ihren mexikanischen Peso festsetzen werden, sonst werden wir Sie vernichten.“ Nun, die Mexikaner sagten: „Gut, okay, wir werden unsere Peso-Schulden weiterhin mit Pesos bezahlen“. „Oh nein, das werdet ihr nicht“, sagte der IWF. „Sie werden Ihre Peso-Schulden nicht mit Pesos bezahlen. Wir werden zu einer indirekten Form der Dollarisierung übergehen. Wir werden Ihre Schulden umschreiben, so daß Ihre ausländischen Finanzgläubiger bei der Abwertung des Pesos nichts verlieren.“ Das Ergebnis ist, wie wir wissen, daß die Länder Süd- und Mittelamerikas seit diesem Zeitraum, von 1971–72 bis heute, keine ausländischen Schuldverpflichtungen mehr haben, weil der Betrag, den sie auf die tatsächlich eingegangenen Schulden gezahlt haben – die vertraglich vereinbarten, eingezahlten Schulden – durch die Zinszahlungen bis heute mehr als vollständig beglichen worden ist. Wahrscheinlich um das Doppelte. Die Schulden, die es gibt, sind ein Rest von künstlichen Schulden, die nicht durch das Aufnehmen von Schulden, sondern durch den IWF und ähnliche Arten von Plünderern auferlegt wurde.
Dann sagen wir weiter: „Wir lassen Sie am Leben, wenn Sie sich unserem Diktat unterwerfen und den Wert Ihrer Währung senken. Dann werden Sie Ihre Schulden erhöhen, um das auszugleichen, was Ihre ausländischen Finanzgläubiger durch die Senkung des Wertes Ihrer Währung verloren haben.“ Das war die Situation in Mexiko und in anderen Ländern im Jahr 1982, als die Mexiko-Krise in Washington unter den Freunden von Henry Kissinger lanciert wurde. Und das war die zweite Phase.
Jetzt sind die Länder aufgrund dieser Art von Manipulation auf einen Verlust ihrer Souveränität reduziert. Sie sagen dann, wir müssen uns dem IWF mit unserer gesamten Innen- und Wirtschaftspolitik unterwerfen, um diese auferlegten Bedingungen zu erfüllen, und nachdem sie den Kredit dieser Nationen zerstört hatten, kamen sie wie die Geier, um das Fleisch von den Knochen zu nagen. Dann kamen sie zurück und sagten: „Nun, ihr braucht ein Einkommen. Wir werden also Ihre Bevölkerung als billige Arbeitskräfte einsetzen, um die Produktion zu ersetzen, die wir früher in Ländern wie den Vereinigten Staaten hatten.“ Also haben wir die Produktion in den Vereinigten Staaten zugunsten von billigen Arbeitskräften aus Süd- und Mittelamerika und aus Asien eingestellt.
Die Jugend zu einer „No Future“-Generation degradiert
Eines der entscheidenden Probleme, die wir heute haben, ist das Generationenproblem. Wir haben eine Situation geschaffen, in der junge Menschen zwischen 18 und 25 das Gefühl haben, keine Zukunft mehr zu haben. Sie schauen auf die ältere Generation und sagen: „Ihr habt uns eine Welt hinterlassen, in der es keine Zukunft gibt.“ Sie sind wütend, verwirrt. Einige von ihnen kollabieren innerlich, aber andere rebellieren.
Um zu verstehen, was eine Wirtschaft ist, muß man sie aus einem Blickwinkel über mehrere Generationen betrachten; das haben wir früher verstanden. Nehmen wir das Beispiel Mexiko mit den vielen armen Menschen und einer rückständigen Landwirtschaft. Um Mexiko zu entwickeln, beginnt man mit einem Programm für Infrastruktur, Bildung, Gesundheitsfürsorge und anderen Verbesserungen und hofft, daß die Generation der Kinder dieser armen Landarbeiter zu Wohlstand kommen wird, daß sie eine bessere, leistungsfähigere Zukunft, mehr Wissen und mehr Fähigkeiten haben werden.
Dann kommt eine dritte Generation – die Kinder dieser Kinder. Und die Kinder dieser Kinder werden dann ein Land repräsentieren, das technologisch auf Augenhöhe mit anderen Nationen ist. Sie werden in der Lage sein, die Idee des Gemeinwohls zu fördern, die sich um die Bedürfnisse der gesamten Bevölkerung kümmern, weil ein Prozeß nicht nur der Verbesserung der Technologie, sondern der Verbesserung der kulturellen Entwicklung, der Bildung und der Weitergabe von Fähigkeiten an die nachfolgenden Generationen, von den Eltern über die Kinder bis zu den Enkeln eingesetzt hat – der normale Prozeß.
Doch diesen Prozeß gibt es nicht mehr. Man denkt nur noch an das Kurzfristige; welche Rendite in diesem Jahr anfällt; in was für einem Haus wir heute leben. Wir haben aus den Augen verloren, was für eine Welt wir unseren Kindern hinterlassen. Das wäre wirkliche Ökonomie, nicht die Ökonomie des Cash-Flows, der Buchhalter, sondern die Ökonomie der Lebensbedingungen, der Entwicklung der Menschheit, einer Spezies, die nicht aus Affen besteht, sondern aus Menschen, für die die Entwicklung des Geistes, die Entwicklung der Kultur, alles ist.
Wir sind an einem Punkt angelangt, an dem das System über mehrere Generationen hinweg, insbesondere seit 1964, versagt hat. In diesem gesamten Zeitraum haben viele Länder keinen Gewinn mehr gemacht. Wir leben wie Parasiten von den Überresten unserer Vergangenheit. Wir haben die Infrastruktur zusammenbrechen lassen, die Gesundheitsversorgung zerfallen lassen. Wir sind an einem Punkt angelangt, an dem die Uhr abgelaufen ist!
Mittlerweile spricht man nur noch von „Profit“ – Profit, der von korrupten Buchhaltern stammt, der sich nur in finanzieller, aber nicht in realwirtschaftlicher Hinsicht zeigt und enorme Schulden erzeugt. Auf was? Auf dieses Buchhaltungssystem. Mit den Mengen, die wir produzieren, wie im Falle Brasiliens, lassen sich bei den derzeitigen Preisen unmöglich die Schulden abbezahlen. Unter den gegenwärtigen Bedingungen wächst die Verschuldung schneller, als es mit dem Wachstum der Produktion physisch möglich ist. Das Schlimmste aber ist, daß wir sofort sagen: „Um die Kosten zu senken, muß die Arbeit reduziert werden.“ Erst werden die Löhne gekürzt und dann werden die Beschäftigten entlassen. Die durchschnittliche Arbeitsproduktivität in der Volkswirtschaft wird gesenkt, indem die Zahl der produzierenden Menschen reduziert wird. Das ist reine Zerstörungswut. Wahnsinn!
Wir sind an einen Punkt gelangt, wie er durch die Krise in Brasilien ausgedrückt wird.
Es gibt Lösungen
Es gibt natürlich Lösungen, und ich habe mich für solche Lösungen eingesetzt. Vor kurzem wurde in der italienischen Abgeordnetenkammer mehrheitlich für einen Vorschlag gestimmt, den ich vorgelegt hatte. Die italienische Regierung hat sich mit diesem Votum implizit verpflichtet, mit anderen Regierungen zusammenzuarbeiten, um das Weltwährungssystem zu reorganisieren, um zu einer Bretton-Woods-Formel der Art zurückzukehren, die wir von 1945 bis 1964 hatten. Dieses gleiche Modell sollte hier verwendet werden: feste Wechselkurse, ein protektionistisches System zur Förderung der Produktion und ähnliche Programme, um sicherzustellen, daß wir wieder auf einen Wachstumspfad zurückkehren. Das heißt, wir müssen die Welt einer Konkurssanierung unterziehen, so wie man es bei jedem Konkurs tut: Man bestellt den Schuldner ein. Der Schuldner ist in diesem Fall das Finanzsystem. Die Finanzsysteme, die Zentralbanksysteme, sind bankrott. Wir sagen: „Also gut, wir eliminieren eure Vermögenswerte, denn sie beruhen auf Betrug. Sie basieren auf Forderungen, die nicht erfüllt werden können, und deshalb seid ihr bankrott. Wir als Regierungen, die eine Verantwortung für die Menschen haben, werden euch Bankrotteure barmherzig durch eine Konkurssanierung führen. Wir als Staaten müssen den Kredit zur Verfügung stellen – den Kredit für großangelegte Infrastrukturprogramme und zur Förderung privater Investitionen. Dieser Kredit wird langfristig, d. h. über 25 Jahre oder mehr in der Regel zu einfachen Zinssätzen von 1-2 Prozent als staatlicher Kredit für große Infrastrukturen verwendet; zur Förderung der Beschäftigung, zum Bau von Eisenbahnen, für die Wasserversorgung, die Energieversorgung und so weiter, die für die Gesellschaft notwendig sind. Dies wird die private Beschäftigung anregen. Wir werden auch Kredite in kreditwürdige Bereiche privater Investitionen stecken, um die Landwirtschaft und das verarbeitende Gewerbe zu fördern, um andere notwendige Dinge aufzubauen, und wir werden aus diesem Schlamassel herauskommen.“ …
Infrastruktur und „Quellen der Technologie“
Ich rege an, daß wir die Welt mit Blick auf bestimmte Länder betrachten, die führend in der Entwicklung von Spitzentechnologien sind. In anderen Ländern, einschließlich China und Indien – die relativ gesehen keine wohlhabenden Länder sind – gibt es auch Zentren des technologischen Fortschritts. Sie haben bestimmte Industrien, bestimmte Techniken, aber nicht genug, um den Gesamtbedarf ihrer Bevölkerung zu decken.
Unser Vorschlag lautete: Man baue in Gebieten Eurasiens Cluster technologischen Fortschritts auf, um langfristig technologisch notwendiges Kapital in Gebiete mit geringem Technologiepotential zu übertragen. Genauso behandele man Gebiete wie das Landesinnere Chinas (im Gegensatz zu den Küstenregionen) und andere Länder, um deren Produktivität über eine Generation oder länger zu erhöhen. Auf dieser Grundlage kann man durch langfristige Kredite mit einer Laufzeit von mindestens 25 Jahren Kredite schaffen und ausgeben, um kontinuierlich Hochtechnologieexporte aus weit entwickelten Industriekomplexen zu finanzieren, in Länder, die diese Technologie dringend benötigen. Wir könnten es so organisieren, daß sie in diesen 25 Jahren in der Lage sind, sich von dem freizukaufen, was wir ihnen als Kredit gegeben haben.
Ich habe das 1992 vorgeschlagen, und diese Länder haben akzeptiert, was ich die Eurasische Landbrücke nenne. Das heißt, bereits in den Vereinigten Staaten unter Präsident Lincoln – sowohl vor seiner Amtszeit als auch als Präsident – verfolgten wir die Idee eines transkontinentalen Eisenbahnsystems, das nicht nur ein Eisenbahnsystem war, sondern auch ein Entwicklungskorridor, denn auf diese Weise wurden landwirtschaftliche und andere Entwicklungen entlang der Eisenbahnlinien möglich. Der Aufstieg der Vereinigten Staaten zu einer großen Weltmacht im Getreideanbau, in der Landwirtschaft im allgemeinen und in anderen Bereichen, war die Folge davon.
Diese Idee wurde auch in Europa zum Beispiel für den Bau der Transsibirischen Eisenbahn übernommen. Diese Entwicklung wurde jedoch durch die zwei Weltkriege zunichte gemacht.
Aber heute gibt es neue Technologien. Was ich vorschlage, ist die Schaffung von Entwicklungskorridoren – von Rotterdam in Europa, bis nach Pusan an der Spitze Koreas, auf der anderen Seite Asiens. Entwicklungskorridore verlaufen auch durch den nördlichen Teil Rußlands und Kasachstans bis nach China und Zentralasien, und der südliche Teil verläuft entlang der Küste des Indischen Ozeans, nach Indien, Indochina und über andere Routen.
Entwicklungskorridore hätten eine Breite von 50 bis 100 Kilometern, d. h. in ihnen verlaufen die Hauptverkehrswege, Wasserleitungen, Energieerzeugungs- und -verteilzentren. Damit können Industrie- und landwirtschaftliche Komplexe in Gebieten versorgt werden, die heute weitgehend unterentwickeltes oder brachliegendes Land sind. Und indem sie Gebiete durchqueren, die größtenteils Ödland sind, das aber die größte Konzentration an Bodenschätzen auf diesem Planeten aufweist, würden wir dieses Ödland in eine Wachstumsregion für ganz Asien umwandeln.
Dieses Programm wird nun schrittweise und allmählich in die Tat umgesetzt. Die Bemühungen unter anderem Chinas und Rußlands, den Bau einer Eisenbahnverbindung zwischen Nord- und Südkorea zu forcieren, bedeuten im Prinzip bereits die Schaffung einer Verbindung von Pusan nach Rotterdam, durch China und durch Rußland. Und das ist bereits in Gange.
Zurück zur Produktivgesellschaft
Wir haben hier im Westen die gleiche Situation. In den Vereinigten Staaten leben 5 Millionen Mexikaner, deren wirtschaftliche Lage bedroht ist. Die Existenz eines Teils der mexikanischen Bevölkerung in Nordmexiko ist durch den Zusammenbruch des US-Marktes gefährdet. Es gibt einen enormen Mangel an Transportmitteln, an Wasserwirtschaft, Stromerzeugung und -verteilung usw. sowohl in Teilen der Vereinigten Staaten als auch in Mexiko. Die Hälfte der Bundesstaaten der Vereinigten Staaten ist praktisch bankrott. Vor allem im Norden Mexikos gibt es Probleme mit der Verwaltung des Staates. Das Verhältnis von Verschuldung und Einkommen klafft auseinander. Deshalb ist Entwicklung nötig, und zwar auf beiden Seiten der Grenze. Wir müssen uns um die Mexikaner in den Vereinigten Staaten kümmern, die keine Arbeit haben oder sie verlieren. Wir müssen uns um die Menschen im Norden Mexikos kümmern, die durch diese Situation existentiell in Gefahr geraten sind.
Daher sind groß angelegte Infrastrukturprojekte, die im großen Stil Arbeit schaffen, ein erster Schritt: vor allem im Transportwesen, wie zum Beispiel im Schienennetz. Es ist bekannt, daß es im Norden Mexikos kein effizientes Schienennetz gibt. Das ist in diesem Teil Mexikos ein erdrückendes Problem. In den Vereinigten Staaten haben wir unser Eisenbahnsystem gänzlich aufgegeben. Unser Luftverkehr ist genauso in Gefahr. Unser Stromnetz bricht zusammen. Und so weiter und so fort. Wir haben also vergleichbare Probleme.
Wir setzen uns für ein Programm zur Beendigung der Depression ein, mit dem die Regierung sofort ein Kreditsystem einrichtet, um die Bundesstaaten bei Projekten in den Bereichen Eisenbahn, Verkehr, Wasser und andere Entwicklung zu unterstützen. Bei einem solchen Programm sollten die Vereinigten Staaten mit Mexiko zusammenarbeiten.
Dies ist nur ein Aspekt der weltweiten Situation. Aber mit der richtigen finanziellen Umstrukturierung können wir die Situation neu ordnen und die realwirtschaftlichen Probleme lösen.
Was wir brauchen, ist eine Änderung des Währungssystems.
Das erfordert auch einen psychologischen Wandel, weg von der Idee der Konsumgesellschaft und der Globalisierung, zurück zur Idee einer Produktionsgesellschaft, einer Gesellschaft, die Wohlstand produziert und in der Lage ist, den Gegenwert für ihren eigenen Bedarf zu produzieren, und zwar in zunehmendem Maße durch groß angelegte Kapitalinvestitionen. Kapitalinvestitionen bedeuten Kredite mit einer Laufzeit von 10, 15 oder 25 Jahren. Es bedeutet ein solides Bankensystem, das in der Lage ist, die Kreditvergabepraxis der Kommunen zu verwalten und mit ihnen zusammenzuarbeiten. Das ist möglich und hat bereits in der Vergangenheit funktioniert. Wir müssen lediglich die Idiotie der Zeit von 1964–2002 aufgeben und zu dem zurückzukehren, was einmal unsere Ziele waren; die gleichen Ziele hatten auch die mexikanischen Regierungen in den Tagen vor dieser Krise.
Wir können es schaffen. Wir haben keine andere Wahl. Wir haben die Erfahrung, wir haben das Wissen, wir könnten das Ruder herumreißen und zum Erfolg zurückkehren.
Das Problem besteht darin, die Menschen und insbesondere die Regierungen dazu zu bringen, zu akzeptieren, daß dieses System hoffnungslos bankrott ist. Man versuche nicht, sich dem System anzupassen, sondern das System muß ersetzt werden. Wie kann das gehen? Das geht mit der Autorität der Regierung, einer souveränen Regierung, einer Gruppe von souveränen Regierungen, die ihre Bankensysteme einer Konkurssanierung unterziehen, ein neues System von Nationalbanken unter einer nationalen Regierung schaffen, Kredite mobilisieren, das Gemeinwohl schützen, Stabilität erhalten, Vollbeschäftigung fördern, Wachstumsbereiche finden, in denen Kredite konzentriert werden können, sowohl im öffentlichen Sektor, in der Infrastruktur, als auch im Privatsektor. Nur die Regierungen können das tun. Das ist die souveräne Macht der Regierung als echter Souverän. Das ist der große Beitrag der Renaissance im 15. Jahrhundert, in der wir die Idee des modernen, souveränen Nationalstaates entwickelt haben, der absolute Souveränität in seinen eigenen Angelegenheiten besitzt. Souveränität steht über allem, aber auch Verantwortung für das Gemeinwohl der gegenwärtigen und zukünftigen Generationen. Das ist die moralische Macht der Regierung. Wir müssen die Regierung in dieser Rolle bekräftigen. Wir müssen die Regierung anweisen, ihre Macht auf diese Weise zu nutzen.
Wissenschaft und Bildung
Damit kommen wir zum nächsten Punkt: Wir brauchen einen neuen Ansatz für die Bildung unserer jungen Menschen vor allem in der Sekundarstufe und der Universität.
Wenn wir in diesem Bereich die richtigen Maßnahmen ergreifen, wird dies auch den Rest der Bevölkerung erfassen. In den Vereinigten Staaten gibt es viele inkompetente Lehrer – Lehrer, die an den Universitäten unterrichten, aber noch nicht einmal qualifiziert genug sind, ihren Abschluß auf der Sekundarstufe nach den früheren Standards zu machen. Es ist unfaßbar. Nur um Ihnen ein Beispiel zu geben, wie schlimm es ist. Ich kenne die Bedingungen in Mexiko nicht – Sie schon, also vergleichen Sie einfach, was ich über die Vereinigten Staaten sage. Es gibt in den USA einen Mann, der sich „Bildungspräsident“ nennt. Er heißt so, weil er dringend Bildung braucht. Er kann noch nicht einmal eine Karte lesen. Er weiß nur in etwa, wo Mexiko liegt; er weiß, daß Mexiko irgendwo südlich von Texas liegt. Wenn man nach Alamogordo fährt, kann man nach Mexiko hinüberfahren – das weiß er, aber mehr nicht.
Wir verblöden unsere jungen Leute. Wir unterrichten nicht mehr. Früher gab es in allen guten Schulen einen klassisch-humanistischen Ansatz für den Unterricht. Die Idee des Unterrichts war es, Kultur zu vermitteln, mit einem Schwerpunkt auf wissenschaftlicher und klassischer Kultur In den Familien und Kommunen wurden klassische kulturelle Aktivitäten gefördert, mit denen die Bevölkerung ihr kulturelles Erbe mit modernem Wissen verbinden konnte. Dies geschah vor allem durch die Weitergabe von Wissen in der Familie, in der Gemeinde, aber auch im Schulsystem, um kleinen Kindern die Möglichkeit zu geben, den Akt der Entdeckung des Wissens älterer Generationen nachzuerleben. Auf diese Weise gelangten diese Kinder zu einer modernen Reife, in der sie die Erfahrung der Entdeckung von Wissen zwischen diesen Generationen an die nächste Generation weitergaben und in der Lage waren, dieses Wissen, das sie benötigten, mit dem kulturellen Hintergrund, aus dem sie stammten, in Verbindung zu bringen. Dahinter steckt das Prinzip der Souveränität. Ein Volk, das sich selbst kennt, das weiß, wie man mit sich selbst spricht, das Ideen mit sich selbst kommunizieren kann – womit Menschen aus anderen Kulturen größere Schwierigkeiten haben – ist in der Lage, diese Ideen innerhalb der eigenen Kultur zu vermitteln: das ist die Idee von Souveränität.
Früher herrschte in der Wissenschaft die Vorstellung, große ursprüngliche Entdeckungen universeller Prinzipien und andere Entdeckungen zu replizieren. Im Unterricht würde man dabei so vorgehen, daß man den Schülern nicht einfach sagt: „Sprecht es mir nach“, sondern indem man sie experimentell den eigentlichen, ursprünglichen Entdeckungsakt nacherleben läßt. Wie hat zum Beispiel Eratosthenes um 200 v. Chr. den Umfang der Erde entlang des Großkreises gemessen? Wie hat er das gemacht? Sagt man einem Kind einfach: „Lerne das aus einem Buch“? Oder nimmt man das Kind mit nach draußen, zeigt ihm das Problem und hilft ihm, nacheinander die Schritte nachzuvollziehen, die Eratosthenes gegangen ist. Wie war dieser in der Lage, mit erstaunlicher Präzision den Umfang der Erde entlang eines Nord-Süd-Großkreises zu berechnen?
Das ist wirklicher Unterricht, wie er sein sollte. Man muß versuchen, die Umstände nachzustellen, unter denen die ursprüngliche Entdeckung stattgefunden hat. Der Schüler muß angeleitet werden, diese Erfahrung zu machen, damit er am Ende nicht nur die Prüfung besteht, sondern auch weiß, wie die Antwort lautet.
Als Hochschullehrer erinnern Sie sich sicher an Situationen, wo in guten Kursen gute Fragen gestellt wurden. In Prüfungssituationen an der Universität beschränken Sie sich auch nicht nur auf Fragen, die bereits in der Vorlesung oder im Lehrbuch behandelt wurden. Niemals. Sie wollen wissen, ob der Student denken und nicht, ob er imitieren kann. Affen können imitieren. Schimpansen können Jungen beibringen, wie man imitiert, wie man Werkzeuge herstellt, aber sie können nicht denken. Sie wollen wissen, ob der Schüler denken kann. Bei einer guten Prüfung sollten die Testfragen so gestaltet sein, daß sie nicht aus einer Liste von Multiple-Choice-Fragen bestehen, sondern eher aus zwei oder drei entscheidenden Fragen. Auf Universitätsebene würde man den Studenten sagen: „Sie haben drei Stunden Zeit. Wir stellen Ihnen fünf Fragen; Sie können drei von den fünf Fragen auswählen.“ Und jede dieser Fragen ist noch nie in der Vorlesung oder in einem Lehrbuch dieses Kurses gestellt worden. Dadurch stellen Sie fest, ob Sie den Studenten soweit ausgebildet haben, daß er ein Problem so lösen kann, als ob es eine Entdeckung wäre. Wenn er das nicht kann, haben Sie ihn nicht richtig erzogen. Wenn er es kann, wird der Student nicht nur mit dem Gefühl aus der Prüfung gehen, seine Aufgabe erfüllt zu haben, sondern wird auch stolz auf sich sein. Er fühlt sich gut, weil die Prüfung eine Herausforderung war und er dadurch intellektuellen Respekt vor sich selbst entwickelt hat.
Und wenn Sie ihn dann als Arzt oder Wissenschaftler in die Gesellschaft entlassen und er mit der Realität konfrontiert ist, wird er Antworten auf Fragen finden müssen, die sich ihm vorher nie gestellt haben. Kein Ingenieur, kein Wissenschaftler hat jemals wirklich ein Problem gelöst, für das es schon vorher die Antwort gab. Er war in der Lage, unbekannte Probleme durch kreatives Denken zu lösen. …
Das passiert heute nicht mehr. Wir bringen niemandem mehr wirklich etwas bei, außer tierischem Verhalten. Was für ein Affentheater!
Heute werden Multiple-Choice-Fragebögen verwendet. Das Thema der meisten Kurse in den Vereinigten Staaten ist die Vorbereitung auf einen Multiple-Choice-Test, dessen Inhalt im allgemeinen im Voraus bekannt ist. Der Schüler geht in die Prüfung, macht seine Kreuze auf der Liste, der Computer wertet sie aus und gibt das Ergebnis für die Schule und für den Schüler bekannt. Hat der Schüler etwas gelernt? Wahrscheinlich nicht. Weiß er, was er geschrieben hat? Nein. Er ist trainiert – Affentheater. In den Vereinigten Staaten ist heute jeder Schüler darauf bedacht, eine gute Note zu bekommen. Auch die Schulen wollen gut bewertet werden. Sie wollen nicht alle ihre Schüler durchfallen lassen, denn dann heißt es, sie leisten offensichtlich keine gute Arbeit. Also wird geschummelt. Die Prüfungsanforderungen werden gesenkt, um sie an das niedrigere Bildungsniveau anzupassen, das geboten wird. Bessere Testergebnisse sind also ein einziger Betrug! Das ist das sogenannte „Enron-Buchhaltungsprinzip“!
Quelle echter Produktivität
Das Problem ist zu einem großen Teil die Kultur in unserer Gesellschaft, die ein Nebenprodukt unserer Konsumgesellschaft und nicht unserer Produktionsgesellschaft ist. Als wir noch eine Produktionsgesellschaft waren, waren wir darauf bedacht, Kinder in die Welt zu setzen, die für einen Arbeitsplatz in der nahen Fabrik oder etwas anderes qualifiziert waren. Heute braucht sich darum niemand mehr Sorgen zu machen, denn Fabrikarbeitsplätze gibt es kaum noch. Die meisten werden in einem Discounter oder einem Baumarkt stehen und in diese oder jene Richtung zeigen, wenn ein Kunde hereinkommt. Für derartige Dienstleistungen sind keine Fähigkeiten, keine Kompetenz erforderlich. Es werden Jobs für Menschen erfunden, um so zu tun, als würde man Arbeitsplätze schaffen, für die niemand qualifiziert ist, weil der Job an sich nicht qualifiziert ist – es sollte ihn gar nicht geben! Das sind nutzlose Jobs!
Genauso bei der Hochschulbildung: Die Studiengebühren, die Eltern für ihre Kinder zahlen, steigen im umgekehrten Verhältnis zur Qualität der Ausbildung. Ich habe mir einige dieser Fälle in Europa und in den Vereinigten Staaten angesehen – die thematischen Bereiche des Kursinhalts. Dort findet praktisch keine Bildung statt! Das sind Stumpfsinnskurse, wie wir sie früher nannten, ohne wirklichen Inhalt. In den Bereichen, die für die Gesellschaft von entscheidender Bedeutung sind – Beispiel Wissenschaft und Technologie – ist es genauso schlimm. Aus der Ingenieurausbildung, wie sie heute in den Vereinigten Staaten und Europa üblich ist, geht kein kompetenter Ingenieur hervor. Und vielleicht ist das auch gar nicht so wichtig, denn als Ingenieur ist kaum jemand mehr tätig. Man sitzt nur noch am Computer und erstellt Börsenmodelle. Und wenn man dann versucht, die einzelnen Modelle zusammenzubringen, funktioniert das nicht, denn Wissenschaft ist keine Show. Wissenschaft ist Forschung, experimentelle Methode, Innovation, neue Entdeckungen, das Finden neuer Wege, neuer Prinzipien, um Dinge zum Funktionieren zu bringen.
Es ist somit eine inkompetente Generation entstanden. Wir denken nicht mehr in Begriffen der physischen Ökonomie: Physische Ökonomie, gemessen als Leistung pro Kopf pro Quadratkilometer, als Fähigkeit zu produzieren, als Verhältnis der Produktionskosten für eine bestimmte Ausrüstung und dem, was im nationalen Maßstab aus dem Prozeß herausgeholt wird. Es heißt, man spare Geld, wenn Infrastrukturen wegfallen. Ganze Eisenbahnstrecken werden stillgelegt. Was sind die Kosten, wenn es zum Beispiel im Norden Mexikos kein angemessenes Schienennetz mehr gibt? Wenn alles auf Lastwagen verlagert wird und nur einige wenige Bahnstrecken verbleiben? Wenn es keinen Personentransport mehr gibt? Wie lange dauert es, mit dem Bus von hier nach Sonora zu kommen?
Es ist somit unerheblich, wie hoch die Produktivität am Ort der Produktion ist, ob in Sonora oder hier. Wie kann ich als Produzent, der in die Vereinigten Staaten liefert, eine Zusammenarbeit mit benachbarten Teilen Mexikos aufbauen, um die Produktion auf Grundlage von Arbeitsteilung in Mexiko selbst zu beginnen, wenn man kein integriertes Energie- und Transportsystem hat? Wenn ein einzelnes Unternehmen nicht leistungsfähig ist, muß man mit der Basis der Wirtschaft beginnen. Und 50 Prozent der Investitionen in eine moderne Wirtschaft sind Investitionen in die Infrastruktur, nicht in die Produktion – Transport, Stromerzeugung und -verteilung, Wasserversorgung und Abwasserentsorgung, Gesundheits- und Bildungswesen. Das sind die Grundpfeiler einer Wirtschaft. Zugang zu Bibliotheken und ähnlichem ist ein wesentlicher Teil der Produktivkraft der Arbeit. Die Fähigkeit, Waren effizient und schnell in großem Umfang überall hin zu transportieren, Menschen von einem Ort zum anderen zu bringen, das ist entscheidend. Das haben wir aus den Augen verloren.
Unternehmer und Infrastruktur
Mein Spezialgebiet, auf das ich mich all die Jahre konzentriert habe, ist die physische Wirtschaft. Finanzwirtschaft, Buchhaltung? – Das ist nichts. Dabei geht es nur darum, einzelne Punkte miteinander zu verbinden; dazu braucht man keinerlei Fähigkeiten. Wichtig zu verstehen ist, wie man investiert, und zwar in eine Kombination aus Infrastruktur und anderen Bereichen, um generationenübergreifend Fortschritt zu erzielen und die Produktivkraft der Arbeit zu erhöhen.
Die andere Frage, die am wenigsten verstanden wird, ist, wie Unternehmertum funktioniert. Die meisten Leute, die heute Unternehmer genannt werden, sind keine Unternehmer. Sie sind Soziologen, Despoten, Betrüger und Buchhaltungsschwindler.
Was zeichnet einen guten Unternehmer aus? Nehmen wir einen einfachen Landwirt. Ein einfacher Landwirt ist ein typischer Unternehmer, wenn er etwas taugt. Es ist gleichgültig, wie hoch sein Bildungsniveau ist. Er denkt wie ein Unternehmer. Er versucht, den Boden, die Ernte vorzubereiten und so zu wirtschaften, daß er ein Ergebnis erzielt, von dem er seine Familie ernähren und genug verkaufen kann, um die Dinge zu bezahlen, die seine Familie braucht. Er ist innovativ. Er ist ständig auf der Suche nach Innovationen. Er versucht, effektivere Wege zu finden, um das Leben seiner Familie zu verbessern, oder ein weiteres Kind mit seinem Stück Land ernähren zu können. Er will es ertragreicher machen, besseres Saatgut verwenden, was auch immer. Er ist ein Unternehmer. Was ist ein guter Mittelständler? Das Gleiche: Er versucht, ein Produkt herzustellen, nicht zu verkaufen um des Verkaufens willen. Er will seinen Einfallsreichtum und sein Wissen zu nutzen, wie ein kleiner Maschinenbauer, um ein Produkt zu entwickeln, das dem Bedarf entspricht. Er entwirft neue Produkte. Er bildet Menschen aus.
Die Gesellschaft braucht Infrastruktur als allgemeinen Prozeß. Wir brauchen Unternehmer, die nicht in erster Linie darauf aus sind, Profit zu machen. Natürlich will kein Unternehmer mit Verlust arbeiten. Aber seine Motivation ist nicht der Gewinn. Er ist Unternehmer, weil er an das glaubt, was er tut. Er versucht, ein erfolgreiches Unternehmen aufzubauen, das ein Produkt herstellt, für das er sich nicht schämen muß, das nützlich ist. Die typischen Unternehmer, die ich kenne, haben oft Jahre damit verbracht, verbesserte Produkte zu entwickeln. Sie machen vielleicht einen Gewinn daraus, aber nicht, weil sie darauf aus sind, Gewinn zu machen. Sie sind stolz darauf, bessere Produkte zu liefern. Als Unternehmer in der eigenen Firma möchten sie das Unternehmen einmal an jemanden aus der eigenen Familie oder an einen jüngeren Mitarbeiter weitergeben, dem sie vertrauen, der es nicht in den Sand setzt, der das fortzuführt, was sie aufgebaut haben. Ein guter Unternehmer ist wie ein guter Landwirt stolz auf das, was er mit seiner jahrelangen Arbeit über eine Generation hinweg aufgebaut hat; er ist stolz auf das, was er tut, um es an die nächste Generation weiterzugeben.
Eine internationale Jugendbewegung
Was junge Menschen angeht, so haben wir vor allem in den letzten Jahren eine internationale Jugendbewegung aufgebaut, Menschen in dem entscheidenden Alter von 18 bis 25 Jahren, das eine Generation mit der nächsten verbindet. Das Bindeglied ist das gemeinsame Verständnis von Dingen wie Gauß‘ Fundamentalsatz der Algebra, der in verschiedener Hinsicht Auswirkungen auf die Bildung hat. Ohne das Verständnis davon, was Gauß 1799 meinte, als er Euler, Lagrange und d‘Alembert als Betrüger bezeichnete, um den Begriff der komplexen Zahlen zu etablieren, gäbe es heute keine moderne Wissenschaft. Selbst an den Universitäten und in wissenschaftlichen Organisationen wissen die meisten, insbesondere die Mathematiker, nicht, was es damit auf sich hatte.
Mein Anliegen ist also, Studenten ein Verständnis darüber zu vermitteln, was eine Idee im Sinne von Platon ist – Entdeckung, Hypothese, experimenteller Beweis, die Methode von Kepler. Sobald man weiß, was eine Idee ist, ist man zu naturwissenschaftlichen Erkenntnissen fähig. Das läßt sich sehr leicht demonstrieren.
Dann fragt man: „Wie hat sich Kultur entwickelt?“ Sie entwickelt sich auf Grundlage der Weitergabe von Ideen, die solchen Entdeckungen entsprechen, von einer Generation zur nächsten Generation. Das ist Kultur! Archimedes, Eratosthenes, Platon und Archytas, das sind die Quellen der antiken wissenschaftlichen Methode. Sie leben heute in unserer Gesellschaft, weil die Wissenschaftler diese Entdeckungen nachgeahmt und auf das Verständnis der modernen Wissenschaft heute angewandt haben. Die Weitergabe von Kultur über Tausende von Jahren bis in die Gegenwart ist das Ergebnis der Erkenntnis, was eine Idee ist und wie wichtig es ist, diese Idee durch Bildungs- und ähnliche Prozesse von einer Generation zur nächsten weiterzugeben, mit dem Ergebnis, daß eine Generation entsteht, die pro Kopf mehr Macht über das Universum hat als die vorherige Generation. Das ist Kultur! Ideen des klassischen Dramas, die Einsichten darüber vermitteln, wie sich Menschen verhalten und wie sie sich falsch verhalten. Wie kann man das erreichen? Das ist, was wir brauchen.
Buchhaltung ist simpel. Mit Mathematik zu spielen, zu addieren und subtrahieren und so weiter, das ist simpel. Aber das ist nicht Wirtschaft. Wirtschaft basiert auf dem Menschen, der kein Affe ist. Nur Menschen haben die Fähigkeit, Ideen zu generieren, zu assimilieren, Ideen zu replizieren. Der Zweck von Ideen ist, zu wissen, daß wir alle sterben werden. Wie verwenden wir also unser Talent im Leben? Was bedeutet unser Leben, nachdem wir nicht mehr da sind? Was haben wir für die kommenden Generationen beigetragen, das uns einen festen Platz im Spektrum der Raumzeit gibt? Das ist menschlich. Wir müssen versuchen, Wissen in jedem möglichen Bereich zu erlangen, den wir erreichen können, um die wundervollen Entdeckungen der Menschen vor uns zu verstehen und sie an andere weiterzugeben, eine Gesellschaft zu entwickeln, in der dies zum Standard wird – das ist Wirtschaft.
Wirtschaft ist das, was eine Generation zum Nutzen der nächsten zwei Generationen zu tun vermag.
Ich danke Ihnen vielmals.