In den letzten Wochen erlebte die Welt eine Serie an Schocks. Als Folge der Terroranschläge vom 11. September droht die Gefahr eines „Kriegs der Kulturen“, in dessen Folge die gesamte Zivilisation in eine dunkles Zeitalter abgleiten könnte. Dieser Krieg der Kulturen wird von einer bestimmten anglo-amerikanischen Fraktion von Geopolitikern angeheizt, wozu Zbigniew Brzezinski, der Harvard-Professor Samuel Huntington und Henry Kissinger gehören. Sie wollen die Politik, welche sich als einzig sinnvolle Alternative für das zusammenbrechende Weltfinanzsystem darbietet, sabotieren – nämlich den Versuch der Europäer, in eine langfristige eurasische Kooperation mit Rußland, China, Indien, Iran und Südostasien einzutreten.
Sollten sich die Pläne der Geopolitiker durchsetzen, würden rund um den Globus neue Religionskriege ähnlich dem 30jährigen Krieg, Kolonial-, Rohstoff- und Bevölkerungskriege ausbrechen, denen die Hälfte der Menschheit zum Opfer könnte. Die einzige Alternative zu diesem drohenden Krieg der Kulturen ist ein „Dialog der Kulturen“, der auf einem gemeinsamen Prinzip aller Kulturen aufbaut: der Verteidigung des „Gemeinwohls“ der Menschheit. Wir brauchen eine solche kulturelle und wirtschaftliche Vision, welche die Menschheit aus der Krise führt.
Was sind die Hauptargumente derer, die den Krieg der Kulturen heraufbeschwören? Nach dem Ende des Kalten Krieges, erklären sie, ist die USA der einzige Hegemon. Getreu der Mackinderschen These „Wer Eurasien kontrolliert, kontrolliert die Welt“, ist ihr geopolitisches Ziel, jeden potentiellen Rivalen der USA auszuschalten. Daher richten sie ihr Augenmerk hauptsächlich auf die Eurasische Landbrücke – die sich immer enger gestaltende eurasische Kooperation zwischen Rußland, China, Indien, Iran, Südostasien, Japan und Europa entlang von Energiebrücken, Eisenbahnkorridoren und Straßenverbindungen.
Man braucht nur einen Blick auf die Schriften Huntingtons und Brzezinskis, aber auch Kissingers werfen, um diese geopolitische Denkweise deutlich zu erkennen.
In seinem Buch Die einzige Weltmacht erklärt Brzezinski, in der Periode nach dem Kalten Krieg seien die USA die einzige Hegemonialmacht, die keinen Rivalen dulde. Während er von Europa als einem „US-Protektorat“ spricht, richtet sich sein Hauptaugenmerk auf das „eurasische Schachbrett“, wie er es nennt, wo sich 60 Prozent der Weltenergieressourcen befinden und „in der Zukunft der Kampf um die Vorherrschaft“ ausgetragen wird.
Ein weiterer führender Ideologe ist Samuel Huntington, der 1996 sein Buch Der Krieg der Kulturen schrieb, nachdem er dazu an der Heritage Foundation eine Vorlesungsreihe über die sich „verändernde Sicherheitsumgebung und die amerikanischen nationalen Interessen“ gegeben hatte.
Die Kernthese des Buchs ist, daß in der Welt nach dem Kalten Krieg der „Konflikt der Supermächte“ durch den „Kampf der Kulturen“ ersetzt wird. Die Menschen werden sich in wachsendem Maße entlang „kultureller Kampflinien“ differenzieren, und Konflikte zwischen „Kulturgruppen“ bzw. Gruppen verschiedener Zivilisationen werden zum zentralen Faktor der globalen Politik. Nicht die Armut in der Welt, nicht der eklatante Mangel an wirtschaftlicher Entwicklung sei die Ursache politischer Konflikte, sondern entstünden Konflikte aus dem „unvermeidlichen“ Zusammenstoß der Kulturen und Religionen.
Gemäß Huntington verschiebt sich das Machtgleichgewicht zwischen den Kulturkreisen so: Der Westen (Nordamerika und Europa)
verliere an Einfluß, sowohl demographisch als auch hinsichtlich der Kontrolle von Territorien und der Industrieproduktion. Hauptbedrohung und möglicher Auslöser eines Kriegs der Zivilisationen sind gemäß Huntington der Islam und China. Huntington spricht von der „islamischen Resurgenz“, dessen Hauptfaktor der „demographische“ sei: „Der Islam erlebt eine Bevölkerungsexplosion mit destabilisierenden Folgen für muslimische Länder und ihre Nachbarn.“ Huntingtons Gleichung lautet: Bevölkerungswachstum gleich Suche nach Lebensraum gleich Extremismus und muslimische Militanz. Genau aus diesem Grunde werde das 21. Jahrhundert das Auftauchen nichtwestlicher Mächte und Kulturen und den Zusammenstoß nichtwestlicher Zivilisationen mit dem Westen erleben.
Während Huntington in der Dynamik des Islam eher die fortdauernde Quelle vieler relativ kleiner Bruchlinienkriege sieht, bezeichnet er den „Aufstieg Chinas“ als „potentielle Quelle eines großen kulturellen Krieges zwischen Kernstaaten“: „Mehr als zwei Jahrhunderte lang haben die USA den Versuch unternommen, das Entstehen einer dominierenden Macht in Europa zu verhindern. Fast hundert Jahre lang haben sie das gleiche in Asien versucht. Zur Erreichung dieses Ziels haben die USA zwei Weltkriege und einen Kalten Krieg gegen das kaiserliche Deutschland, Nazi-Deutschland, das kaiserliche Japan, die Sowjetunion und das kommunistische China geführt. Dieses Interesse besteht fort… Die Entwicklung China zur dominierenden Zentralmacht In Ostasien stellt dieses zentrale amerikanische Interesse in Frage.“ Huntington empfiehlt dem Westen eine Politik der „technologischen Apartheid“, eine Politik von Zuckerbrot und Peitsche besonders gegenüber den islamischen und asiatischen Ländern.
Dialog der Kulturen
Die Alternative zu Huntingtons Krieg der Kulturen besteht einzig darin, eine Lösung für die realen Probleme zu finden, denen sich die Menschheit gegenübersieht. Das heißt: die Lösung der Weltwirtschaftskrise durch ein neues Weltfinanzsystem (ein Neues Bretton Woods), Abschreibung der erdrückenden Schulden und Ausbau der Kooperation zwischen den Nationen – insbesondere Kooperation beim Ausbau der Eurasischen Landbrücke, um die Krise zu überwinden, indem man wirtschaftliche Entwicklung für alle Menschen ermöglicht.
Eine solche wirtschaftliche Kooperation zum Wiederaufbau der Weltwirtschaft muß mit einem Dialog zwischen den Kulturen und Religionen einhergehen. Zu den herausragendsten Persönlichkeiten, die sich nachdrücklich für den Dialog der Kulturen einsetzen, gehört Papst Johannes Paul II., der angesichts der Ereignisse des 11. September, dem anschließenden Krieg in Afghanistan und der sich bedrohlich zuspitzenden Lage im Nahen Osten in einem Appell an die Weltöffentlichkeit erklärte, daß er die „Vertreter der Religionen der Welt für den 24. Januar 2002 nach Assisi einladen will, um für die Überwindung des Gegensätze und die Förderung des wahren Friedens zu beten. Insbesondere sollen sich dort Christen und Muslime begegnen, um vor der Welt zu verkündigen, daß die Religion nie zu einem Grund von Konflikten, Haß und Gewalt werden darf. In diesem Augenblick der Geschichte will die Menschheit eine Geste des Friedens sehen und Worte der Hoffnung hören.“
Der Papst hat den Dialog der Kulturen zum Leitfaden seiner Botschaft an die Welt gemacht und wiederholt erklärt, daß Krieg und Gewalt kein Mittel sind, um den Terrorismus zu bekämpfen. Demonstrativ sprach er in einer Botschaft auf dem Petersplatz von den „geliebten Völkerstämmen in Afghanistan, denen jede notwendige Hilfe zuteil werden muß“. Er sprach in diesem Zusammenhang von einem weltpolitischen Notstand und von anderen Teilen der Welt, „wo leider noch immer Verhältnisse großer Bedürftigkeit und schreiender Not andauern“.
Schon in seiner Neujahrsbotschaft 1999 hielt der Papst dem „Kampf der Kulturen und Religionen“ seinen Leitsatz entgegen, „daß in der Achtung der Würde des Menschen das Geheimnis des wahren Friedens liegt“. Ein Jahr später erklärte er in der Neujahrsbotschaft 2000, daß Kriege nicht nur furchtbar, sondern auch nutzlos seien: „Das 20. Jahrhundert hinterläßt uns als Erbschaft vor allem eine Mahnung: Kriege sind häufig Ursachen weiterer Kriege, weil sie tiefe Haßgefühle nähren, Unrechtssituationen schaffen sowie die Würde und Rechte der Menschen mit Füßen treten.“ Kriege richteten sie nicht nur Schreckliches an, sondern erwiesen sich zudem noch als nutzlos, denn „sie lösen im allgemeinen nicht die Probleme, um deretwillen sie geführt werden“, mahnte der Papst. „Mit dem Krieg bleibt die Menschheit als Verlierer zurück. Nur im Frieden und durch den Frieden sind die Achtung vor der Würde der menschlichen Person und ihre unveräußerlichen Rechte zu gewährleisten.“
Ein Echo der Ausführungen des Papstes bildet die Rede des iranischen Staatspräsidenten Khatami vor der UN-Vollversammlung sowie vor einem Symposion am 9. November in der Seton Hall University (New York). Die heutige Welt habe das Potential, entweder unendliche Kriege vom Zaun zu brechen und Zerstörung herbeizuführen, sagte Khatami, oder aber sie werde auf der Grundlage des Dialoges der Kulturen und Religionen, welcher die Gemeinsamkeiten der Kulturen und nicht das Trennende betone, zum „Künder einer Ära des Friedens für die Menschheit“.
Auf welchem Prinzip baut ein solcher Dialog der Zivilisationen auf? Der Papst sprach vom Dialog der Kulturen als einem „Bedürfnis, das der Natur und der Kultur des Menschen innewohnt“. Dieses in der Natur des Menschen liegende Prinzip ist das Prinzip des „Gemeinwohls“, wie die Vorsitzende des Schiller-Instituts Helga Zepp-LaRouche in dieser Ibykus-Ausgabe schreibt. An Nikolaus von Kues‘ Schrift De Pace fidei anknüpfend schreibt sie, daß die Idee vom Menschen als Ebenbild Gottes zumindest potentiell allen Religionen der Welt innewohnt. Dies definiere die Würde des Menschen, welche zur Grundlage einer gerechteren Weltwirtschaftsordnung werden muß.
Ein wahrer Humanist, der auf der Ebene eines Kues denkt und handelt, wird in anderen Kulturen und Religionen stets eine Quelle der Freude und Bereicherung finden, und diese nicht als Widerspruch zur eigenen Kultur erleben.
Wir können dies sehr gut am Beispiel der Universalgeschichte der Menschheit in den letzten 5000 Jahren studieren, in deren Verlauf viele Kulturen und Zivilisationen zusammenbrachen, weil die jeweilige Zivilisation entweder einen kulturellen Niedergang erlebte oder Naturkatastrophen über die Gesellschaften hereinbrachen, die die Menschheit nicht kontrollieren konnte. Andererseits zeigt uns die Geschichte der Menschheit, daß solche dunklen Zeitalter von Perioden der Renaissance abgelöst wurden, die wiederum nur dank der Inspiration durch andere Kulturen möglich waren.
So führte während der Karolingischen Renaissance im 8. Jahrhundert, welche dem dunklen Zeitalter nach dem Kollaps der Römischen Reiches folgte und auf den Schriften des Augustinus aufbauend in ganz Europa Bildungszentren einrichtete, die Arabische Renaissance unter dem Kalifen Harun Al Raschid (786–809) zu einem beeindruckenden Aufschwung der Wissenschaften und Künste. Damals war Bagdad das Renaissancezentrum europäischer Kultur. Harun Al Raschid sandte seine Emissäre aus, um das beste Wissen der Menschheit aus verschiedenen Regionen Europas zu sammeln und ein „Haus der Weisheit“ und Übersetzung einzurichten, das unter seinem Nachfolger Al Mamun entstand. Ohne die Arabische Renaissance hätte Europa niemals das dunkle Zeitalter überwunden. Dank ihrer wurde Europa mit der Philosophie, Mathematik, Medizin und Physik der Griechen bekannt.
Im 11. und 12. Jahrhundert lebten in der maurisch/spanischen Stadt Toledo die drei Religionen Islam, Judentum und Christentum unter König Alfons dem Weisen in friedlichem Dialog zusammen und lieferten bedeutende Übersetzungen griechischer Klassiker aus der arabischen Literatur und Wissenschaft ins Lateinische, darunter Texte von Archimedes, Ptolemäus und Euklid.
Im 15. Jahrhundert, nach dem Dunklen Zeitalter der Schwarzen Pest, begann unter der Mitwirkung des Kardinals Nikolaus von Kues eine Übersetzerschule unter dem Mönch Traversari in Florenz, Texte aus Byzanz zu übersetzen. Darunter waren Platons Dialoge, Texte des Archimedes und Homer sowie diverse Kirchentexte, welche zur Grundlage für das faszinierende ökumenische Konzil von Florenz zwischen Ost- und Westkirche 1439 wurden.
Ebenso faszinierend war der Dialog der Kulturen, den der berühmte Jesuitenpater Matteo Ricci im 16. Jahrhundert in China einleitete. Als erster Missionar betrat er 1583 China, ausgerüstet mit Karten, einem Globus und einem Cembalo. Er blieb bis zu seinem Lebensende in China, von allen Gelehrten Chinas hochverehrt. Er war ein Modell der „Inkulturation“, indem er sich mit der chinesischen Sprache und Philosophie des Konfuzius vertraut machte, dessen Werke übersetzte und somit Europa erstmals einen Einblick in die chinesisch-konfuzianische Kultur gab, während er umgekehrt europäische wissenschaftliche Texte ins Chinesische übertrug.
Im 17. Jahrhundert war es der bedeutende Europäer Gottfried Leibniz, der – ein großer Verehrer Riccis – in dem durch die Religionskriege bis 1648 zerstörten Europa eine neue Renaissance einleitete. Leibniz schlug die Gründung eines Netzwerks von Wissenschaftsakademien als Motor für den Wiederaufbau der europäischen Wirtschaft vor und plädierte für den Ausbau der eurasischen Zusammenarbeit, für eine wirtschaftliche und kulturelle Kooperation zwischen Europa, Rußland und China.
Der Dialog der Kulturen kann, wie aus der Geschichte deutlich wird, nicht ein Pantheon verschiedener „Meinungen“ sein. Es geht vielmehr darum, ein gemeinsames Prinzip zu definieren, auf das sich alle Kulturen beziehen und welches uns die Natur selbst zeigt: die Natur und die Würde des Menschen.