Auf dem Titelblatt der vorliegenden Ibykus-Ausgabe sehen wir einen Ausschnitt aus dem Bild Der Aufstieg zum Kalvarienberg, das der flämische Maler Pieter Breugel d. Ä. 1564 schuf, eines der bedeutendsten Bilder des Malers. In diesem Bild legt Breugel dar, was er als schlimmsten Fehler des Menschen im Verhältnis zu Gott ansah: die Weigerung, ein Leben in der „Nachfolge Christi“ zu leben, und die Indifferenz gegenüber dem Guten und Heiligen. Wir sehen eine großartige Landschaft, in der der Aufstieg zur Richtstätte erfolgt, wo die Kreuzigung Christi stattfinden wird. In seinem Artikel „Christentum und Zivilisation“ bezeichnet Lyndon LaRouche die Kreuzigung als das Ereignis in der Geschichte, das die europäische Zivilisation am meisten geprägt hat.
Begleitet von einer riesigen Menschenmenge sehen wir in der Mitte des Bildes die das Kreuz tragende, erschöpfte Christusfigur, die auf den ersten Blick schwer zu erkennen ist. Damit wird jedoch die Wirkung der beiden anderen, ineinander greifenden Hauptaspekte des Geschehens gesteigert. Auf der einen Seite sehen wir den Schmerz und Kummer seiner Freunde, die sich im Vordergrund des Bildes befinden. In ihren Mienen spiegelt sich das Schicksal Christi wider. Auf der anderen Seite sehen wir die dramatische Gleichgültigkeit des normalen Menschen. Es ist eine neugierige und gaffende Menge, die hier zusammengelaufen ist und die offenbar nicht versteht, was sich als furchtbares Drama entwickeln wird – nur die Gruppe der weinenden Freunde im Vordergrund des Bildes, die sich von den übrigen Menschen abhebt, gibt davon Zeugnis.
LaRouche spricht in seinem Artikel von der Passion – gemäß dem Apostel Paulus die wichtigste Eigenschaft des Menschen – als Grundlage für die sozialen Beziehungen in der Gesellschaft. Ohne die Leidenschaft, für das Gute zu kämpfen, die in der Geschichte der Menschheit für viele Menschen den Märtyrertod bedeutete, wäre unsere großartige europäische Zivilisation niemals entstanden. Ohne diese Qualität der Passion hätte es nicht die schöpferischen Entdeckungen des Menschen im Bereich der Kunst und Wissenschaft gegeben.
In einem Brief, den der Philosoph, Wissenschaftler und Diplomat Gottfried Wilhelm Leibniz am 9. Mai 1691 an Madame de Brinon schrieb, geht er auf diese einzigartige Fähigkeit des Menschen ein. Er schreibt:
„Als ich mich früher damit beschäftigte, für die Moral klare ausdrucksvolle Begriffe zu gewinnen, untersuchte ich die recht schwierige Frage, wie es möglich ist, daß Liebe und Wohlwollen von jedem Eigennutz frei sein könne, da doch unser eigenes, wahres oder eingebildetes Wohl offenkundig das Ziel all unsrer willentlichen Handlungen ist und gerade hierin die unabdingbare Natur des Willens besteht. Als ich aber klar erkannte, daß Lieben nichts anderes ist als sein eigenes Vergnügen und Befriedigung im Glück oder der Vollkommenheit eines andern finden, schwand mein Bedenken und ich begriff leicht, wieso das Wohl des andern das unsre ist, ohne daß wir eigennützig lieben; denn alles, was wir wegen der bloßen Befriedigung, die es uns gibt, und ohne jede Rücksicht auf einen möglichen Nutzen wollen, wollen wir seiner selbst wegen und ohne Selbstsucht. Wir lieben Gott über alle Dinge, wenn wir unser ganzes Glück in der möglichen Erkenntnis seiner Vollkommenheit und seiner höchsten Seligkeit sehen. Auch die Caritas ist nicht andres denn eine allgemeine Liebe, die sich auf alles erstreckt, aber nicht wahllos, denn die Gerechtigkeit muß sie lenken, je nach dem Grade der Vollkommenheit, den man im Gegenstande findet oder in ihn hineinlegt. Und da Gott der ewige unwandelbare Quell aller Vollkommenheit und allen wahren Glücks ist, so folgt, daß keine Neigung edler und dauernder ist, als die, welche sich an Gott bindet oder sich im Gedanken an ihn auf den Nächsten richtet.
Es ist kein Zweifel, daß die Liebe zu Gott und zum Nächsten alle Christen dazu bringen müßte, ihren Sonderlehren abzusagen und sich wieder zu vereinigen, und alle Gedanken, die sich auf dies Ziel richten, sind edel und hochherzig, denn sie trachten nach dem allgemeinen Wohl.„
Leibniz hat in seinem kleinen Essay Über den ersten Ursprung der Dinge dargelegt, daß auch wenn die Menschheit viel Leid erfuhr und viele Menschen unschuldig Marter erleiden, dennoch diese Welt die moralischste und die „Beste aller Welten“ ist:
„So haben wir also den letzten Grund für die Realität sowohl der Wesenheiten als auch der existierenden Dinge in Einem, (Gott) das allerdings größer, höher und früher als die Welt selbst sein muß, da durch dasselbe nicht nur die existierenden Dinge, welche die Welt umfaßt, sondern auch die möglichen ihre Realität haben. Dieses kann aber nur in einer Quelle gesucht werden – wegen des Zusammenhanges aller Dinge. Es leuchtet auch ein, daß aus dieser Quelle die existierenden Dinge stetig hervorquellen, hervorgebracht werden und hervorgebracht worden sind, da man nicht einsieht, weshalb ein Zustand der Welt mehr als ein anderer, der gestrige mehr als der heutige, aus ihr fließen sollte. Auch leuchtet ein, wie Gott nicht nur natürlich, sondern auch frei handelt, daß in ihm nicht nur die wirkende, sondern auch die Zweckursache ist und daß er nicht nur der Größe oder Macht in der schon erschaffenen Maschine des Universums, sondern auch der Güte und Weisheit bei deren Erschaffung Rechnung trägt.
Damit nun niemand glaube, daß hier die moralische Vollkommenheit oder die Güte mit der metaphysischen Vollkommenheit oder Größe verwechselt werde – wobei man diese zwar zugesteht, jene aber leugnet –, so muß man wissen, daß aus dem Gesagten nicht nur folgt, daß die Welt physisch oder – wenn man lieber will –
metaphysisch die vollkommenste ist, oder daß diejenige Reihe der Dinge entstanden ist, in der das meiste an Realität verwirklicht wird, sondern daß sie auch moralisch die vollkommenste ist, weil die moralische Vollkommenheit in der Tat für die Geister selbst die physische ist. Die Welt ist daher nicht nur die bewunderungswürdigste Maschine, sondern auch – soweit sie aus Geistern besteht – der vortrefflichste Staat, durch welchen den Geistern die meiste Glückseligkeit oder Freude widerfährt – worin eben ihre physische Vollkommenheit besteht.
Allein man wird entgegnen, daß wir Gegenteiliges in der Welt erfahren, denn den Besten ergehe es sehr oft am schlechtesten, so daß nicht bloß die unschuldigen Tiere, sondern auch unschuldige Menschen heimgesucht, ja selbst unter Martern umgebracht werden; und endlich, daß die Welt, besonders wenn man die Regierung des Menschengeschlechtes betrachte, mehr eine Art verworrenen Chaos scheine als eine von der höchsten Weisheit ausgehende Sache. Ich gebe zu, daß dies auf den ersten Blick so scheint.“
Der Grund hierfür liegt darin, so erklärt Leibniz weiter, daß der Mensch schließlich nur einen kleinen Teil der sich ins Unermeßliche erstreckenden Ewigkeit kennt.
„Denn ein wie kleines Stückchen ist die Erinnerung an einige Jahrtausende, die uns die Geschichte überliefert! Und dennoch urteilen wir ohne Überlegung aus einer so geringen Erfahrung über das Unermeßliche und Ewige, so wie Menschen, die im Gefängnis oder – wenn man will – in den unterirdischen Salzbergwerken der Sarmaten geboren und erzogen werden, nichts anderes in der Welt für Licht halten, als jenes spärliche der Lampen, das kaum ausreicht, die Schritte zu lenken. Wir mögen ein herrliches Gemälde schauen und es bis auf ein kleines Stückchen verdecken: was anders wird sich dann zeigen (wie gründlich man auch hinschauen, wie nahe man es auch betrachten wird) als eine verworrene Masse von Farben, ohne Wahl, ohne Kunst; und dennoch wird man, wenn man nach Entfernung der Bedeckung das ganze Gemälde in der passenden Lage betrachtet, einsehen, daß das, was planlos auf die Leinwand geschmiert schien, vom Urheber des Werkes mit höchster Kunstfertigkeit gestaltet worden ist. Was hier – in der Malerei – für das Auge gilt, das erleben die Ohren in der Musik. Selbst die besten Komponisten mischen oft Mißtöne mit Wohlklängen, damit der Zuhörer erregt und gleichsam gekränkt werde; so in Sorge um den Ausgang, wird er um so mehr erfreut, wenn bald alles zur Ordnung zurückgekehrt ist; ganz so, wie wir uns nach kleinen Gefahren oder erlebten Übeln freuen, da sie uns einen Hinweis entweder auf unsere Kraft oder auf unser Glück gegeben haben.
Was aber die Schicksalsschläge besonders der guten Menschen angeht, so muß man für gewiß halten, daß diese für sie in größeres Gut Übergehen, und das ist nicht nur theologisch, sondern auch physisch wahr: so wie das Korn, das in die Erde gesät wird, leidet, ehe es Frucht bringt. Überhaupt läßt sich sagen, daß die Schicksalsschläge für den Augenblick Übel, in ihrer Auswirkung aber Güter sind, weil abgekürzte Wege zur größeren Vollkommenheit; ähnlich wie in der Natur langsamer gärende Flüssigkeiten auch langsamer besser werden, wohingegen jene, in denen die Gärung infolge der mit größerer Gewalt ausgestoßenen Teile heftiger ist, sich schneller verbessern. Davon sagt man: weiche ein wenig zurück, um mit desto größerem Schwung einen Sprung vorwärts zu machen (qu’on recule pour mieux sauter). Man muß also festhalten, daß diese Gedanken nicht nur angenehm und tröstlich, sondern auch durchaus wahr sind. Und ich meine, daß überhaupt nichts wahrer ist als die Glückseligkeit und nichts beglückender und süßer als die Wahrheit.
Es muß im Ganzen auch ein gewisser stetiger und durchaus freier Fortschritt des ganzen Universums zur Schönheit und Vollkommenheit aller göttlichen Werke anerkannt werden, so daß die Kultur immer höher wird, wie ja in unserer Zeit ein großer Teil unserer Erde Kultur erhalten hat und mehr und mehr erhalten wird. Und wenn es auch wahr ist, daß mitunter manches wieder ins Holz wächst oder wieder zerstört und unterdrückt wird, so muß man dies doch so auffassen, wie wir wenig vorher die Schicksalsschläge gedeutet haben, daß nämlich diese Zerstörung und Unterdrückung zur Erreichung eines Höheren führt, so daß wir auf gewisse Weise selbst aus dem Schaden Nutzen ziehen.
Wenn man aber einwenden könnte, auf diese Weise müßte die Welt offenbar schon längst ein Paradies geworden sein, so ist darauf die Antwort zu geben: Wenn auch viele Substanzen schon zu großer Vollkommenheit gelangt sind, so sind doch – wegen der unendlichen Teilbarkeit des Kontinuums – die im Abgrunde der Dinge noch schlafenden Teile zu erwecken und zu etwas Größerem und Besserem, mit einem Worte: zu einer besseren Kultur hinzuführen. Folglich wird der Fortschritt niemals zu einem Ende gelangen.“