„Wenn jeder sich frei ausdrückt, entsteht diese herrliche Musik!“
Der Kölner Pianist Günter Ludwig ist auch nach seiner Pensionierung als Professor der renommierten Kölner Musikhochschule einer der gefragtesten Klavierpädagogen. Nach seiner ersten musikalischen Ausbildung am Musikgymnasium in Frankfurt/Main während des Krieges studierte er Klavier bei August Leopolder und Marguerite Long sowie Dirigieren bei Kurt Thomas. Viele Preise bei internationalen Wettbewerben und unzählige Auftritte auf der ganzen Welt, u. a. als Solist unter so bedeutenden Dirigenten wie Günter Wand, Istvan Kertesz, Karl Münchinger und Sir George Solti sowie als Partner von so großen Musikern wie dem Cellisten Janos Starker und den Geigern Henryk Szeryng, Arthur Grumiaux, Nathan Milstein, Max Rostal und Norbert Brainin zeugen von einer erfolgreichen Karriere. Seine besondere Liebe gilt aber der Kammermusik, die er auch als Liedbegleiter seiner Frau und im „Trio Ludwig“ mit seinen beiden hochbegabten Söhnen intensiv pflegt. Mit Norbert Brainin, dem ehemaligen Primarius des Amadeus-Quartetts, hat er in den letzten Jahren zahlreiche Konzerte gegeben; davon die meisten seit dem ersten „Konzert in der Verdi-Stimmung“ im Dezember 1988 in München in der wissenschaftlichen (tiefen) Stimmung von c‘ = 256 Hz. Ende Juni unterhielt sich Ibykus mit ihm über seinen persönlichen Werdegang und seine Ansichten zur klassischen Musik sowie deren Bedeutung für die Erziehung. Mit Günter Ludwig sprachen Ortrun und Hartmut Cramer.
Herr Professor Ludwig, unser heutiges Gespräch soll sich mit der Frage beschäftigen, welche Rolle die Klassik in der heutigen Zeit spielt. Uns interessieren Ihre Gedanken aus Ihrer Sicht als Künstler und Lehrer, aber auch als Vater zweier sehr begabter Söhne, die an der Schwelle zu einem selbständigen Künstlerleben stehen.
Wir wissen aber, daß Ihr persönlicher Werdegang diese Frage in ein ganz besonderes Licht taucht. Vielleicht könnten Sie eingangs ein wenig aus Ihrem eigenen Leben erzählen? Wie Sie überhaupt zur Musik gekommen sind, und welche entscheidenden Impulse Sie empfangen haben, in einer Zeit von Krieg, Zusammenbruch und Neubeginn?
Sie erleichtern mir die Antwort auf eine so gewichtige Frage, wenn ich mir einen kleinen Umweg erlauben darf.
Ich stamme aus einem Arbeiterdorf, Großkrotzenburg, in der Nähe von Hanau – wo Paul Hindemith geboren wurde.
Wie kam ich zur Musik?
Den Anstoß dazu gab mein Vater. Als er mit 14 Jahren seine Schulzeit abschloß, wollte er nicht in die Pulverfabrik, in der sein Vater 40 Jahre lang gearbeitet hatte. Er suchte eine Alternative und begann eine Ausbildung zum Goldschmied an der Zeichenakademie. Sein Lebenstraum war, etwas Schönes zu machen. Doch ein Jahr später war der Traum zu Ende. Es war die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg, die Inflation brach aus. Bald ging er in dieselbe Fabrik wie sein Vater und blieb dort genauso lange, nämlich 40 Jahre.
Aber dort fand er einen Arbeitskameraden, der Akkordeon spielte. Das hat meinen Vater sehr beeindruckt, denn das lag auf der Spur seiner Träume, etwas Schönes zu machen.
Dieser Akkordeonspieler wurde mein erster Musiklehrer. Er kam einmal in der Woche aus dem Nachbardorf zu uns, um mich zu unterrichten.
Zwei Jahre später kaufte mein Vater ein gebrauchtes Klavier, mit mühsam verdientem Geld. Ich war fleißig und durfte bald im Karnevalszug Akkordeon spielen. In einem Indianeranzug spielte ich Märsche, Schlager und An der Schönen Blauen Donau!
Klassische Musik galt damals bei uns auf dem Dorf noch als Luxus für feine Leute.
Eines Tages besuchte ich mit meinem Vater ein Krankenhaus in Hanau. Dort lagen Kriegsverletzte aus Frankreich. Für sie machte ich Musik auf dem Akkordeon, das war sozusagen mein erster Auftritt in einem „Konzertsaal“.
Mein Leben fand eine neue Bahn, nachdem der Bürgermeister meinen Vater auf ein Internat in Frankfurt hingewiesen hatte, wo musikalisch begabte Kinder unterrichtet wurden. Bei der Aufnahmeprüfung spielte ich Bach und Haydn, auf dem Akkordeon: Märsche und Strauß-Walzer. Ich wurde aufgenommen und erhielt sogar ein Stipendium – nur mein Akkordeon mußte zu Hause bleiben.
In dieser Schule wurde gewissermaßen die Basis für meine
ästhetische Erziehung gelegt. Vier Jahre lang lebte ich im Internat, nur in den Ferien kam ich nach Hause.
Wie muß man sich diese Schule vorstellen? Gab es dort eine ganz normale Gymnasialausbildung in allen Fächern, mit Schwerpunkt Musik?
Das „Musische Gymnasium“ war ein Realgymnasium, mit Englisch, Latein und einer dritten Fremdsprache. Im Zentrum stand aber die Musik; wir weckten uns morgens mit Musik, mit Kanons oder mit selbst komponierten Instrumentalstücken. Vor dem Mittagessen und nach dem Abendessen wurde gesungen. Mehrmals wöchentlich gab es Gehör- und Stimmbildung, Chorsingen und Orchester-Proben, auch als Vorbereitung für Konzertreisen. Der Direktor der Schule war Kurt Thomas, schon damals ein berühmter Mann, Komponist und Chorleiter. Mein Klavierlehrer war Jürgen Uhde, der versuchte, mir ein schönes Cantabile auf dem Klavier beizubringen. Unsere Instrumentallehrer waren hervorragend. Die Ausbildung zielte aber nicht primär daraufhin, Virtuosen heranzubilden. Leo Kestenberg, einer der Initiatoren unserer Schule, hatte vielmehr eine allgemeine Erziehung im Sinn, bei der die Musik einen zentralen Raum einnehmen sollte.
Am Ende des Krieges, 1945, wurde die ausgebrannte Schule aufgelöst.
Damals war ich 14 Jahre alt, und meine Schulzeit war – für immer – zu Ende. Ich ging zurück in mein Heimatdorf, lebte mit meiner Mutter und versuchte, uns mit Tanzmusik am Leben zu halten. Viele Nächte habe ich über Jahre in einer Tanzkapelle für amerikanische Soldaten gespielt. Für Geld, aber – noch wichtiger – für Schokolade, Kaffee, und Zigaretten.
Wenn ich morgens nach Hause kam, schlief ich ein paar Stunden. Dann habe ich Geist und Seele gestärkt mit Bach, Beethoven und vielen anderen geliebten Komponisten.
Als mein Vater aus der Kriegsgefangenschaft nach Hause kam, verlangte er, daß ich die Musik als Beruf aufgeben sollte. Er war zu Recht besorgt, aber seine Forderung weckte nur meinen Widerspruch. Von diesem Tag an war für mich entschieden, daß ich Musiker bleiben würde.
Ich hatte kaum eine Ahnung, was für ein Weg noch vor mir lag.
Die Wiederaufnahme meines Studiums ein Jahr nach Kriegsende verdanke ich einem ehemaligen Schulkameraden, der eines Tages an die Tür klopfte. Er nahm mich mit nach Frankfurt, wo ehemalige Internats-Schüler sich zusammenfanden. In kleinen Gruppen erhielten wir Privat-Unterricht in Geschichte, Sprachen und Musik. Es gab eine Kantorei, geleitet von Kurt Thomas. In ihr fanden wir Zuflucht, Ermutigung und wurden gebraucht! Um Chorproben zu leiten, für Hauskonzerte, und um Klavierunterricht zu geben.
Weil in dem Chaos der Nachkriegsjahre das Schulsystem nicht funktionierte, haben sich die Lehrer aus der alten Schule zusammengetan …
… und haben uns unterrichtet, ja – ohne etwas zu verdienen. Sie taten es aus dem Gefühl der Verantwortung für uns. Und wir haben alles in uns aufgenommen, was wir finden konnten, in unserem Hunger nach Musik, Literatur und jeder Art geistiger Nahrung. Das war eine aufregende Zeit.
Etwa zur gleichen Zeit fand ich in August Leopolder einen großartigen Lehrer für mein Klavierstudium. Er war bei aller Liebe außerordentlich streng – und das war wohl nötig. Ihm verdanke ich eine systematische Ausbildung und unschätzbare Hilfe bei der Vorbereitung meiner ersten Konzerte. Ich hatte zweimal im Monat Unterricht, aber er sah nicht auf die Uhr, während wir studierten, und aus einer Stunde wurden meist zwei oder auch drei.
Heute kann man sich schwer vorstellen, daß ich als 16jähriger kaum etwas gehört hatte von den großen Komponisten des 20. Jahrhunderts. Als ich zum ersten Mal Le Sacre du Printemps hörte und im gleichen Konzert auch noch das 3. Klavierkonzert von Bartók, war ich außer mir vor Begeisterung: Ich entdeckte die Welt, in der ich lebte! Wie die jungen Komponisten meiner Generation schreiben, erfuhr ich in Darmstadt-Kranichstein. Wir hörten, was gerade komponiert wurde. Boulez, Stockhausen und viele andere waren selbst anwesend und debattierten über ästhetische Fragen.
Ich erzähle das alles so ausführlich, weil das der Umkreis war, aus dem heraus ich versuchte, allmählich auch die großen Komponisten der Vergangenheit besser zu verstehen und in eine Verbindung zu meinem eigenen Leben zu bringen. Denn wie sonst sollte ich dem näherkommen, was vor vielen Generationen entstanden war, wenn nicht über die Welt, in der ich – bei aller Unsicherheit – selbst zu Hause war? In unserer Welt des Umbruchs, aber auch der Zuversicht auf eine bessere Zukunft gab es wenig Glanz und Bequemlichkeit. Aber wir hatten eine Position und kaum eine Wahl, das waren Vor- und Nachteil zugleich. Es war relativ leicht herauszufinden, was die Menschen im Konzertsaal suchten. Musik schien so wichtig zu sein wie gutes Brot.
1950 wurde dann die Frankfurter Musikhochschule wieder eröffnet. Fünf Jahre hatte es gedauert, wenigstens einige Räume des zertrümmerten Hauses wiederherzustellen!
Leopolder wurde einer der ersten Lehrer und brachte eine Gruppe von Studenten mit, die alle vorher bei ihm privat studiert hatten. Ich war einer davon. Aber nach einem Jahr brach ich mein Studium ab, ohne Examen.
Ein junger bulgarischer Pianist hatte mich dazu überredet, mit nach Paris zu kommen, um der großen Pianistin Marguerite Long vorzuspielen. Als ich mich dieser legendären Person, die noch Werke von Fauré und Ravel uraufgeführt hatte, vorstellte, klopfte mir das Herz, und ich spürte sofort, daß wir aus verschiedenen Welten kamen.
Als sie mir empfahl, mehr Liszt und Mendelssohn zu spielen, konnte ich nicht verhindern zu sagen: „Je n’aime pas.“ So beschränkt war ich damals, mit 20 Jahren! Sie hat mich trotzdem einige Male angehört in ihrem berühmten Cours am Dienstagnachmittag, vor einem bunten Publikum von Kennern, Kritikern, Neugierigen und hochbegabten jungen Virtuosen. In meinen Noten erinnern mich noch einige rote Kreise an ihren berühmten crayon rouge.
Wider Willen habe ich viel von ihr gelernt.
Waren Sie damals ständig in Paris?
Das wäre schön gewesen! Ich war zwar Stipendiat der Studienstiftung des Deutschen Volkes. Aber Paris war damals schon sehr teuer.
Vielleicht sollten wir jetzt übergehen zum eigentlichen Gegenstand unserer Diskussion: Was bedeutet die Klassik für Sie?
In meiner Jugend war der Begriff „klassisch“ identisch mit „apollinisch“ – im Gegensatz zu „dionysisch“. Mich hat das schon damals nicht überzeugt. Wenn wir ein Streichquartett von Haydn, Mozarts „Jupiter-Symphonie“ und Beethovens „Appassionata“ unter „Wiener Klassik“ zusammenfassen, bekomme ich Schwierigkeiten beim Definieren dieses altehrwürdigen Begriffs. Bereits beim Vergleich von Figaros Hochzeit mit Don Giovanni kann mir Apollo nicht helfen. Das Klischeebild vom „Schönen, Wahren, Guten“ war nur zeitweise gültig. Es ist längst abgegriffen.
Die Formbegriffe Sonate, Streichquartett, Symphonie kann man zu Recht als klassische Form bezeichnen. Die Beherrschung dieser Formen war Voraussetzung für einen Komponisten um das Jahr 1800.
Vielleicht kommen wir weiter, wenn wir uns die Entstehung einer Komposition vergegenwärtigen. Mozart, so heißt es, hat meist schnell aufs Papier gebracht, was in seiner Vorstellung gereift, quasi „fertig“ war.
Von Beethoven wissen wir, daß er auf dem Notenpapier Kämpfe ausgetragen hat, bis seine Vorstellungen die ihn befriedigende Form gefunden hatte. Es war oft ein langwieriger Prozeß.
Und das ist es, was mich am meisten interessiert bei einer Komposition: „Wie kam es dazu? Wie ist sie entstanden?“
Deshalb bleibt Mozart für mich immer ein Mirakel. Ich kann ihn nur bewundern. Begreifen kann ich es nicht.
Beethoven läßt mich gelegentlich über die Schulter sehen beim Komponieren. Ich bin ihm etwas näher. Ich staune über seine schöpferische Potenz und erschrecke über seine Rigorosität. Was mich am stärksten bewegt, ist seine Wärme, seine Liebeskraft (so möchte ich es nennen). Dieser Gefühlsradius zwischen zärtlich und gewalttätig ist ungeheuerlich. Letztlich – und das macht seinen objektiven Rang aus und seine Bedeutung für mich – ist es die Kraft und Sicherheit seines Geistes. Wie er bei einem solchen urgewaltigen Temperament die überquellende Fülle seiner Phantasie bändigt und in immer neue Formen bringt: Das ist eine unerschöpfliche Quelle der Inspiration für mich. Eine stärkende und reinigende Quelle. Er fordert mich heraus.
Ich hätte auch sagen können: „Klassisch“ ist, wenn Inhalt und Form im Gleichgewicht stehen. Das ist wohl richtig, aber die akademische Schublade paßt mir nicht. Das Gleichgewicht anzustreben ist eine Tugend. Wenn aber das vollkommene Gleichgewicht eintritt, haben wir ein totes Gebilde. Darin unterscheiden sich die guten Handwerker von einem Genie.
Könnten Sie noch einmal Ihre Sicht über die Moderne von heute erläutern, in der, sicherlich als Ausdruck des Zeitgeistes, das Über-Individualistische sehr stark zum Ausdruck kommt?
In der Kölner Triennale wurden im Mai/Juni in über hundert Konzerten nur Kompositionen aus dem 20. Jahrhundert aufgeführt. Die Resonanz war außerordentlich stark. Die Menschen gingen hin um zu hören, um zu erleben, was und wie in unserem ausklingenden Jahrhundert komponiert wurde. Denn die Musik von heute zeigt uns, wie wir heute fühlen und denken – was wir suchen – was uns plagt. Ich würde Mozart und Beethoven anders hören, wenn ich die Musik meiner Zeit nicht kennen würde. Das hängt doch zusammen. Das meiste von Schubert ist melancholisch. Er schrieb es aufs Papier, um sich zu befreien von dem, was ihn schmerzte. Weil er die Kraft dazu hatte und das Können.
Woher nehmen wir das Recht, von der Kunst nur „Harmonie“ zu erwarten. Vielleicht sind die Dissonanzen unserer Musik die Geburtswehen einer neuen Sprache? Uns bewegen andere Ängste als Mozart und Beethoven. Unsere Freude entspringt anderen Motiven. Also klingt unsere Musik auch anders.
Wir möchten uns noch auf ein anderes Gebiet begeben: Sie sind sehr viel in der Welt herumgereist, haben in vielen Ländern konzertiert und Studenten aus aller Welt unterrichtet. Sie sind also sehr viel in Kontakt gekommen mit anderen Kulturkreisen, anderen Kulturen. Wie gestalten sich die Begegnungen, und welche Impulse meinen Sie dabei geben zu können?
Sie wissen ja, daß ich mit einer koreanischen Sängerin verheiratet bin. Wir sind gerade dabei, ein Konzertprogramm mit Liedern von Hugo Wolf nach Gedichten von Mörike vorzubereiten.
Ich habe ich mich oft darüber gewundert, daß viele Asiaten sich so stark von der europäischen Musik angezogen fühlen.
Offensichtlich hat es in einigen asiatischen Ländern eine starke Veränderung im Lebensgefühl gegeben, die u. a. auch das Bedürfnis nach einer anderen Musik geweckt hat. Der Einfluß des Christentums spielt dabei wohl eine wichtige Rolle. Noch bis vor etwa 100 Jahren war die europäische Harmonik, unser Formverständnis, unsere Dramatik eine fremde Welt für Asiaten.
Auch heute, das ist mein Eindruck, fühlen sich Asiaten am stärksten angesprochen von europäischen Liedern und Arien. Auch die virtuose Instrumentalmusik des 19. Jahrhunderts ist sehr beliebt.
Wenn ich einem guten koreanischen Musiker – und es gibt eine ganze Reihe – aufmerksam zuhöre, bilde ich mir ein, im Hintergrund noch etwas von Buddha zu spüren. Das gefällt mir. Wenn es um Fragen der Interretation geht, können sich auch Europäer leicht in die Haare kriegen. Jedenfalls glaubt doch niemand, nur weil ein Musiker aus Hamburg kommt, würde er besser Brahms spielen.
Um gut Brahms zu spielen, muß man zunächst gute Interpretationen von Brahms hören. Man muß zuhören lernen, das Besondere dieser Musik zu erkennen. Möglichst schon als Kind. Dazu braucht man eine musikalische Erziehung, nicht nur eine musikalische Natur. In Korea wie in Deutschland.
Wir möchten gerne zu einem anderen, aber verwandten Thema überleiten. Anfang 1993 haben Sie zusammen mit Norbert Brainin zwei Konzerte in den USA gegeben, darunter eines in der Baptist Church in Birmingham, Alabama. Dieses Konzert wurde vom Schiller-Institut aus Anlaß des 25. Jahrestages der Ermordung Dr. Martin Luther Kings veranstaltet. Diese Kirche ist bis heute ein Mahnmal der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung; 1965 verübten rassistische Fanatiker dort einen Bombenanschlag, bei dem vier kleine Mädchen, die gerade die Sonntagsschule besuchten, getötet wurden.
Sie spielten das Konzert vor einem sehr ungewöhnlichen Publikum, denn für die meisten war es das erste Mal, daß sie ein klassisches Konzert besuchten. Aber sie nahmen die Musik so unmittelbar auf, daß es kaum beschreibbar ist.
Ich erinnere mich noch stark an dieses Konzert. Als ich mit Norbert Brainin in den Saal ging, empfing uns eine solche Welle der Erwartung und der Aufnahme-Bereitschaft, wie ich es selten erlebt habe. Als würde die Musik aus mir herausgezogen.
Die Zuhörer kamen natürlich, um Martin Luther King zu ehren. Aber die Kraft, die ihren Enthusiasmus entzündete und uns alle für zwei Stunden miteinander verband, war die Musik selbst.
Das war ein wunderbares Glücksgefühl.
Sie haben sich ja auch sehr fruchtbringend in der Kammermusik betätigt; wir vermeiden bewußt das Wort „erfolgreich“, weil das immer den Beigeschmack von Profit hat …
Mit Kammermusik kann man nicht viel Geld verdienen. Aber die Freude, wenn man sich mit seinen Partnern versteht, ist unvergleichlich. Davon träumen doch nur die meisten Menschen: daß jeder sich frei ausdrücken darf und doch etwas Gemeinsames entsteht! Und nur, wenn jeder sich frei ausdrückt, entsteht diese herrliche Musik!
Ich fühlte mich sehr früh im Ensemblespiel zu Hause. Vielleicht auch deshalb, weil ich auf diese Weise mit vielen großartigen Musikern zusammenkam. Das brauchte ich.
Ihre beiden Söhne waren Bundessieger im Triospiel beim Wettbewerb Jugend musiziert. Wie sehen die jungen Leute die Kammermusik?
Meine beiden Söhne – der ältere spielt Geige, sein Bruder Violoncello – sind mit Kammermusik großgeworden. Wenn Gäste ins Haus kamen, wurde musiziert. So wuchsen sie allmählich in die Musik hinein. Wie man gehen und sprechen lernt, bevor man in die Schule kommt. Ehe sie anfingen, selbst ein Instrument zu spielen, hatten sie das Wichtigste bereits in sich aufgenommen über das Gehör.
Bevor sie am Klavier die ersten Fingerübungen machten, konnten sie alle Dur- und Moll-Akkorde spielen und viele Lieder singen und in allen Tonarten auf dem Klavier spielen.
Das gab ihnen auch die innere Sicherheit, die mühevollen Anfänge auf dem Streichinstrument durchzustehen.
Mit mir spielten sie am liebsten Klaviertrio. Zuerst die Wiener Klassik und bald alles, was es so gibt.
Sie können sich vorstellen, was für eine Freude das für mich war!
Inzwischen spielen sie Klaviertrio mit einem jungen Pianisten. Sie haben einige Preise gewonnen und Stipendien und spielen viele Konzerte – auch als Solisten mit Orchester.
Sie hatten nie die Attitüde von Wunderkindern. Es geht immer um die Musik und jedes Konzert ist etwas Besonderes.
Wir begründen unseren Optimismus darauf, daß selbst in einer Zeit wie der heutigen, die von so vielen Zerfalls- und Zersetzungserscheinungen begleitet ist, höhere Werte, die scheinbar weit entlegen sind, in jungen Menschen wachrufbar sind. Herzlichen Dank für das Gespräch.