Dieser Aufsatz wurde von Lyndon LaRouche am 6. Juni 2005 verfaßt und erschien auf englisch in dem Magazin Executive Intelligence Review Jg. 32, Nr. 25, 24. Juni 2005. Die hier für den Nachdruck verwendete deutsche Übersetzung erschien in drei Teilen in Neue Solidarität Nr. 40–42, 2006.
Vorwort
Kürzlich erinnerte mich meine Frau Helga Zepp-LaRouche daran, daß Kardinal Nikolaus von Kues betont hatte, die Entdeckung universeller Naturprinzipien durch den Menschen verändere das Universum in dem Sinne, daß neue wirkende Kräfte erzeugt werden. Man sollte anmerken, daß Helga sich seit etwa drei Jahrzehnten, unterschiedlich intensiv, mit dem Werk des Cusaners befaßt. Sie begann damit Mitte der 70er Jahre, von mir nachdrücklich ermutigt, als sie häufig den damals weltweit führenden Kues-Experten, Prof. Haubst von der Cusanus-Gesellschaft, konsultierte.((Nikolaus gründete in seiner Geburtsstadt Bernkastel-Kues, deren Name er trägt, ein Heim für pensionierte Geistliche, direkt an der Mosel, in der sein Vater Krebse gefischt hatte. Ich habe diese immer noch bestehende Stiftung in Helgas Begleitung oft besucht, u. a. anläßlich einer gut besuchten Feier meines 65. Geburtstages 1987, wo der Leiter des berühmten Amadeus-Quartetts, mein kürzlich verstorbener Freund Norbert Brainin, mir zu Ehren spielte. Kapelle und Bibliothek sind noch heute erhalten, und die Stiftung finanziert sich, wenigstens zum Teil, aus den jährlichen Erlösen ihres Weines.
Nikolaus von Kues hat durch mehrere Initiativen wesentlich zur Grundlegung der neuzeitlichen Zivilisation beigetragen: sein Plan der Gründung moderner, souveräner Nationalstaaten (Concordantia catholica), um die venezianisch-normannische Tyrannei der ultramontanen Ordnung zu beenden – seine Gründung der neuzeitlichen wissenschaftlichen Experimentalphysik eines Luca Pacioli, Leonardo da Vinci und solcher Nachfolger Keplers wie Fermat und Leibniz, und der Nachfolger von Leibniz wie Carnot, Arago, Ampère, Gauß, Wilhelm Weber, Dirichlet und Riemann (De Docta Ignorantia) –, sein entscheidender Beitrag zum Erfolg des großen ökumenischen Konzils von Florenz und das von ihm angestoßene Projekt, das Christoph Kolumbus zu seinen transozeanischen Entdeckungsfahrten anregte. Professor Haubsts eigene Werke über das Erbe des Cusaners hinterlassen ein lebendiges Zeugnis eines begeisterten, energischen Glaubens und eines außergewöhnlichen Wissens.))
In unserem innerfamiliären Dialog haben wir Kues‘ Gedankengang unterschiedlich dargestellt, aber wir hatten beide Recht. Die Erklärung dieses scheinbar paradoxen Punktes wird für die internationale LaRouche-Jugendbewegung und andere von Interesse sein, deshalb liefere ich hiermit die entsprechende Erklärung.
Wie ich im folgenden betone, hat jede nachweisbare Entdeckung eines universellen Prinzips des physischen Universums zwei Aspekte. Dies betrifft, als wirkende physische Prinzipien, auch jene wahren Prinzipien der klassischen künstlerischen Komposition, mit denen sich unsere Vereinigung in den letzten Jahrzehnten befaßt hat – beispielsweise die Bedeutung der Stimmung c‘ = 256 Hertz für die Komposition und Aufführung von Musik mit Wohltemperierung und Florentiner Belcanto-Gesang. Der erste Aspekt jeder nachweisbaren Entdeckung eines universellen Prinzips ist, wie der Geist des betreffenden Entdeckers ein schon existierendes universelles Prinzip in seinem Ausdruck als Potential erkennt. Aber dann benötigen wir, als zweites, einen experimentellen Beweis dieses Potentials, welches, wenn der Mensch es entdeckt und anwendet, der Menschheit dann in einer Art und Weise dient, die das Universum verändert. So vergrößert also eine neue Entdeckung eines Prinzips, zumindest indirekt, die Macht des Menschen im und über das Universum. Nikolaus von Kues behandelt in seinem Werk beide Aspekte des Entdeckungsprozesses, aber, wie Helga zu Recht betont hat, hebt der Kardinal den zweiten, die Rolle des Menschen als Schöpfer in der heiligen Ebenbildlichkeit des Schöpfergottes, besonders hervor. Nikolaus von Kues tat dies auf eine Art und Weise, die ihn heute in der Rückschau zu dem bedeutendsten unter den Renaissance-Denkern macht, denen wir die allgemeinen Grundgedanken zu verdanken haben, auf denen die besonderen Errungenschaften der neuzeitlichen europäischen Zivilisation im Vergleich zu früheren Zeiten beruhen.
So liegt das Eigentümliche der Entdeckung eines Prinzips durch den Menschen darin, daß eine allgemeine Implikation des existierenden Universums entdeckt wird – ein Potential, das bis dahin dem Wissen der Menschheit verborgen geblieben war. Indem der Mensch auf der Grundlage dieses entdeckten Potentials handelt, verändert er das Universum, er versetzt es in einen neuen dynamischen Zustand. Dies bestätigt wieder einmal die Sicht Heraklits und Platons, daß es im Universum keine Ausnahme von der ständigen qualitativen Veränderung als grundsätzlicher ontologischer Realität der Vorgänge gibt.((In der neuzeitlichen Form kommt diese Auffassung ständiger qualitativer Veränderung als Prinzip, wie sie Heraklit oder Platon vertreten, in der modernen Naturwissenschaft in Bernhard Riemanns Darstellung der „Theorie der Abel’schen Functionen“ (1857) zum Ausdruck.)) Das Universum ist kein Bereich, in dem manchmal Änderungen der Prinzipien erlaubt werden. Das Universum wird ständig auf diese Weise verändert, ändert sich ständig selbst, wie es beispielsweise Heraklit und Platon, aber auch W. I. Wernadskij in seiner Ausarbeitung der Vorstellung von Biosphäre und Noosphäre betont haben.
Deshalb hatten wir, Helga und ich, beide Recht.
Dies sollte unser aller Aufmerksamkeit auf den Begriff des „Realisierens“ oder „Verwirklichens“ lenken: auf die Frage, wie wir diesen Begriff in der wissenschaftlichen Praxis anwenden sollten. Das betrifft natürlich auch das Fach, in dem ich eigene Entdeckungen gemacht und außergewöhnliches Fachwissen angesammelt habe, das Fachgebiet der angewandten Wirtschaftswissenschaft als Naturwissenschaft, wie Gottfried Wilhelm Leibniz sie als erster in seinen betreffenden Arbeiten zwischen 1671–1716 definierte.
Seit ich in dem Wochenmagazin Executive Intelligence Review am 3. Juni 2005 meinen Aufsatz über „Wernadskij und das Dirichlet-Prinzip“((Auf deutsch erschienen in FUSION, Jg. 26, Nr. 2, 2005.)) veröffentlichte, haben meine Mitarbeiter, insbesondere die LaRouche-Jugend, dem Thema der „Dynamik“ vermehrt Aufmerksamkeit gewidmet. Bruce Director, Dr. Jonathan Tennenbaum und Mitglieder der LaRouche-Jugendbewegung haben ihre wissenschaftliche Bildungsarbeit beschleunigt, da die moderne Lehre in der Volkswirtschaft und anderen Fächern für die heutige und zukünftige Praxis der Menschheit allgemein vom Standpunkt der Riemannschen Theorie der Abelschen Funktionen neu definiert werden muß.
Dabei ist zu betonen, daß wir in diesem Bericht den Begriff der Kraft immer in dem Sinne verwenden, wie ihn Leibniz verwendete – sowohl bei seiner Gründung der physischen Wirtschaftswissenschaft als auch bei seiner Neudefinition der Grundlage der gesamten Physik nach dem Werk des Kues-Nachfolgers Johannes Kepler. Wenn man diesen Aufsatz liest, sollte man daran denken, daß dieser Kraft-Begriff bei Leibniz in den Begriffen zur Dynamik zum Ausdruck kommt, mit denen Leibniz (gemeinsam mit Jean Bernouilli) die einzige kompetente Grundlage des Kalkulus entdeckte und entwickelte, nämlich das auf die Kettenlinie gestützte Prinzip der universellen geringsten Wirkung. Im übrigen beruhten alle meine Erfolge – im Gegensatz zum bisherigen Versagen aller meiner beruflichen Konkurrenten auf dem Gebiet der Wirtschaftsprognosen – darauf, daß ich die mechanistische Methode, auf die sich meine Fachkonkurrenten in ihren veröffentlichten Argumenten verlassen, verworfen habe.
Nun, da der wirtschaftliche Zusammenbruch des gegenwärtigen weltweiten Währungs- und Finanzsystems seinem Höhepunkt entgegeneilt, haben viele, die früher meine Warnungen vor den drohenden Gefahren gerne als übertrieben oder sogar völlig falsch abtun wollten, meine langgehegten, reichlich bestätigten Ansichten zur Volkswirtschaft zustimmend neu beurteilt. Viele im In- und Ausland möchten nun meine Einschätzungen und Vorschläge als wichtig einschätzen, aber um so mehr neigen sie zur Sorge: Sie fürchten, wenn sie einiges an meiner Arbeit akzeptieren oder bewundern, könnten sie mögliche Fehler meinerseits in anderen Bereichen übersehen. Ich bin daher verpflichtet, für die wachsende Zahl einflußreicher und anderer Personen, die meine Weltsicht in ihrer vollen Bedeutung auch über das zur Wirtschaft bereits ausdrücklich Gesagte hinaus kennenlernen wollen, noch einmal die Gesamtheit meiner Methoden und Weltsicht transparent zu machen.
Die jüngste kurze Diskussion mit Helga über das Werk des Cusaners ist daher ein angemessener Ausgangspunkt, um eine solche größere Bandbreite von Fragen zu behandeln.
Den Ursprung meiner Entdeckungen im Gebiet der physischen Wirtschaftswissenschaft, kann ich, wie ich früher schon öfter berichtete, auf ein Ereignis zu Beginn meines Geometrieunterrichtes in der Sekundarstufe zurückverfolgen.((Siehe Lyndon H. LaRouche jr., „Science: The Power to Prosper“, EIR, 29. April 2005, S. 6: „Some Relevant Personal Background“.)) Ich kann aber bis heute, fast 70 Jahre später, noch nicht sagen, inwieweit dieser Vorfall mich dazu veranlaßte, mich der Leibnizschen Richtung anzuschließen, und wieviel mein unersättlicher Lesehunger für englische Darstellungen der französischen, englischen und deutschen Philosophen des 17. und 18. Jh. damals zu meiner Aussage in der ersten Geometriestunde beitrug. Sicher ist, daß ich ungefähr seit jener Zeit ein überzeugter Anhänger von Leibniz war und geblieben bin.
Genau das ist der technische Fehler in den Werken und Meinungen meiner namhaften Konkurrenten im Bereich der Wirtschaftsanalyse und -prognose. Sie hatten sich an dem Punkt, als sie eine Methode wählen mußten, für den falschen Weg entschieden. Ihr bisheriges Versagen wurzelt in ihrer Vorliebe für mechanistische Methoden, weil sie unter äußeren Einflüssen die Methoden von Paolo Sarpis Empirismus vorzogen und die Methoden von Leibniz und dessen Vorläufern bis hin zu den Pythagoreern und Platon ablehnten. Die Folge war, daß sie diejenigen Aspekte der wahren Natur des Menschen, auf denen kompetente langfristige Urteile in der Volkswirtschaft beruhen, gar nicht berücksichtigen wollten.
Diese Ökonomen hatten bisher völlig übersehen, welche Bedeutung das von Leibniz geteilte Menschenbild hat, wenn man alle die wissenschaftlichen und künstlerischen Inhalte definiert, die bei der Einschätzung aller als „wirtschaftlich“ zu bezeichnenden Wirkungen von Belang sind. Wernadskijs Auffassung der Kombination aus Biosphäre und Noosphäre, als Sproß des Leibnizschen Erbes betrachtet, ist der am besten geeignete Rahmen, um die Anwendung der Wirtschaftswissenschaft – wie ich sie als Wissenschaft der physischen Wirtschaft neu definiert habe – für die unmittelbare Zukunft der Menschheit zu definieren. Deshalb lenke ich bei dieser Gelegenheit die Aufmerksamkeit auf die breitere kulturelle Bedeutung der Wernadskijschen dynamischen Auffassung des Universums und der Gesellschaft.
1. Wirtschaft als Kunst und Naturwissenschaft
Der offensichtlichste Hinweis auf die Existenz einer höheren Klasse von Hinterlassenschaften, die nicht durch gewöhnliche lebende Prozesse entstanden, sind die von Archäologen entdeckten Überreste, die nicht anders als durch eine spezifisch menschliche Intelligenz entstanden sein können. Solche Hinterlassenschaften, die Wernadskijs Noosphäre angehören, sind folgendermaßen zu definieren: Sie sind das Ergebnis der Anwendung eines wissenschaftlichen Prinzips, das implizit, als Potential schon vorhanden war, bevor die Menschheit es anwendete, aber sie haben als archäologische oder vergleichbare Überreste der Anwendung eines natürlichen Phänomens nicht existiert, bevor die Menschheit die in ihnen ausgedrückten Prinzipien entdeckte und anwendete. Die Kraft, die bewußt und wirksam ausgedrückt wird, wie es sich an der erfolgreichen Anwendung solcher Prinzipien zeigt, ist ein Potential, das als Hinterlassenschaft sozialen Handelns auftreten kann, vor allem aber sollte man es als Hinterlassenschaft eines Prinzips betrachten, das allein innerhalb des souveränen Geistes des einzelnen Menschen, der es entdeckt hat, als anwendbare Idee seine Existenz gefunden hat.
Alle kompetente Praxis der Archäologie als Zweig der Arbeit des Historikers beruht stillschweigend auf diesen strengen Definitionen.
Jede kompetente Geschichtsschreibung, als Wissenschaft der Menschheitsgeschichte, beruht auf der umfassenderen Anwendung dieser strengeren Definition des Grundprinzips der Archäologie. Wirkliches Wissen über die Geschichte, eingeschlossen die Archäologie als Zweig der Geschichtswissenschaft, ist im wesentlichen eine Geschichte der Ideen: die Geschichte der Ideen, welche die besondere geistige Aktivität, die zur Entdeckung oder Wiederentdeckung eines universellen Naturprinzips oder seines Äquivalents in der klassischen Kunst führt, zum Ausdruck bringen.
Diese Ideen lassen sich nur weitervermitteln, indem der Einzelne den geistigen Vorgang der betreffenden Entdeckung in den souveränen Erkenntnisprozessen seines eigenen Geistes nachvollzieht. Diese Ideen des individuellen souveränen Geistes lassen sich in mitteilbarer Form nur auf eine ganz bestimmte Art und Weise praktisch ausdrücken – eben der Praxis, die damit verbunden ist, daß der experimentell nachprüfbare Vorgang der Entdeckung eines universellen Naturprinzips innerhalb der menschlichen Erkenntnis nachvollzogen wird.
Die moderne Gesellschaft in den heute weltweit verbreiteten europäischen Kulturen räumt mehr oder weniger widerwillig ein, daß man den Begriff des „universellen Prinzips“ auf entsprechende Fragen in dem Bereich, den man „Naturwissenschaft“ nennt, anwenden muß; aber wenn man erklärt, daß man denselben Begriff auch im Bereich der Kunst anwenden kann, ruft man auch heute noch oft einen unerfreuten Gesichtsausdruck hervor. Beginnen wir daher mit der Rolle eines universellen Naturprinzips in der klassischen Komposition in der Kunst.
Das Beispiel Musik
Zur Veranschaulichung dieses Punktes für die Kunst wähle man zunächst eine kurze Komposition von Wolfgang Amadeus Mozart, die für die Arbeit eines kleineren Chores geeignet ist, sein Ave Verum Corpus. Man kann im Experiment nachweisen, daß diese Komposition nicht Mozarts Absicht angemessen aufgeführt werden kann, wenn der Dirigent und die Mitglieder des Ensembles den Notentext einfach nur formell richtig, schulbuchartig auffassen. Für die richtige Aufführung benötigt man eine Unterweisung in etwas, das für manche außerhalb der formalen Aspekte des Notentextes liegt, nämlich in der Wechselbeziehung zwischen – oder wenn man so will, „hinter“ – den Singstimmen im Fortschreiten der Aufführung als ganzer. Dieses „Etwas“ kommt bei diesem Mozartschen Stück in der Rolle der lydischen Tonart zum Ausdruck, die Beethoven in seinem berühmten Streichquartett Opus 132 aufgegriffen hat.((Siehe Mindy Z. Pechenuk, „Mozart’s Ave Verum Corpus“, Fidelio, Winter 1996. Frau Pechenuk leitete eine pädagogische Aufführung bei einer Konferenz des Schiller-Instituts, wo der Gedankengang ihres Berichts durch eine Live-Aufführung demonstriert wurde, die bis heute als Audio- und Videoaufnahme erhalten ist.))
Diese Besonderheit der Aufführung, auf die ich mich hier beziehe, ist als Wirkung vom betreffenden Komponisten keineswegs unbeabsichtigt. Genau das war seine Absicht, wie Beispiele der Chor- und Instrumentalmusik führender klassischer Komponisten, besonders von Bach bis Brahms, prinzipiell belegen. Im Notentext spiegelt sich wider, daß der Komponist für diese Komposition ein ganz bestimmtes Potential im Sinne hat, welches die Aufführenden verwirklichen müssen.Wir können das Handwerkszeug dieses klassischen Prinzips bis zu den Pythagoreern zurückverfolgen, und die Grundlagen sind in den erhaltenen Fragmenten von Leonardo da Vincis De Musica als Absicht erkennbar, doch es war Johann Sebastian Bach, der das System des wohltemperierten Kontrapunktes schuf, auf das sich alle bedeutenden klassischen Komponisten stützen.
Dabei müssen die Interpreten solcher Musik mit sich selbst kämpfen, um nicht in den grundsätzlichen Fehler zu verfallen, der selbst Berufsmusikern und anderen unterläuft – wie in den notorischen Fällen Rameau, Fux und deren Bewunderern –, denen das Verständnis des „Gattungscharakters“ der Absicht bei allen bedeutenden klassischen Komponisten nachweislich mangelt.((Rameau und Fux sind ein Produkt der modernen reduktionistischen Korruption, die mit dem Erbe von Paolo Sarpi und Descartes verbunden ist. So gesehen sind sie echte Vorläufer der romantischen Gegner der Methode Bachs, wie Carl Czerny, über den Beethoven sagte, dieser „Verbrecher“ werde den talentierten Schüler Franz Liszt völlig verderben. Hier liegt auch der Fehler der Modernisten und Postmodernisten, darunter die Schule der Brecht-artigen Verrücktheiten eines Theodor Adorno.))
Die gleiche Art der Herausforderung, wie sie Mozarts Ave Verum Corpus darstellt, bildet auch ein zweites Beispiel, ein früheres Chorwerk, die Motette Jesu, meine Freude von Johann Sebastian Bach, das Chorleiter und Chor vor die gleichen prinzipiellen Herausforderungen stellt wie Mozarts Ave Verum Corpus.((Der Versuch, Bach von Haydn, Mozart und Beethoven zu trennen, weil das eine angeblich „Barock“ und das andere „Klassik“ sei, ist mehr als übles dummes Geschwätz, dessen Folgen sich nur allzuoft bei den Aufführungen der davon beeinflußten Musiker zeigen.))
So hat beispielsweise John Sigerson bei den Proben und Aufführungen dieses Bachschen Werkes mit der LaRouche-Jugendbewegung diese Herausforderung dargestellt und daran gearbeitet.((John Sigerson organisierte und leitete schon Mitte der 80er Jahre unsere ziemlich glaubhaften Aufführungen des Mozartschen Requiems und spielt seither eine führende, zunehmend professionelle Rolle bei der stimmlichen und übrigen musikalischen Arbeit unserer Vereinigung. Die zunehmende Verfeinerung seiner Arbeit mit Jugendlichen und anderen im Lauf der Zeit zeigt den kumulierten Nutzen dieser langfristigen Beschäftigung, die weitergeht.)) Ich hatte dieses Werk Bachs zu diesem Zweck vorgeschlagen, und der Dirigent Sigerson unterstützte es als Grundelement des Aufbaus der LaRouche-Jugendbewegung an der amerikanischen Ostküste, wie sie an der Westküste schon entstanden war. An dieser Bach-Motette wird seither an der Westküste, in Europa und anderswo zu diesem Zweck gearbeitet. Der Fortschritt der an dem Projekt beteiligten Chöre ist eine reiche Quelle ihrer wachsenden Einsicht in die tiefere Bedeutung von Bachs Absicht in diesem Fall, und infolgedessen wachsender Einsicht in die Absicht seines ganzen Lebenswerks. Wenn man die entsprechenden verfügbaren Hinweise geduldig prüft, zeigt sich, daß das Werk aller bedeutenden klassischen Komponisten, von Johann Sebastian Bach bis zu Johannes Brahms, und großer Dirigenten wie dem verstorbenen Wilhelm Furtwängler darauf beruht, sich auf das zu konzentrieren, was „hinter“ oder „zwischen den Noten“ der Partitur liegt.((Das Konzept deckt sich mit Leibniz‘ Definition der Analysis situs, die in das Werk Bernhard Riemanns übernommen wurde. Sie zeigt die Bedeutung des dynamischen und pythagoreischen Begriffs der Leibnizschen Naturwissenschaft und der musikalischen Prinzipien Bachs im Gegensatz zum formell mechanistischen Standpunkt von Rameau, Fux, den Romantikern, Modernisten etc., ebenso wie der Empiristen wie D’Alembert, Euler, Lagrange u. a.))
Wenn man Musikschülern praktische Einsichten in die dynamischen Methoden der Komposition und Aufführung klassischer Musik vermittelt, kann man am einfachsten zeigen, wie diese Prinzipien als Methode in der Aufführung zum Ausdruck kommen, indem man darauf verweist, wie ein geschultes Streichquartett damit umgeht. Norbert Brainin vom Amadeus-Quartett beschrieb mir und meinen Mitarbeitern die Methode der Mitglieder des berühmten Streichquartetts bei ihren Proben, deren Resultate man an den Aufnahmen hören kann. Im Fall des klassischen Streichquartetts können geschulte Musiker die entsprechenden Intervalle der Kreuzstimmen hören und in den Proben ihre Interpretation an die entsprechende Dynamik der Komposition anpassen. Bei der Arbeit eines Chores oder eines größeren Instrumentalensembles braucht man einen Dirigenten der Art, für die Aufnahmen unter der Leitung Wilhelm Furtwänglers beispielhaft sind.((Wie ich gelegentlich berichtet habe, erlebte ich den Dirigenten Furtwängler erstmals 1946 auf einer Schallplatte eines Werkes von Tschaikowskij. Ich wurde sozusagen „vom Saulus zum Paulus“, ich erkannte, daß die Wirkung, die wahrgenommene „Transparenz“ der Aufführung, in einer packenden Entwicklung der Kreuzstimmen über die gesamte Aufführung lag. Es erzeugte ein unermüdlich zwingendes Gefühl einer nahtlosen geistigen Entwicklung hinter der hörbaren Musik, die man nicht mit dem Ohr hört, sondern mit dem Geist.))
Alle Sänger oder anderen Aufführenden mit einer „unabhängigen“ Interpretation der Noten in einer Stimme auf die Probe kommen zu lassen, ist oft ein Rezept dafür, das Werk zu verderben (wenn das Werk nicht selbst eine moderne, postmoderne oder vergleichbare Scheußlichkeit ist, dessen Botschaft dem verständigen Zuhörer eine Warnung ist, lieber den Saal zu verlassen). Die Beziehungen zwischen den Personen, die an der Aufführung eines musikalischen Werkes in der klassischen Tradition von Bach bis Brahms mitwirken, sind keine mechanischen Beziehungen im Sinne der Methoden der Empiristen und anderer Reduktionisten. Sie sind dynamisch in dem Sinne, wie Leibniz diesen Begriff verwendet, wenn er die Unfähigkeit des Reduktionisten René Descartes rügt. Sie sind dynamisch im Sinne von Wernadskijs Behandlung der „Organismen“ und meiner eigenen Behandlung des Prinzips in „Wernadskij und das Dirichlet-Prinzip“.
Das Entstehen von Modalitäten – wie dem lydischen Modus in den genannten Fällen – als Ordnungsprinzip des Entwicklungsprozesses der Kreuzstimmen bei der Aufführung einer Komposition (im Gegensatz zu einer Abfolge vertikaler Akkorde) ist ein Beispiel für Leibniz‘ Begriff dieses dynamischen Prinzips, wie Wernadskij und ich es definierten – im Unterschied und Gegensatz zu einer mechanischen Verbindung. Diesmal behandeln wir es im Bereich der klassischen Komposition in der Kunst statt nur in der Naturwissenschaft. In der Kunst hat dies die gleiche Bedeutung wie ein universelles Prinzip, wie das ontologisch existente Infinitesimale bei Leibniz‘ universellem Prinzip der geringsten Wirkung – Stichwort Kettenlinie –, dem Prinzip, das Leibniz durch seine eigene Entdeckung der Vorstellung der logarithmischen Funktionen ausdrückte, die Leonhard Euler, der Leibniz haßte und bekämpfte, später in quasi kastrierter Form nachahmte.((Die Hauptangriffsziele von Gauß‘ Attacke auf die Unfähigkeit der Empiristen D’Alembert, Euler, Lagrange usw. in seiner Dissertation Über den Fundamentalsatz der Algebra waren allesamt Vertreter einer Sekte fanatischer Gegner von Leibniz, die der in Paris lebende Venezianer und Descartes-Verehrer Abbé Antonio Conti (1677–1749) als ein Netz von Salons organisiert hatte. Weil Conti meinte, daß der Franzose Descartes in London zu der Zeit nicht gut ankäme, schuf Conti über einen Zirkel, den er in London aufgebaut hatte, einen Kult um Leute wie den Theologen Samuel Clarke, der die Person kontrollierte, die man als Ersatz für Descartes gewählt hatte: den Hobby-Magier und Alchemisten Isaac Newton. Das Netz der Contischen Salons, das um den Leibniz-Feind Voltaire organisiert war, wurde ein Vehikel, über das der Isaac-Newton-Kult, in dem D’Alembert, Maupertuis, Euler und Lagrange eine führende Rolle spielten, europaweit verbreitet wurde.))
Bei musikalischen Aufführungen kommt das Prinzip in den Verhältnissen innerhalb einer polyphonen Passage zum Ausdruck, während sich die Aufführung in verschiedenen Abschnitten entfaltet. Ein ahnungsloser Hörer im Publikum mag dies für scheinbar ganz geringe Abweichungen halten, vielleicht auch zu unrecht, für so etwas wie die romantische persönliche Würzung, die der Küchenmeister einem Standardgericht hinzufügt. Der Kenner verbindet sie mit einer ganz besonderen Art der Spannung, die ein Gefühl von Bewegung verleiht, das mit der eigentlichen, tieferen Bedeutung des Begriffs „Entwicklung“ verbunden ist. Wie ich im folgenden erklären werde, ist diese Qualität der Spannung in der klassischen, polyphonen Musik mit klassischen Formen von Ironie verbunden, die das ironische Prinzip der Bewegung in der Poesie und der klassischen Tragödie definieren.
Bestimmt werden die Feinheiten in einer annehmbaren Aufführung eines klassischen Werks von der Gesamtwirkung der Aufführung als individuelle Einheit – eine Aufführung, die sich vom Atemholen vor dem ersten Ton bis zum Atemzug nach der letzten Note nahtlos ausbreitet. (In der Struktur des Notentextes mag es scheinbar „Nähte“ geben, aber nicht in der Idee, die hinter der Aufführung der Noten stehen muß.) Daß diese Absicht richtig als die des Komponisten erkannt wurde, weiß man, wenn die Aufführung wie eine nahtlose und energische Entwicklung einer richtig gewählten, vereinheitlichenden Grundidee wirkt, die die Aufführung vom Anfang bis zum Ende „vorantreibt“. So wird diese einheitliche Idee erzeugt, nicht bloß eine Anhäufung musikalischer Effekte. Beethovens op. 131, 132 und 133 sind empfehlenswerte Testfälle für dieses Prinzip der Komposition und Aufführung. Hat die Aufführung die Komposition „zusammengehalten“? „Bewegt uns die ganze Komposition wie eine einzige, treibende, wahre Idee – so wie Riemann seine fortgeschrittenere Version des Dirichlet-Prinzips beschreibt?“
Ich muß an dieser Stelle unbedingt betonen, daß dies mit allen wesentlichen Aspekten von Riemanns Anwendung des sog. „Dirichlet-Prinzips“ identisch ist, was ich in „Wernadskij und das Dirichlet-Prinzip“ behandelt habe.((Die LaRouche-Jugendbewegung hat die Herausforderung angenommen, eine Pädagogik zu entwickeln, um das Prinzip, wie es Dirichlet in den entsprechenden Vorlesungen, die sein Schüler Riemann in Berlin besuchte, dargestellt hat, sowie Riemanns verbessertes, höheres Konzept, das er später in seinem Werk über die Abelschen Funktionen entwickelte, zu vermitteln.)) Man muß die gesamte Aufführung als eine einzige, unsichtbare Idee hören. Das erreicht man, indem man sich bei der Aufführung auf die beabsichtigte einheitliche Wirkung des Komponisten konzentriert, so daß die aufmerksamen Musiker und Zuhörer die gesamte Komposition als ein nahtloses Gewebe hören und nicht bloß als Zusammenstellung von Einzelteilen eines Mosaiks, das nur als ein Schema komponiert wurde und nicht als echte Idee eines Prinzips.((Der Vergleich von Wilhelm Furtwänglers Aufnahme der Großen Sinfonie in C-Dur Franz Schuberts mit denen anderer vermeintlich großer Dirigenten jener Zeit liefert eine angemessene Veranschaulichung dieses Punktes.))
Das Geniale an Kompositionen Beethovens wie den „späten Streichquartetten“ op. 131, 132 und seiner Großen Fuge demonstriert dieses Argument sehr deutlich und nachdrücklich; das sind gerade deshalb Werke höchsten Genies, weil sie das höhere dynamische Prinzip aller klassischen Komposition so außergewöhnlich rein als einheitliche Wirkung vorstellen. Das gleiche dynamische Prinzip erkennt man auch als Ausdruck des Leibnizschen Prinzips der universellen geringsten Wirkung, als Ausdruck von Riemanns verbessertem Begriff des „Dirichlet-Prinzips“.
Klare Ideen lassen sich ohne eine rigorose Beachtung von Prinzipien nicht als solche erkennen. Deshalb braucht man einen klassischen Chor, der in der Tradition des Florentiner bel canto mit auf c‘ = 256 Hz bezogenen Registerwechseln ausgebildet ist.((Siehe Handbuch der Stimmung und Register, Band I: Einführung und die Singstimme, Schiller-Institut (Hg.), Dr. Böttiger-Verlag, Wiesbaden, 1993.)) Die kleinen Anpassungen der Intonation, die notwendig sind, um die Aufmerksamkeit auf die in Vorwärtsbewegung zum Ausdruck kommenden Modalitäten zu richten, sind das Mittel, mit dem der Sänger die dynamische einheitliche Wirkung erreicht, die ein Werk wie Mozarts Ave Verum Corpus erfordert.
Man bedenke den Nutzen solcher klassischen musikalischen Kompositionen und ihrer angemessenen Aufführung für die Arbeit des Naturwissenschaftlers. Um den scheinbaren Unterschied, den dies unausgesprochen einschließt, zu überbrücken, lenke man nun die Aufmerksamkeit ein wenig um, nämlich auf das Prinzip hinter denjenigen Formen der Komposition in den plastischen und nichtplastischen Künsten, die sowohl in der Komposition als auch in den jeweiligen Arten ihrer Aufführung als streng klassisch erkennbar sind. Das gleiche Prinzip, das sich in den genannten Streichquartetten Beethovens zeigt, findet man auch als Grundprinzip der Komposition und angemessenen Aufführung der klassischen Poesie und Tragödie.
Ironie: das klassische Prinzip in der Kunst
Das Wort „Idee“ wird heutzutage gemeinhin auf völlig unwissende Art und Weise verwendet. Im streng klassischen Sinne beschränkt sich die Verwendung des Begriffs „Idee“ auf Gedanken über universelle Naturprinzipien oder Gedanken zur klassischen Kunst, die mit derselben Strenge genauer Unterscheidung geschaffen wurden. In Lehre und Praxis in der Naturwissenschaft, besonders der Mathematik, und sogar noch schlimmer bei der Definition von Gesetzen künstlerischer Komposition stößt man auf etwas, das man treffend als „Faktor der Schlamperei“ beschreiben könnte. Wie der Brite C. P. Snow formulierte, führte dies zu einem Zustand, den er als Krise der „zwei Kulturen“ in der neuzeitlichen europäischen Zivilisation bezeichnete – eine Trennung zwischen Wissenschaft und Kunst. Beide Seiten der betreffenden Profession sind daran schuld; die Folgen für die Bildung sind schwerwiegend, und die moralischen Auswirkungen dieses Zustands waren oft katastrophal. Ich verwende hier den Begriff „Idee“ in seiner richtigen, strengsten Bedeutung für beide Bereiche.
Typisch für die erwähnte „Schlamperei“ ist die Methode von D’Alembert, Euler und Lagrange bei ihren Angriffen auf Leibniz – sie werden dafür in Gauß‘ Schrift aus dem Jahr 1799 über den Fundamentalsatz der Algebra völlig zu Recht angegriffen. Sie wollten einfache algebraische Methoden; die Tatsache, daß es zwischen einer bloßen Algebra und einem Bereich der physikalischen Geometrie – wie z. B. dem ontologischen, geometrischen Unterschied zwischen Punkt, Linie, Körper usw. – einen ontologischen Unterschied gibt, wischten sie quasi mit einer lässigen Handbewegung beiseite. Diese Empiristen und andere ähnlich Gesinnte, wie z. B. Euler und Lagrange, verwenden an Stelle wirklicher wissenschaftlicher Prinzipien eine reduktionistische Vorstellung von Mechanik. Mit anderen Worten, sie begingen bewußt einen ebenso simplen Betrug wie die Anhänger von Rameau und Fux gegenüber dem Werk von J. S. Bach und seinen Nachfolgern. Heute ist ein methodologischer Betrug derselben Art im Bereich der Komposition und Aufführung von Dichtung und klassischem Drama weithin, wenn auch glücklicherweise nicht überall verbreitet.
Ich will nun Ihre Aufmerksamkeit auf ein Problem lenken: den Begriff der klassischen Ironie. Es handelt sich um ein wesentliches Prinzip der klassischen Dichtkunst. Eine Idee, welche eng verbunden ist mit dem Konzept eines wirkenden universellen Naturgesetzes und ihren Ausdruck auch in der klassischen Musik findet.
Um den Gedanken genauer zu fassen, sollten wir als Beispiel vier Dramen Shakespeares betrachten: Julius Caesar und drei dramatische Behandlungen von Stoffen, die nicht rein historischen, sondern legendären Gesellschaften entsprechen: König Lear, Macbeth und Hamlet. Bei der ersten von Shakespeare dargestellten Gesellschaft handelt es sich um eine wahrheitsgemäße Nachbildung der moralisch dekadenten Kultur des alten Rom. Die Kulturen der anderen drei Gesellschaften, welche Shakespeare darstellt, sind auch verkommen, offen gesagt sogar ziemlich verrückt. Dabei geht es darum, die betreffende Kultur in jedem wahren historischen (Julius Caesars Rom) oder legendären Fall historisch treffend darzustellen.
Mit diesen Worten sind wir in einem Bereich angelangt, der reich von klassischen Ironien geprägt ist.
Die Bühnensprache ist die von Shakespeares England, aber diese Sprache wird verwendet, um eine antike Kultur zu vermitteln, die mit dem Gebrauch der von Shakespeare vorgeschriebenen englischen Sprache nicht übereinstimmt. In Julius Caesar drückt sich die verkommene Seele des wahren Roms der damaligen Zeit in der englischen Sprache aus und enthüllt somit den Charakter ihres wahren Selbst an jenem Ort und zu jener Zeit.((Aus Gründen, die ich etwas weiter unten darlege, ist nichts falsch daran, wenn Shakespeare oder moderne Regisseure das Englische so verwenden.)) Ironie! Das Prinzip ist dieselbe, historisch genau treffende Darstellung, die Shakespeare in seinem Bericht über Herrschaft und Fall der venezianisch-normannischen Tyrannei in Englands Geschichte im Mittelalter vermitteln wollte, diesmal angewandt auf den betreffenden historischen Fall und keinen anderen. Ironie!
Unfähige Leute, wie etwa Romantiker oder Modernisten, werden diese Dramen als eine kostümierte Handlung auf die Bühne bringen, die nicht dem gegebenen geschichtlichen Rahmen entspricht, sondern ein kaum verhüllter Ausdruck der jeweils zeitgenössischen Kultur ist. Was den Unterschied ausmacht, wird deutlich an Schillers Gedicht Die Kraniche des Ibykus. Schiller unternahm dafür umfassende Vorarbeiten, an denen Goethe, Wilhelm von Humboldt und andere beteiligt waren, in der Absicht, das reichlich ironische Gefühl der Sprache und Atmosphäre des wahren Korinth zu Ibykus‘ Lebenszeiten zu vermitteln – aber eben in Schillers Deutsch. Eine Fülle an Ironie!
Es ist ein entscheidender Vorteil für das Publikum, wenn die beabsichtigte historische Genauigkeit getreu erarbeitet wird, so wie es Schiller bei seiner Komposition der Kraniche des Ibykus tat. Das ruft ein unheimliches, ironisches Gefühl hervor, wie es angemessene Inszenierungen jedes dieser Dramen tun werden.
Wie Schiller betont: Der normale Zuschauer von der Straße sollte, wenn er das Theater verläßt, dieses als ein anderer Mensch verlassen. In einem anderen Zustand als den, mit dem er wenige Stunden vorher das Theater betrat. Ironie! Diese Wirkung ist aber keine weinerliche moralische Erbauung, wie man es von den Ergüssen fundamentalistischer Geistlicher her kennt. Die Wirkung rührt daher, daß der Bürger einer Geschichte, die anders ist als seine eigene Lebenserfahrung zu seiner Zeit an seinem Ort, über die Schulter blickt. Ironie! „Warum haben die nicht gemerkt, wie verkommen ihre Kultur war? Könnte ich heute etwas gegen tragische Irrtümer in meiner eigenen Gesellschaft tun? Wie dumm müßte ich sein, wenn ich nicht meine eigene Kultur so betrachten könnte, wie die im Theaterstück dargestellte Kultur, deren Verrücktheit offensichtlich war?“ Ironie! Er wird nicht so närrisch sein, zu versuchen, von der Kultur auf der Bühne ein Prinzip für seine eigene Kultur abzuleiten.
Die Absicht sollte nicht sein, die Leidenschaft des Bürgers dahingehend anzuregen, etwa die Geschichte der Kultur, die auf der Bühne daherstolzierte, verändern zu wollen oder moralische Richtlinien von ihr abzuleiten. Vielmehr soll er entsprechende Einsichten in die qualitativ völlig anderen geschichtlichen Besonderheiten seiner eigenen Kultur entwickeln. Nur ein närrischer, absonderlicher Mann würde auf der Bühne oder im wahren Leben so tun, als wäre er schwanger. Ironie!
Wir alle sind Teil einer umfassenden Geschichte – der europäischen Geschichte. Die Erde ist nicht flach wie eine Scheibe, und genausowenig ist es irgendein bedeutsamer Abschnitt der Kultur in der Geschichte.
Die Kultur jedes Ortes und Zeitabschnitts besitzt bestimmte dynamische Eigenschaften, in sich und bezogen auf Unterschiede zu allen längeren Abschnitten der Geschichte. Diesen Unterschieden – Ironien! – sollte die Aufmerksamkeit des Schriftstellers und des Regisseurs gewidmet sein. Der fähige Schriftsteller ist, wie Friedrich Schiller vorschreibt, vor allem ein Historiker ganz bestimmter Art. Jedes klassische Drama muß eine Reise des Geistes in eine bestimmte Zeit und an einen bestimmten Ort in der Geschichte sein, so als besuchte man ein Land, wo man ironischerweise nicht die eigene Sprache spricht, und wo die Gewohnheiten des gesellschaftlichen Austauschs ironisch anders sind. Dieser Sinn für die Geschichte aus der Sicht dieser ironischen bewußten Erfahrung der unterschiedlichen Qualität der Zusammensetzung von Kulturen, von Gesellschaften, ja von aufeinanderfolgenden Generationen derselben Gesellschaft – wie es das Beispiel des kulturellen Konflikts zwischen der „68er-Generation“ und jungen Erwachsenen im Studentenalter heute zeigt – ist immer mit ein Gegenstand der Aufgabe des klassischen Theaters im allgemeinen.
Das bringt uns zur nächsten Ebene, die berücksichtigt werden muß. Der Romantiker oder Existentialist, der während der Aufführung im Publikum sitzt, bildet sich in seiner simplen Denkweise ein, er beobachte als Teil des Publikums das Verhalten auf der Bühne und reagiere auf das, was er erlebt – tatsächlich sind es Autor, Regisseur und Schauspieler, die ironisch die Zuschauer beobachten und Schlußfolgerungen über das erwartete und tatsächliche Verhalten dieses Publikums wie auch über sich selbst ziehen. Alles ist Ironie! Ich erläutere:
Die Umlaufbahn der Planeten ist nicht kreisförmig, sondern elliptisch. Ironie! Fermat wies nach, daß der Weg der geringsten Wirkung (Aktion) nicht derjenige der kürzesten Entfernung ist, sondern derjenige der kürzesten, schnellsten Zeit. Ironie! Huyghens dachte, dieser Weg sei durch das Zykloid definiert – aber Leibniz und Bernouilli wiesen nach, daß es das von der Kettenlinie definierte Prinzip des Leibnizschen Kalkulus war, das Prinzip der allgemeinen geringsten Wirkung. Ironie!
Alle großen Dramatiker, Regisseure und Schauspieler der klassischen Kunst in Schauspiel und Dichtung verfolgen keinen geringeren Zweck als den, ihre Mitmenschen das unsterbliche Wesen des erfahrenen, lebenden menschlichen Individuums und seiner Gattung gezielt erahnen zu lassen.((Es ist dokumentiert, daß sogar der englische Dichter Wordsworth die Bedeutung dieses Gegenstandes einräumte, ohne ihn jedoch wirklich wirksam zu beschreiben.)) Ironie! Bereits eine solche Umschreibung entspricht ihrem Wesen nach einer ontologischen Aktualität im Sinne von Beispielen wie Bernhard Riemanns Darstellung des richtigen metaphysischen Verständnisses von Dirichlets Prinzip, so wie Riemann dies in seinem Werk zu Abelschen Funktionen über Dirichlets eigene Beweisführung hinaus entwickelt: Abelsche Funktionen sind Ausdruck buchstäblich grenzenloser Ironie, was an sich schon eine ironische Vorstellung ist. Zur richtigen Verwendung des Begriffes „metaphysisch“ verweise ich den Leser zum Vergleich auf den grundlegenden Gedankengang, den ich als Kern meiner Schrift „Wernadskij und das Dirichlet-Prinzip“ geliefert habe.
Um den Kern des Gedankenganges zu wiederholen, sage ich hier folgendes. Bei der wissenschaftlich korrekten Anwendung des Begriffs metaphysisch betont die Wissenschaft, daß Sinneserfahrung nur bedingt Gültigkeit hat – daß sie bestenfalls Schatten der wirkenden Realität darstellt, die als Folgen der Wirkung nicht wahrgenommener, aber nachweisbar wirkender Prinzipien auf den Sinnesapparat des einzelnen hervorgerufen wurden. Universelle Prinzipien oder Gesetze kann man nie unmittelbar mit den Sinnen erkennen, sondern bestenfalls nur das Vorhandensein ihrer Wirkungen, welche zeigen, daß unbestreitbar etwas wirkt, die aber – wie die Auffassungen des komplexen Bereichs der mathematischen Physiker – nicht selbst als Gegenstand der Sinneswahrnehmung in Erscheinung treten.
Wirklich ist nicht etwa das, was eine naive Auslegung von Sinneseindrücken vermuten läßt – sondern bestenfalls das, was das den Sinneseindrücken Unbekannte als Schatten auf das Sensorium wirft. Das ist das Wesen der Ironie! Solche Ironie vereint Naturwissenschaft und die Praxis gültiger klassischer künstlerischer Komposition als übereinstimmende Eigenschaften menschlichen Wissens des Menschen in dem Universum, in dem wir existieren.
Dieses Prinzip der Ironie ist das wahre Gesetz aller Komposition und Aufführung klassischer Kunst. Das ist es, was etwa aus dem Gesamtwerk Leonardo da Vincis ein einziges einheitliches Unternehmen macht.
Um zu vermitteln, was wahr ist, muß man auf die Ironie des Entwicklungsprozesses der ständigen Veränderung zurückgreifen, der die Bereiche von Sterblichkeit und Unsterblichkeit in einer einzigen Erfahrung verschmilzt. Das ist der höchste Ausdruck klassischer Kunst. Dies ist die unverzichtbare Aufgabe klassischer künstlerischer Komposition und ihrer Aufführung.
Leben als Kunst: das Prinzip der Tragödie
Im Werk Wernadskijs existiert das Leben nachweislich als universelles Prinzip, aber das Leben läßt sich nicht funktionell in den relativ universellen Bereich der abiotischen Abläufe einordnen. Es wirkt auf den abiotischen Bereich und innerhalb seiner Grenzen, aber das Leben als solches ist nicht Teil dieses Bereichs und steht über ihm. In ähnlicher Weise definiert sich die Noosphäre durch ein Prinzip der denkenden Erkenntnis (Kognition), das sich nicht innerhalb der Grenzen der Biologie einordnen läßt und über ihm steht. Der Bezug auf real wirkende Prinzipien wie diese ist der einzige vernünftige Gebrauch des Begriffs „metaphysisch“, so wie die Gauß-Riemannsche Vorstellung des komplexen Bereichs die erkenntnistheoretisch metaphysische Aktualität aller erfahrenen physischen Abläufe im Universum bezeichnet.
Diesen Begriff physisch wirkender metaphysischen Seins haben schon die Alten wie die Pythagoreer und Platon verstanden. In der platonischen und christlichen Theologie entspricht er der Vorstellung von der Unsterblichkeit der individuellen menschlichen Persönlichkeit; es entspricht der Idee vom Menschen, dessen Funktion innerhalb der Noosphäre aufgrund der Sterblichkeit, welche das Leben jedes einzelnen Menschen bestimmt, begrenzt ist; Dennoch, das Besondere eines Menschen, seine individuelle Persönlichkeit liegt im Wirkungsbereich eines Prinzips, das keinen biologischen Tod erfährt. So kann im Werk Wernadskijs und seiner entsprechenden Nachfolger nur das Leben an sich Leben erzeugen, und nur das Prinzip der individuellen Erkenntnis an sich kann Erkenntnis erzeugen.
Deshalb verbinden vernünftige Menschen und Gesellschaften ihr wichtigstes Eigeninteresse mit dem Begriff der Unsterblichkeit, wie er mit der Existenz des menschlichen Lebens innerhalb der Noosphäre verbunden ist, wenn auch nur als Andeutung der Unsterblichkeit. Die einzige vernünftige Verwendung des Begriffs „klassisch“ in der europäischen Zivilisation geht nach unserem besten heutigen Wissen auf Ideen zurück, die von den Pythagoreern und Platon entwickelt wurden. Deren Vorstellungen beruhten wiederum auf Entwicklungen, welche bis in die ägyptische Zivilisation zurückreichen. Die gesamte europäische klassische Wissenschaft und Kunst ist Gegenstand dieser Sicht der Natur des einzelnen Mitglieds der Menschheit im Universum.
Nehmen wir zum Beispiel Shakespeares Werk.
Seit eine Bande venezianischer Schufte – wie Zorzi („Giorgi“), Kardinal Pole, Thomas Cromwell u. a. – den Justizmord an Sir Thomas More (Morus) bewirkt hatte, nahm das zeitgenössische England Christopher Marlowes und Shakespeares Eigenschaften eines schrecklichen venezianischen Alptraums an. Früher war mit der Befreiung unter Richmond (Heinrich VII.) ein England entstanden, das frei von der langen Tyrannei der ultramontanen Kräfte der venezianisch-normannischen Partnerschaft und ein Segen gewesen war: die Erfahrung des neuzeitlichen souveränen Gemeinwesens. Dieser Commonwealth der Zeit von Sir Thomas More war nun in großer Gefahr, bedroht, wie später zu Shakespeares Zeit, vom Aufstieg einer Neuen Partei in Venedig, wodurch England im frühen 17. Jh. immer mehr von Paolo Sarpi und dessen Agenten wie dem verkommenen Sir Francis Bacon und Thomas Hobbes beherrscht wurde.
Für Shakespeares Kreis der Anhänger von Sir Thomas More u. a. hätte es keinen Richmond (Heinrich VII.) geben können, wäre nicht Ludwig XI. in Frankreich gewesen, und keinen Ludwig, wäre nicht Johanna von Orleans da gewesen. Diese Geschichte reicht weit zurück in tiefliegende Schichten der Menschheit, lange vor dem Übel des römischen Kaiserreiches. Unter dem Einfluß der Anhänger Paolo Sarpis – darunter Bacon, Hobbes und John Locke – wurden Shakespeares Theaterstücke entweder verboten oder von den Regisseuren bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt, bis ihr Erbe in Deutschland von den Kreisen, welche den Grundstein für die deutsche Klassik im späten 18. Jh. legten – es handelt sich um Shakespeare-Bewunderer wie Abraham Kästner, dessen Schüler Gotthold Ephraim Lessing, Moses Mendelssohn, Goethe und Schiller – gerettet wurde.((Abraham Kästner (1719–1800) war der führende Mathematiker im Deutschland des 18. Jh., einer der wichtigsten Lehrer und später Mitarbeiter Gotthold Ephraim Lessings und einer der beiden wichtigsten Lehrer von Carl Friedrich Gauß (neben Zimmermann), Benjamin Franklin war bei ihm zu Gast. Kästner wirkte maßgeblich in dem Kreis, der Leibniz‘ gegen Locke gerichteten Neuen Abhandlungen über den menschlichen Verstand einen bestimmenden Einfluß auf die Abfassung der Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten von 1776 verschaffte. Er spielte auch eine Schlüsselrolle bei der Wiederbelebung der unverfälschten Werke Shakespeares in und von Deutschland aus. Nachdem Carl Gauß 1799 in seiner Dissertation den Betrug von D’Alembert, Euler und Lagrange angegriffen hatte, tat die empirische Schule der späteren Gegner von Gauß und Riemann im 19. Jh. alles, Kästner zu diffamieren und in Vergessenheit zu bringen. Erst die Gründung der deutschen Klassik durch Kästners Kreis im 18. Jh. brachte dem englischsprachigen Teil der Welt, etwa Benjamin Franklin oder Percy B. Shelley, das klassische Erbe Shakespeares zurück – welche Ironie!))
Auf der klassischen Bühne ist die menschliche Geschichte unsterblich. Sie existiert in einer „Gleichzeitigkeit der Ewigkeit“, wie Raphael Sanzio dies in der Schule von Athen im Vatikanischen Museum darstellt. Auf diese Bühne in der Ewigkeit der Menschheit stellt das klassische Schauspiel sowohl das Stück als auch das Publikum. So stellte der Dichter Aischylos im Gefesselten Prometheus Prometheus und die Menschheit im Rahmen des unsterblichen Kampfes gegen die bösartige, quasi satanische Tyrannei des olympischen Zeus dar. Man vergleiche Shakespeares Behandlung des Hamlet mit einer bestimmten Eigenheit von Aischylos‘ Der gefesselte Prometheus und mit dem Versuch P. B. Shelleys, diesen zu rekonstruieren.
Die vorherrschende Schwäche in der antiken griechischen Tragödie vor Aischylos‘ Prometheus-Trilogie und Platons entsprechendem Protest gegen die Tragöden im allgemeinen, besteht darin, daß das Drama nicht einmal die Vorahnung eines ironisch vorgestellten Schattens einer Lösung für die zukünftige Gesellschaft – das „Erhabene“ im Schillerschen Sinne – enthält. Der gefesselte Prometheus bildet eine Ausnahme unter den klassischen Tragödien, die vor Platon geschrieben wurden und die eine entscheidende Schwäche aufweisen. In den überlieferten Inhaltsangaben von Aischylos‘ Trilogie wird Prometheus im abschließenden dritten Teil des Schauspiels aus Gefangenschaft und Folter befreit. Hier liegt die furchtbare Macht, die gegen Zeus aufgebracht wird, eine Macht, die im vorhergehenden Der gefesselte Prometheus bereits ironisch angedeutet wird.
In diesem Fall findet sich die Lösung nicht in der Handlung des Dramas als solcher. Sie liegt im Geist des Publikums, weil es sich um Menschen handelt, die sehen, wie der Wohltäter der Menschheit gefoltert wird, weil er das Recht der Menschen (aus denen sich das Publikum ironischerweise zusammensetzt) verteidigt, ihre natürliche Fähigkeit zur Entdeckung und Anwendung nützlicher universeller Prinzipien zum Ausdruck zu bringen. Wer sich an Solons Brief an seine dekadenten Mitbürger, der noch etwas weiter zurückliegt, erinnert, wird auch imstande sein zu erkennen, daß der verfolgte Prometheus der Wohltäter der Menschen ist und ihretwegen verfolgt wird. Dieser Teil der Trilogie, Der gefesselte Prometheus, hat verfassungsrechtliche Bedeutung, welche sich in der Gründung der amerikanischen Republik widerspiegelt. Der Abschnitt aus Goethes fragmentarischem Großkophta, in dem Prometheus Zeus verflucht, ist hier ein relevanter Bezugspunkt.((Dieses Gedicht wurde von Hugo Wolf als Lied gesetzt. Die von der Hugo-Wolf-Gesellschaft aufgezeichnete Aufnahme des berühmten Bassisten und Kantors Friedrich Schorr ist – trotz meiner Vorbehalte gegen einen großen Teil der Werke Hugo Wolfs – ein bemerkenswerter Bezugspunkt.)) Derartige Ironie ist das Geheimnis aller klassischen Dichtungen und Dramen in Komposition und Aufführung, die heute noch unserer Aufmerksamkeit würdig sind!
Der olympische Mythos ist Ausdruck für einen gesellschaftlichen Zustand, wo eine herrschende Oligarchie die Lebensumstände der Mehrheit der Menschheit auf die Stufe von wildem oder gezähmtem menschlichem Vieh herabgewürdigt hat. Es ist diesem Vieh verboten, die Entdeckung universeller Naturgesetze anzuwenden, ja sich diese auch nur vorzustellen; als Beispiel dient in dem Stück von Aischylos die Verwendung des Feuers. Sie dürfen die Mittel, durch die sich der Zustand der breiten Masse der Menschen verbessern ließe, nicht kennen. Man nennt das beschönigend die „traditionelle Kultur“, die für Menschenvieh vorgeschrieben ist. Deshalb wird der Sklave, der Lesen und Schreiben gelernt hat, von der Hand des Ungeheuers, das die Gesetze schreibt, ermordet.
Um Shakespeares Werk angemessen zu folgen, müssen wir das Prinzip dieses Schauspiels von Aischylos berücksichtigen – beispielsweise bei Hamlet. Wie Shakespeare Horatio in der Schlußszene des Stücks beiseite zum Publikum hin sagen läßt: Wir müssen aus diesen Ereignissen, die sich auf der Bühne, nicht in England, zugetragen haben, Lehren ziehen, damit es in Zukunft nicht wieder geschieht. Das sagt der Dichter nicht zu den Bewohnern Skandinaviens im Drama, sondern zum englischen Publikum, welches bei der Aufführung des Schauspiels anwesend ist. Das Spielen mit dem Spiel ist in diesem Augenblick der Triumph von Verfasser, Schauspielern und Publikum über das Übel von Hamlets verkommenem Staate Dänemark. Es gibt kein „Happy End“ im Stück an sich, aber für ein gegenwärtiges oder zukünftiges Publikum, das sich von der Ironie des Dramas, das es erfahren hat, angemessen begeistern läßt, wird ein gutes Ende erreichbar.
So wird in Aischylos‘ Der gefesselte Prometheus oder den Dramen des reifen Shakespeare, bei Lessing und Schiller wie in den besten Werken Goethes das Abschreckende einer schrecklichen Kultur an sich zum Sprungbrett, um vorauszusehen, was Schiller als Prinzip des Erhabenen definierte. Der einzelne Mensch muß größer werden als sein persönliches Schicksal. Aischylos‘ Der gefesselte Prometheus veranschaulicht das genauso wie die Jeanne d’Arc [Johanna von Orleans – die Red.] der wahren Geschichte und in Schillers inhaltlich wahrheitsgemäßer Darstellung auf der Bühne. Das klassische europäische Drama muß immer diesem Maßstab der Definition seines Sinns und Zwecks standhalten.
Im Drama des wahren Lebens der Jeanne d’Arc gibt es kein „Happy End“ ihres sterblichen Lebens; was bleibt, ist ihre tatsächliche Unsterblichkeit. Sie findet ihren Ausdruck in der Selbstbefreiung Frankreichs von der normannischen Tyrannei, welche durch die Sendung Johanna von Orleans eingeleitet wurde. Jeanne starb, wie alle Männer und Frauen auf die eine oder andere Weise sterben werden; aber sie hat die Unsterblichkeit gewonnen – ironischerweise durch die Art und Weise, wie sie mit der übermächtigen Gefahr für ihr sterbliches Dasein umging.
Das Mädchen von Orleans von Friedrich Schiller:
Das edle Bild der Menschheit zu verhöhnen,
Im tiefsten Staube wälzte dich der Spott,
Krieg führt der Witz auf ewig mit dem Schönen,
Er glaubt nicht an den Engel und den Gott,
Dem Herzen will er seine Schätze rauben,
Den Wahn bekriegt er und verletzt den Glauben.
Doch, wie du selbst, aus kindlichem Geschlechte,
Selbst eine fromme Schäferin wie du,
Reicht dir die Dichtkunst ihre Götterrechte,
Schwingt sich mit dir den ewgen Sternen zu,
Mit einer Glorie hat sie dich umgeben,
Dich schuf das Herz, du wirst unsterblich leben.
Es liebt die Welt, das Strahlende zu schwärzen
Und das Erhabne in den Staub zu ziehn,
Doch fürchte nicht! Es gibt noch schöne Herzen,
Die für das Hohe, Herrliche entglühn,
Den lauten Markt mag Momus unterhalten,
Ein edler Sinn liebt edlere Gestalten.
Der Fall von Shakespeares Richard III. rückt die reale Jeanne d’Arc klar in den Brennpunkt, ebenso wie es Schiller mit seinem Schauspiel tut.
Trotz des klassischen Menschenbildes, das in den besten Momenten der antiken griechischen Kultur – wie Solons Brief an das Volk von Athen oder Platons Lehre von der Unsterblichkeit und Agape – zum Ausdruck kommt, war die Lage des Volkes im allgemeinen bedrückend. Sie lebten mehr oder weniger in einem tierhaften Zustand, als Menschenvieh, das von Oligarchien wie den mythischen Göttern des Olymp gehütet wurde. Der moralische Verfall Athens, eine Folge der von Eleaten und Sophisten verbreiteten reduktionistischen Philosophie; die Übel, welche den Niedergang des Römischen Reiches einleiteten, das Byzantinische Reich und die ultramontane Tyrannei unter der Aufsicht der Finanzoligarchie Venedigs und der normannischen Ritter – all dies zeigt uns eine lange Geschichte großer Qualen, eine ausgedehnte Tragödie. Schließlich wurde in der Renaissance des 15. Jh. eine neue Gesellschaftsform auf der Grundlage des Prinzips der Agape gegründet: die Gemeinwesen Frankreichs unter Ludwig XI. und Englands unter Heinrich VII. Es war ein neuer Zustand der Menschheit im neuzeitlichen Europa, und dieser bessere Zustand ist der Renaissance jenes Jahrhunderts zu verdanken.
Wahre Kunst befaßt sich mit keinen geringeren Themen als der Fähigkeit der Menschenseele zum Guten, oder, mangels dessen, zum Bösen. In Shakespeares Richard III., wo Richmond quasi den alten Drachen der normannischen Ritterschaft erschlägt, sollte man die Befreiung der Menschheit von einem großen Übel sehen. Retrospektiv findet hier das Leiden der unterdrückten christlichen Märtyrer im Römischen Reich von Nero bis Diokletian und der Schrecken des praktisch völkermörderischen neuen finsteren Zeitalters im Europa des 14. Jh., welche die Allianz der venezianischen Finanzoligarchie mit den normannischen Rittern heraufbeschwor, seine historische Rechtfertigung.
Was der Zuschauer aus der großen klassischen Tragödie gewinnt, ist vor allem anderen eine Ahnung der Unsterblichkeit, die Unsterblichkeit der realen Jeanne d’Arc, die Schiller mit den Hilfsmitteln des klassischen Theaters auf der Bühne zum Leben erweckt. Ein anderes Beispiel ist die Bedeutung des Lebenswerks von Martin Luther King. Das, was es zu erfassen gilt, ist die unsterbliche Bedeutung der eigenen kurzen sterblichen Existenz. Man muß sich die Frage stellen: „Was soll ich mit diesem sterblichen Leben beginnen, um die Aufgabe dieser kurzen sterblichen Existenz zu erfüllen?“ Das ist der ironische Unterschied zwischen menschlichem Leben und der unsäglich kleinen Seele, die in Lord Chesterfields berühmter Briefsammlung zum Ausdruck kommt, oder in der falschen Auslegung des klassischen Dramas als Ansammlung mehr oder weniger kleinlichen Moralisierens, wenn der Romantiker oder Existentialist klassische Bühnenwerke oder Gedichte bei der Aufführung erstickt.
Die Bedeutung des sterblichen Lebens des einzelnen liegt in der Zukunft der Gesellschaft. „Was, mein Lieber, könnte der unsterbliche Zweck deines sterblichen Lebens sein?“ Das Erleben der klassischen Tragödie zwingt uns, die Qualen der Vergangenheit, ihre unvollendeten Errungenschaften zu hören, und, wenn wir können, zu entdecken, mit welchen Mitteln wir zu einem Resultat beitragen können, das die Vergangenheit uns in der Gegenwart oder Zukunft zu verwirklichen aufgetragen hat. Ernsthafte Bürger denken mehrere Generationen oder sogar noch weiter voraus. Dazu stürzen sie sich nicht in wilde Phantasien, sondern wählen ein paar Ecksteine aus, die heute gelegt werden müssen, weil sie ein notwendiger Schritt hin zu etwas von Bedeutung sind, das die Menschheit in der Zukunft verwirklichen sollte. So mache ich als Ökonom in meinem Alter keinen politischen Plan, der sich nicht auf eine Welt bezöge, welche die heute jungen Erwachsenen im Laufe des kommenden halben Jahrhunderts – von heute aus zwei Generationen in die Zukunft gesehen – erleben werden.
Große Kunst ist gerade in dem Maße groß, wie sie solche Absicht, welche den Künstler bei seiner Kunst leitet, zum Ausdruck zu bringen vermag. Das ist das Wesen, der Zweck und die notwendige Qualität für die Aufführung klassischer Tragödien und Dichtung. Bei der ernsthaften klassischen Kunst, wie auch bei der wahren Naturwissenschaft, geht es immer um den Aufbau einer besseren Zukunft, in der unsere Nachfahren leben werden. Wahre Wissenschaft hat, wie wahre Kunst, kein überzeugenderes Ziel als das. So muß man klassisches Drama und klassische Poesie verstehen und aufführen.
In der Unsterblichkeit menschlicher Seelen finden alle Gerechtigkeit, die Guten wie die Bösen, und ebenso die Feigen und bloß Unnützen. Das ist das Wesen wahrer Wissenschaft.
2. Wirtschaft als Humanismus
Ein törichter Ökonom mißt den Erfolg einer Volkswirtschaft an dem finanziellen, monetären oder – weit weniger närrisch – realen Wohlstand, den einige oder alle Mitglieder dieser Gesellschaft genießen. Der kompetente Ökonom mißt den Wohlstand der Wirtschaft am Grad der Selbstverbesserung der spezifisch menschlichen Qualität der Mitglieder der Gesellschaft. Oder anders gesagt, die wirtschaftliche Aufgabe der Gesellschaft besteht darin, die Menschen der Nation besser zu machen, als sie es heute sind. Dies wird möglich, indem man den Menschen stets bessere Mittel an die Hand gibt, welche ihnen das Vermögen geben, pro Kopf die Macht des Menschen in der und über die Natur zu erhöhen. Oder besser können wir sagen: „Der größte Wohlstand, den eine verstorbene Generation ihren Erben hinterläßt, ist eine Gesellschaft mit einer besseren Qualität lebender Menschen.“
Die entgegengesetzte, weitverbreitete, aber bösartige Einstellung der meisten zeitgenössischen Lehrgänge in Wirtschaftswissenschaft ist die, Wohlstand so zu messen, wie es Adam Smith in einer entsprechenden häßlichen Passage in seiner berüchtigten Schrift Theorie der moralischen Empfindungen 1759 tat, die ich schon bei mehreren Gelegenheiten zitiert habe:
„Die Verwaltung des großen Systems des Universums… die Sorge für das allgemeine Glück aller vernünftigen und empfindsamen Wesen, ist Sache Gottes, nicht des Menschen. Dem Menschen ist eine weit bescheidenere Abteilung zugewiesen, aber eine, die der Schwäche seiner Kräfte und Beschränktheit seines Verständnisses angemessener ist – die Sorge für seine Familie, seine Freunde, sein Land … Aber obwohl wir … mit einem sehr starken Wunsch nach diesen Zielen ausgestattet sind, wurde es den langsamen und unsicheren Bestimmungen unseres Verstandes anvertraut, die richtigen Mittel zu ihrer Bewerkstelligung herauszufinden. Die Natur hat uns zu diesen weitgehend durch die ursprünglichen und unmittelbaren Instinkte gebracht. Hunger, Durst, die Leidenschaft, welche die beiden Geschlechter vereinigt, die Freude am Vergnügen und die Furcht vor Schmerz veranlassen uns, diese Mittel um ihrer selbst willen einzusetzen, ohne irgendwelche Rücksicht darauf, daß sie auf jene wohltätigen Ziele hinführen, welche der große Lenker der Natur durch sie herbeiführen wollte.“((Siehe Lyndon H. LaRouche jr., David P. Goldman, et al. The Ugly Truth About Milton Friedman, New Benjamin Franklin House, New York 1980, S. 107. Hervorhebung vom Verfasser.))
Entsprechende Gelehrte und Ökonomen sollten wissen, daß dieses Buch einer der Hintergründe war, welche dazu führten, daß Lord Shelburne 1763 ebendiesen Adam Smith mit subversiven Unternehmungen gegen Frankreich und gegen die englischen Kolonien in Nordamerika beauftragte. Bei der Ausführung dieser Aufgabe folgte Smith treulich der Lehre des pro-satanischen Bernard Mandeville und dessen Bienenfabel, wonach man private Laster fördern solle. Smith schrieb großzügig bei den Physiokraten Dr. François Quesnay und Turgot ab, als er 1776 seinen unter dem Kurztitel Der Wohlstand der Nationen bekannten Angriff auf die Gründung der Vereinigten Staaten von Amerika produzierte.
Schon aus Gründen seiner Herkunft zog Shelburne von der Britischen Ostindiengesellschaft die Methoden des venezianischen Stiletts dem kostspieligeren Unternehmen frontaler Bajonettangriffe vor. So war es derselbe Lord Shelburne, der seinen berüchtigten martinistischen Freimaurerorden aus dem Umfeld der Kreise Voltaires, zu dem Jacques Necker, der Herzog von Orléans, Graf Cagliostro, Casanova u. a. gehörten, als Stilett benutzte. Der Orden führte eine Reihe von Unternehmungen aus, um durch Tricks wie die Halsband-Affäre der Königin die französische Regierung zu stürzen. Dasselbe „Martinisten-Stilett“ benutzte der in Shelburnes britischem Außenamt tätige Fachmann für schmutzige Operationen, Jeremy Bentham, um die terroristischen Machenschaften der von London ausgebildeten britischen Agenten Danton, Marat sowie später Robespierre in Gang zu setzen.
Derselbe Martinistenorden ersann unter der Führung von Graf Joseph de Maistre die Rolle für Napoleon Bonaparte, die dieser annahm, als er sich von einem Robespierre-Mann in das große Ungeheuer verwandelte, dessen Kriege bis 1815 einen Zustand schufen, von dessen Folgen sich Kontinentaleuropa noch heute nicht ganz erholt hat. Joseph de Maistres Plan für das, woraus später das napoleonische imperiale Modell unter der Rubrik Synarchismus wurde, bildete tatsächlich die Grundlage, um das von europäischen Finanziers geschaffene Modell für Mussolini und Hitler in Gang zu setzen und weiter zu benutzen. Das schließt auch den von de Maistre angeregten Massenmord an Juden durch die nazistischen Diktaturen in der Zeit nach dem Versailler Vertrag 1922–45 ein.
Das Endergebnis dieser tierhaften Ideologie, wie sie der Shelburne-Mann Adam Smith vertrat, war die von der britischen Monarchie in die Welt gesetzte Legende vom Kapitalismus und vom Sozialismus des Karl Marx.
Das Verfassungssystem der Vereinigten Staaten war von Anfang an weder ein kapitalistisches noch ein sozialistisches „Wirtschaftsmodell“. Nur zu dem Grade, wie europäische Nationen, beispielsweise Bismarck-Deutschland und Rußland unter Alexander II., dem Rat des Ökonomen des Amerikanischen Systems Henry Carey folgten, konnte Kontinentaleuropa in wirtschaftlicher Hinsicht den USA das Wasser reichen. Von demselben Amerikanischen System der Volkswirtschaft ließ sich Präsident Franklin D. Roosevelt leiten, als er eine unter den von Andrew Mellon gesteuerten Präsidenten Coolidge und Hoover ruinierte Wirtschaft in die mächtigste Volkswirtschaft verwandelte, die die Welt je gesehen hat. Diese Politik wurde aber in den vergangenen drei Jahrzehnten unter einer Strategie, die zerstörerischer war als alles, was man unter Mellon und Hoover erlebte, völlig ruiniert.
Im Gegensatz zu zeitgenössischen europäischen Verfassungen und Staatssystemen definieren die Unabhängigkeitserklärung und Bundesverfassung (mit ihrer entscheidenden Präambel) der Vereinigten Staaten die Gesellschaftsform und Wirtschaft der USA weder als Kapitalismus noch als Sozialismus, sondern als das, was u. a. US-Finanzminister Alexander Hamilton als das „Amerikanische System der politischen Ökonomie“ beschrieb. Was das britische System und der von ihm ausgebildete Karl Marx als „Kapitalismus“ bezeichneten, war die britisch-imperiale Form der venezianisch geprägten, anglo-holländischen ultramontanen Herrschaft einer Finanzoligarchie. Das ist die Ordnung, die mit dem Sieg der anglo-holländischen Finanzoligarchie begann – ausgehend von der Macht, die der Pariser Vertrag vom Februar 1763, mit dem der für alle Seiten verheerende Siebenjährige Krieg zwischen den Mächten Kontinentaleuropas endete, der Britischen Ostindiengesellschaft übertrug.((Der Präzedenzfall für die Orchestrierung der gegenseitigen Zerstörung Kontinentaleuropas im Ersten Weltkrieg durch die britisch-imperiale Monarchie unter dem Kronprinzen und späteren König Edward VII.))
Ab 1848 ging die Macht der alten Feudalsysteme Europas, wie dem der Habsburger, weitgehend in Anhängseln des anglo-holländischen liberalen monarchischen Systems auf.((So wurde die frühere feudale Aristokratie Europas und anderswo weitgehend in einer Rolle als Juniorpartner oder reine Lakaien von den „bürgerlichen“ Monarchien Großbritanniens und der Niederlande absorbiert.)) Die Macht lag in diesem imperialen System bei der Finanzoligarchie, die als Synarchistische Internationale des 20. Jahrhunderts bekannt wurde – ebendie Synarchistische Internationale, deren Kabale von Privatbankiers uns Mussolini, Hitler und den Zweiten Weltkrieg bescherte.
Das europäische System, das Leichtgläubige in aller Welt als, wie sie es nennen, „das kapitalistische System“ auffassen, ist in Wirklichkeit gewöhnlich das System tyrannischer Herrschaft privater finanzoligarchischer Syndikate in Europa und andernorts; ihre Macht steht mittels Arrangements, die heute oft als „unabhängige Zentralbanksysteme“ bezeichnet werden, rechtlich über der Autorität der Regierungen. Die heutige Europäische Zentralbank ist eine Variante davon. Dieses Arrangement, das während der Verhandlungen zum Versailler Vertrag nach dem Ersten Weltkrieg gefestigt wurde, bescherte der Welt den zeitweilig von der Bank von England geförderten Adolf Hitler und all das Böse, wofür er stehen sollte.((Das wichtigste Instrument zur Koordinierung von Hitlers Aufstieg zur Macht war Montagu Norman von der Bank von England, sein wichtigster Agent in dieser Frage war der Bankier Hjalmar Schacht. Die deutsch-sowjetischen Verhandlungen, die dazu führten, daß die Nazis zuerst nach Westen losschlugen, anstatt nach Osten, veranlaßten einige in den relevanten Finanzkreisen, die Mussolini und Hitler an die Macht gebracht hatten, sich einstweilen der Zerstörung Hitlers zu widmen, bevor sie, sobald Präsident Franklin Roosevelt tot war, wieder daran gingen, ihre faschistoiden Perspektiven zu betreiben.)) Und dieselbe Kabale führte jetzt die Welt an den Rand eines Zusammenbruchs, der noch weit bedrohlicher ist als der von 1929–31, kurz vor dem Ende eines an sich bankrotten Systems der „Globalisierung“, das den ganzen Planeten in ein langes neues finsteres Zeitalter führen würde.
Es gab in Europa ernsthafte Versuche, in Übereinstimmung mit dem US-amerikanischen Modell Präsidialsysteme zu gründen; die Bemühungen de Gaulles mit der Fünften Republik belegen das. Aber sobald, wie gewöhnlich, die höhere Autorität einer „unabhängigen Zentralbank“ bekräftigt wird, besteht die Souveränität der Nation nur noch in Abhängigkeit vom Wohlwollen der wahren herrschenden Macht, der regierenden Finanzoligarchie.
Der Punkt, der formal für Verwirrung bei den Meinungen zum Vergleich des Amerikanischen Systems mit seinen gewöhnlichen europäischen Konkurrenten sorgt, ist der, daß das Amerikanische System den Begriff vom Preis (und Gewinn aus dem Verkauf mit Preisen versehener Waren) als das Medium benutzt, innerhalb dessen privates Unternehmertum arbeitet. Der prinzipielle Unterschied wird aber klar, wenn wir die Vorstellung des Kapitalismus, wie ihn das britische System definiert, beiseite lassen und durch das Amerikanische System der Volkswirtschaft ersetzen. Dieser Unterschied wird nur insoweit verwischt, wie die Praxis in den USA durch den Einfluß der in Europa entworfenen internationalen finanzoligarchischen Macht verdorben wird.
Der wesentliche Unterschied – besonders, wenn man von Wirtschaft im Rahmen von Kultur spricht, wie diese im vorangegangenen Teil dieses Berichtes behandelt ist – besteht darin, daß das britische System im Grunde (wie der deutsche Bundeskanzler Schröder kürzlich bemerkte) in sich ein amoralisches System ist, das praktisch auf dem Vorrang des Wuchers beruht.((Das Prinzip des Wuchers wurde von solchen Kreisen in Amerika wie dem Richter am Obersten Bundesgericht Antonin Scalia gegenüber der Präambel der Verfassung der Vereinigten Staaten unter Berufung auf die gleiche Lockesche Doktrin der „Eigentümer-Werte“ verteidigt, welche die Unabhängigkeitserklärung und die Präambel der Bundesverfassung verboten hatte, aber vor 1861–65 von den Befürwortern der Sklaverei vorgebracht wurde.)) Dagegen beruht das Amerikanische System grundsätzlich immer auf allgemeinen moralischen Erwägungen, auch von Deutschen und anderen Europäern, die an die höhere Autorität unseres Verfassungsprinzips der Förderung des Gemeinwohls glauben, welches Platon und der Apostel Paulus als Agape definierten. Das sind die Erwägungen, die in dem Eingangsabsatz dieses Kapitels stillschweigend eingeschlossen sind.
Die neuzeitliche Gesellschaft
Das große ökumenische Konzil von Florenz im 15. Jh. und die Wirkung, die von ihm ausging, bildet eindeutig die Trennungslinie zwischen der mittelalterlichen und der neuzeitlichen europäischen Zivilisation. Die Bundesverfassung der USA von 1789 ist das Erbe der Revolution, die damals in den Prinzipien der Staatskunst vollzogen wurde. Das beste Beispiel für die Schriften, in denen die praktische Bedeutung dieses Unterschiedes definiert wird, sind zwei Werke des (Kardinals) Nikolaus von Kues: seine Concordantia catholica, die über Dantes De Monarchia bei der Definition der Gründung der modernen souveränen nationalstaatlichen Republik hinausgeht; sowie seine Gründung der modernen Experimentalphysik mit einer Reihe von Werken, ausgehend von seiner De Docta Ignorantia, und eingeschlossen sein Anstoß zu den späteren Entdeckungsfahrten von Christoph Kolumbus nach Nord- und Mittelamerika.
Zugegeben, dieses Konzil begründete nicht eine vorgeschriebene Form des neuzeitlichen Staates, sondern arbeitete die im Christentum schon implizit vorhandenen ökumenischen Prinzipien aus, unter denen die Organisation von Völkern zwischen souveränen Staaten bewerkstelligt werden könnte. Allerdings verwirklichte man die Ergebnisse dieser Erkenntnisse bald in Form der ersten modernen europäischen souveränen Nationalstaaten auf der Grundlage des Prinzips der Agape.
Zu den Ergebnissen dieser vorgeschlagenen Reformen gehörte die Gründung des modernen Nationalstaats, den man „Gemeinwesen“ nennt, der zuerst in Frankreich unter Ludwig XI. und dann in England unter Heinrich VII. gegründet wurde. Bekräftigt wurde diese Auffassung des Prinzips des Gemeinwesens im ersten Artikel der Vereinbarung zur Beendigung der Religionskriege, mit dem der Westfälische Friedensvertrag von 1648 beginnt, so wie dies in der Amerikanischen Unabhängigkeitserklärung von 1776 und Verfassung von 1789 vervollkommnet wurde. Der Gedanke der „Förderung des Gemeinwohls“ als integraler Bestandteil des höchsten verfassungsrechtlichen Prinzips in der Präambel der Verfassung ist ein Ausdruck des prinzipiellen qualitativen Unterschieds zu den feudalen und modernen Gesellschaften Europas.
Wenn wir die Geschichte der neuzeitlichen europäischen Kultur seit diesen Entwicklungen richtig bewerten wollen, dann sollten wir gerechterweise sagen, daß die prophetische Voraussicht des Kardinals Nikolaus von Kues, von Europa aus Reisen über den Atlantik und von Europa zu asiatischen Zielen zu unternehmen, zu einer langfristigen Strategie wurde. So versuchten z. B. Christoph Kolumbus und der Engländer Thomas Morus, für diese [von Nikolaus entworfene – die Red.] Politik des großen Konzils Verbündete in entfernteren Regionen des Planeten zu finden. Zusammengenommen führten die Anstrengungen in diese Richtung zur Gründung eines Systems souveräner Nationalstaaten auf dem amerikanischen Kontinent. Die Vereinigten Staaten entstanden als der erste neuzeitliche Nationalstaat mit einem verfeinerten Entwurf, worin sich das beste Wissen aller bekannten Teile der europäischen Kultur bis zu dieser Zeit ausdrückte.
Die Vereinigten Staaten wurden von Europäern geschaffen. Wie der Fall der Gründung und frühen Entwicklung der Massachusetts Bay Colony bis 1688 belegt, entstanden die Vereinigten Staaten nicht als Ergebnis einer blinden Flucht von Verfolgten aus Europa, obwohl viele Einwanderer als Flüchtlinge kamen. Unser Land wurde dazu geschaffen – wie die Kolonie an der Massachusetts-Bucht im 17. Jh. zeigt –, in unseren Gefilden eine Republik zu gründen, wie man sie in Europa nicht gründen konnte, weil die europäischen Finanziers und andere Oligarchen alles taten, um die Errungenschaften der Renaissance des 15. Jhs. mit der Waffe des Religionskrieges zu zermalmen.
Nachdem das britische Außenamt 1789–1815 mit Hilfe des Martinistenordens die französische Revolution gesteuert und ruiniert hatte, wußten wir in Amerika – die Politik von Außenminister John Quincy Adams belegt es –, daß wir als Nation angesichts der z. B. von London und Metternich aus Europa angedrohten Zerstörung nicht überleben konnten, wenn wir nicht unsere Republik zu einem Grad der Stärke aufbauten, daß sie sich gegen diese mörderischen Gegner verteidigen konnte. Zu diesem Zweck erfand Adams praktisch unser Außenministerium (Department of State) in einer funktionierenden Form, mit seiner bis heute fortdauernden Tradition eines Systems gutinformierter, denkender Historiker, und verband dies mit klar definierten territorialen Zielen. So definierten wir die Vereinigten Staaten als eine kontinentalumspannende Macht, eine souveräne Republik in angestrebten ständigen nördlichen und südlichen Grenzen und vom Atlantischen bis zum Pazifischen Ozean. Mit Präsident Lincolns Sieg über den von London angezettelten Aufstand der Befürworter der Sklaverei 1861–65 wurde aus uns eine mächtige Nation, indem wir Massen an damals hauptsächlich europäischen Einwanderern aufnahmen, um das Territorium unserer Republik zu besiedeln und zu entwickeln.
Zu dem Grade, wie wir diesen Einwanderern Gelegenheit boten, ihr kulturelles und produktives Potential frei zu entwickeln, leisteten diese für die Vereinigten Staaten Beiträge, die man ihnen in Europa nicht erlaubt hätte. So wurden die Vereinigten Staaten durch eine Politik, für welche die Präsidenten Lincoln und Franklin Roosevelt beispielhaft sind, zur ersten wahren modernen europäischen Republik, einer Republik auf der Grundlage einer Verfassung, die darin wurzelte, daß sie die größten Errungenschaften der europäischen Zivilisation bis zu jener Zeit verarbeitete.
Nachdem wir dies erreicht hatten, lenkte uns Präsident Franklin Roosevelt auf ein noch größeres Ziel – nämlich, das Gute, was wir bisher erreicht hatten, nicht nur auf die amerikanischen Republiken jenseits unserer Grenzen auszuweiten, sondern auch ein entsprechendes Verhältnis zu den vorhandenen oder neu entstehenden Nationen in Eurasien, Afrika, Australien und Neuseeland zu schaffen. Diese Absichten wurden unter dem Nachfolger dieses Präsidenten weitgehend zunichte gemacht, aber sie bleiben die richtige langfristige Zielsetzung für die Vereinigten Staaten heute.
Nachdem nun als Hintergrund soviel zur modernen politischen Geschichte gesagt ist, wenden wir uns dem Hauptthema dieses Kapitels zu. Gehen wir direkt zu dem Punkt in dem Absatz, mit dem ich dieses Kapitel eröffnet habe.
Ich schrieb: „… Der kompetente Ökonom mißt den Wohlstand der Wirtschaft am Grad der Selbstverbesserung der spezifisch menschlichen Qualität der Mitglieder der Gesellschaft… Oder besser können wir sagen: ,Der größte Wohlstand, den eine verstorbene Generation ihren Erben hinterläßt, ist eine Gesellschaft mit einer besseren Qualität lebender Menschen‘.“ Damit wenden wir uns einem Thema zu, bei dem das Prinzip der Ironie zu einer höheren, allerdings schon angedeuteten Form gebracht wird.
Da die Menschheit eine qualitativ höhere Daseinsform ist als das übrige Leben, können wir fragen: Was ist das natürliche Eigeninteresse der Menschheit, welche über den Bereich des bloß Biologischen hinaus reicht? Was ist demzufolge das natürliche Eigeninteresse des Einzelnen? Muß dieses natürliche Eigeninteresse nicht das ausdrücken, was die Existenz des menschlichen Individuums von der bloßen biologischen Existenz des Einzelnen und seiner bzw. ihrer Gattung abhebt?
Fokussieren wir auf einen feineren Punkt, der in diesem Gedankengang zusammengefaßt ist. Da diese Besonderheit der menschlichen Gattung im Handeln nur in den schöpferischen Geisteskräften liegt, die nur als souveränes Wirken des einzelnen menschlichen Geistes existieren, was ist dann der universelle Daseinszweck dieses Individuums?
Da das Individuum diese einzigartige Qualität, wie sie mit Wernadskijs wissenschaftlicher Definition der Existenz der Noosphäre verbunden ist, zum Ausdruck bringt, besteht der einzige unsterbliche Sinn der menschlichen Existenz darin, diese besondere individuelle Souveränität auszudrücken.
Diese souveräne Funktion des Individuums ist allerdings durch seine individuellen Schöpfungen noch nicht ganz umschrieben; es gehört auch dazu, die von anderen ausgedrückte Unsterblichkeit derselben Qualität zu erhalten. Dies bedeutet die Verantwortung des lebenden Individuums, die Entdeckungen anderer aufzunehmen und so zu bewahren, daß diese Entdeckungen von Prinzipien in Wissen und Praxis zukünftiger Generationen eingehen.
Es bedeutet auch die Verantwortung, die physischen Bedingungen dafür zu schaffen, daß die gegenwärtige und zukünftige Gesellschaft dieses Wissen praktisch umsetzen kann.
So ist das Menschenbild des souveränen unsterblichen Wesens über die bloße biologische Form hinaus definiert. Dies ist der geschichtlich definierte Ort aller menschlichen Existenz.
Lehrt man Ihre Kinder die Geschichte so in der Schule? Wenn nicht, können Sie dann ehrlich behaupten, ihr Kind werde wirklich als Mensch ausgebildet, und nicht bloß als menschliche Karikatur eines Hündchens? Wären Sie qualifiziert, Ihrem Kind als Hauslehrer die Geschichte und die Geschichte der Wissenschaft so beizubringen, wie es für einen wahren Menschen notwendig ist – eine Erziehung zur Unsterblichkeit? Ist die öffentliche Bildung für Ihr Kind besser? Macht das Kind die Erfahrung, diese Ideen der speziell menschlichen Qualität von Ironie, auf die ich mich im vorangegangenen Kapitel bezogen habe, selbst zu entdecken?
Betrachten wir diese Fragen, die sich aus solchen Überlegungen ergeben, aus der Sicht der vergangenen und gegenwärtigen physischen Wirtschaft unserer Gesellschaft.
Moderne Volkswirtschaft
Wir können die Belege für die Geschichte der physischen Wirtschaft der Menschheit auf zweierlei Art und Weise betrachten. Wir können einerseits die neuzeitliche lebende Menschheit als eine Ansammlung von Artefakten einer der Noosphäre entsprechenden Qualität auffassen. Oder wir wechseln zu einem anderen Standpunkt, einem dreiteiligen Bild: 1. physische Fossilien der Noosphäre als solche, 2. geistige Hinterlassenschaften, die als Ansammlung überlieferten Wissens weitergegeben werden, und 3. neue Entdeckungen von Prinzipien der klassischen Kunst und Wissenschaft, so wie ich dieses Problem im vorangegangenen Kapitel in Angriff genommen habe. Die moderne Wirtschaft auf die erste Art und Weise zu betrachten, entspricht der gegenwärtig verbreiteteren Sichtweise über Wirtschaft; die zweite, verbesserte Auffassung von moderner Wirtschaft, wo wir das bisher erworbene Wissen der Gesellschaft über Naturgesetze als eine höhere Art von Hinterlassenschaft auffassen, ist eigentlich die einzig annehmbare Denkweise, die Denkweise neuzeitlicher Denker wie Kepler, Leibniz und Riemann, die dem prinzipientreuen Humanisten annehmbar erscheinen sollte.
Die mit der heutigen Praxis der sog. „Globalisierung“ verbundene Politik hat sich nachweislich als bewußte Zerstörung der Zivilisation erwiesen – die absichtliche Verringerung des Lebensstandards des Menschen vom gegenwärtigen Niveau einer Bevölkerung von mehr als sechs Milliarden zurück zu einem Niveau von deutlich unter einer Milliarde, wie es Perioden vor dem Aufstieg der neuzeitlichen europäischen Kultur auszeichnete. Ein Teil dieser völkermörderischen Wirkung der „Globalisierung“ ist der Verlust an physischen Verbesserungen, z. B. grundlegender wirtschaftlicher Infrastruktur. Ein Teil ist der Verlust an sozial-intellektueller Infrastruktur, die in der neuzeitlichen europäischen Kultur als Erbe früherer Quellen wie dem klassischen griechischen Erbe der Pythagoreer, Solons und Platons aufgebaut wurde.
Der dritte und bedeutendste Verlust ist der Verlust an Moral, wofür die neumalthusianischen Weltanschauungen beispielhaft sind, wie man sie mit dem Einfluß des Kongresses für Kulturelle Freiheit aus den USA verbindet.((Den man seit dem Existentialismus von 1968 besser als „Kongreß für Kulturelle Freizügigkeit“ bezeichnen sollte.)) Der Gedanke des Fortschritts an sich, auf dem alle Errungenschaften der europäischen Kultur bis heute beruhen – der Wille, wirklich Mensch zu sein –, ist mit bereits weltweit verheerenden Folgen untergraben worden.
Denken wir an die Auswirkungen eines Wandels der Sicht der Menschheit heute, weg vom zweiteiligen Maßstab bloß physischer Fossilien als solcher und des Menschen, hin zum dreiteiligen Maßstab physischer Hinterlassenschaften und geistiger Hinterlassenschaften in Form von Entdeckungen von Prinzipien des physischen Universums sowie der klassischen Kunst, beides im Verhältnis zum lebenden, schöpferisch denkenden Individuum. Man betrachte den Menschen als in einer Gleichzeitigkeit der Ewigkeit existierend, wo die Vergangenheit weiter auf die Gegenwart wirkt, um auf diese Weise diese Zukunft zu erzeugen. Der bedeutendste Ausdruck der Wirkung der Vergangenheit auf Gegenwart und Zukunft liegt darin, daß die gegenwärtigen Generationen frühere Entdeckungen universeller Naturprinzipien und klassischer künstlerischer Komposition nacherleben als die Art und Weise, wie die zukünftigen Generationen geprägt werden.
Diese Wirkung innerhalb einer so definierten Gleichzeitigkeit der Ewigkeit ist es, was wahrhaften Wert bestimmt – als einen Prozeß des Werdens, und nicht als vollendete Wirkung des gegenwärtigen Augenblicks bis jetzt.
Das ist der Einstiegspunkt in einen Bereich der größten Ironie überhaupt: daß auf diese Weise auf uns eingewirkt wird und wir erfolgreich auf die Zukunft einwirken. Es ist die Ironie, jetzt zu handeln, damit wir besser werden, als wir es jetzt sind, gleichzeitig aber durch Verbesserung der Infrastruktur und Produktionstechnik und durch klassische Kunst wirksam die Zukunft des Universums beeinflussen, selbst noch lange nach unserem körperlichen Tod. Das ist der wahre Maßstab, nach dem man die Messungen der Wirtschaftswissenschaftler bemessen muß: der Maßstab, Menschen zu schaffen, die mehr Macht über ein für solche Menschen besser bewohnbares Universum haben.
So bilden also, abschließend gesagt, klassische Wissenschaft und Kunst den Prozeß, verbesserte Menschen hervorzubringen, deren Macht im Universum und über die Teile des Universums, die unsere Gattung bewohnt, moralisch wie physisch immer weiter zunimmt. Um wahrhaft menschlich zu werden, müssen wir also ironisch denken.