Vor mehr als 350 Jahren entwickelte Europas größter Philosoph und Wissenschaftsorganisator G. W. Leibniz als erster einen Plan für die Entwicklung Eurasiens. Von welchen Überlegungen er dabei geleitet wurde, zeigt der folgende Artikel aus einer EIR-Studie über China 1995, den wir gekürzt wiedergeben.
Von der Idee eines Zusammenwirken Europas, Chinas und Rußlands geleitet schuf Leibniz in der verheerenden Zeit nach dem Dreißigjährigen Krieg die Grundlagen für ein modernes Europa. Den Schlüssel dafür sah er in der infrastrukturellen Erschließung und Entwicklung Eurasiens – vor allem Rußlands und Chinas. Die infrastrukturelle Erschließung dieser Länder, die Gründung von Wissenschaftsakademien und nicht zuletzt auch die vergleichende Sprachforschung sollten zum Leitfaden für die Wissenschafts- und Technologieanstrengungen der europäischen Akademien, insbesondere der von Leibniz 1700 gegründeten Berliner Sozietät werden. Eine wirtschaftliche Renaissance war nach Leibniz‘ Auffassung jedoch nur möglich, wenn diese mit einer kulturellen und wissenschaftlichen Renaissance einherginge, d. h. wenn es gelänge, das gesamte Wissen und die Erfindungen der Menschheit zu vermitteln und die „Erfindungskunst“ (ars inveniendi) im Denken jedes Einzelnen zu replizieren. Zu diesem Zwecke solle das beste Wissen der Menschheit von Urzeiten an neu aufgefunden werden, schrieb Leibniz in einer Denkschrift (1716) an den Zaren Peter I., und dieses Wissen und diese Erfindungen sollten so geordnet werden, „daß man daraus sehen könnte origines inventionum, wie nämlich die Menschen auf die Erfindungen und Wissenschaften kommen, oder doch darauf kommen können, denn eine solche Lehrart würde zugleich ein Wegweiser zur Verbesserung der Wissenschaft und neuer Erfindungen sein.“
Zur Erziehung einer Nation gehört, wie Leibniz in dieser Denkschrift forderte, die Einrichtung von Druckereien, Buchläden und vor allem Bibliotheken, in denen Bücher und Manuskripte „in slavonischer, deutscher, lateinischer und in den europäisch lebenden Sprachen, also englisch, französisch, welsch, spanisch auch griechisch, literal, und vulgarhebräisch, arabisch, syrisch, chaldäisch, äthiopisch, coptisch, armenisch und sinesisch selbst, also das beste Wissen der Menschheit und die wichtigsten Erfindungen zusammengetragen würden. … Es muß auch eine solche Hauptbibliothek so bewand sein, daß man von allen Historien, Ländern, Sprachen, natürliche und künstliche Dinge, Geschäften, Wissenschaften, Nahrungen und Lebensprofessionen völlige Nachricht so viele wie möglich darin finde und also der ganze Schatz menschlicher Wissenschaft, so viel in Schriften bracht, darin stecke.“
Daneben forderte Leibniz die Einrichtung eines Wissenschaftsmuseums, wo die zur damaligen Zeit gemachten wichtigsten Erfindungen, alle „optischen, astronomischen architektonischen, militärischen, nautischen, mechanischen und andere Investitionen vorgeführt werden. … Hierzu rechne ich auch allerhand Instrumenta, die ein Baumeister, Ingenieur, Mechanicus, Astronomus brauchet, und die keinen allzu großen Platz einnehmen, sondern sich in einem Cabinet zeigen lassen.“
Weiter regte Leibniz die Errichtung eines Technologiemuseums an, eines „Theatrum naturae et artis“. Dazu gehöre „ein Observatorium, Laboratorium, Rüsthaus und Magazin, … darin auch Modelle von allerhand nützlichen Inventionen in ziemlicher Größe sich finden sollen, sonderlich von allerhand Mühlen, Hebzeugen, Wasserwerken auch vielen Arten der bey Bergwerken gebräuchlichen Maschinen.“
Besondere Bedeutung maß Leibniz der Erforschung der physikalischen Geographie der Länder Eurasiens bei; immer wieder sprach er von der Notwendigkeit der magnetischen, d. h. kartographischen Erfassung Rußlands und Chinas, insbesondere Sibiriens. Darauf aufbauend könne man dann an die Hebung der Landwirtschaft, des Bergbaus, des Handwerks denken, an die Anlage von Kanälen, die Austrocknung von Sumpfgebieten und vor allem eine verkehrstechnische Erschließung Eurasiens, worunter er den Bau von Straßen von Rußland nach China und Persien, die Schiffbarmachung von Flüssen und Kanälen und Ähnliches verstand.
Leibniz schätzte die strategische Bedeutung seines Eurasienprojektes so hoch ein, daß er in der Generalinstruktion der Berliner Sozietät der Wissenschaften (1700) und anderen Akademieentwürfen die Idee der Wissenschaftsmission in China und Rußland als wesentlichstes Ziel der Akademiearbeit anführte. Besonders günstig fügte sich für Leibniz, daß er eine enge persönliche Beziehung zu dem russischen Zaren Peter I. unterhielt und diesem als Berater in Fragen der Infrastruktur zur Verfügung stand. Nur über Rußlands Vermittlung würde es möglich sein, Europa zukünftig mit China zu verbinden, was beiden Seiten sowohl wirtschaftspolitisch wie auch geistig-kulturell zu gegenseitigem Nutzen gereichen würde: „So kämen die chinesischen Waren und Neuigkeiten aus China nach Europa, und andererseits würde sich der christliche Glaube nach China und zwar durch Moskau auf dem Wege der Kommunikation verbreiten.“
In der Generalinstruktion wurde die Bedeutung des Zaren als Architekt der von Leibniz ins Auge gefaßten neuen europäischen Friedens- und Wirtschaftsordnung besonders betont: „Weil nun derselbe wegen seiner großen Macht und weitläufigsten Lande zu unserm durch der Sozietät Aufrichtung abzielenden gemeinnützigen Zweck ein Großes beitragen kann, so wollen wir bedacht sein, wie deswegen mit diesem Monarchen bei Gelegenheit Handlung gepflogen und dienliche Anstalt gemachet werde, daß von den Grenzen unseres Landes an bis nach China nützliche observationes astronomicae, geographicae, daneben nationum, linguarum et morum rerumque artificialium et naturalium nobis incognitarum und dergleichen gemachet und der Sozietät zugeschicket werden.“
Leibniz und die Jesuiten
Woran knüpfte Leibniz an, als er sich als erster europäischer Gelehrter mit China näher auseinandersetzte? Das damalige Wissen über China, welches auf einen kleinen Kreis begrenzt war, stammte aus den Berichten der Franziskanermönche Montecorvino, Rubruch u. a. aus dem frühen 13. Jahrhundert; diese waren zum Beispiel dem Vatikan und dem inneren Kreis der Wissenschaftler um Christoph Kolumbus bekannt (u. a. der italienische Mathematiker und Freund des Nikolaus von Kues, Toscanelli). Bis auf einige wenige Büchlein gab es keine tiefergehende Kenntnis über China, und keine Landkarten. (So bestand zum Beispiel in Europa kaum Kenntnis darüber, daß bis zum Jahr 1443 der berühmte chinesische Admiral Cheng He mit seiner damals weltweit modernsten Flotte eine Serie maritimer Expeditionen bis an die Küste Afrikas unternommen hatte oder daß China seit dem 8. Jh. den Buchdruck kannte und lange vor Europa Hydraulik und Maschinen entwickelte.)
Seine erste direkte Kenntnis über China erlangte Leibniz, als er 1689 in Rom mit dem in China tätigen Jesuitenpater Claudio Filippo Grimaldi zusammentraf. Als Nachfolger Adam Schalls, des Erziehers des chinesischen Kaisers Kang Hsi (1672-1722), leitete Grimaldi damals am Kaiserhof das Mathematische Tribunal. Zu seinen engsten Mitarbeitern gehörten die Patres Verjus, Verbiest, Bouvet, Gerbillon u. a., welche ebenfalls als führende Berater im Bereich Astronomie, Mathematik und Ingenieurswesen tätig waren. Grimaldi berichtete Leibniz als Augenzeuge über China und Rußland, etwa über den ersten russisch-chinesischen Grenzvertrag von Nertschinsk und über die Anfänge der China-Mission, die von dem italienischen Jesuitenpater Matteo Ricci zu Beginn des 16. Jahrhunderts initiiert worden war.
In der Mathematik und Astronomie wohl ausgebildet, war Ricci mit einem Cembalo und eigenen Kompositionen nach China gekommen, wo er während seines 28jährigen Aufenthalts erstmals die wesentlichen wissenschaftlichen Texte Europas in die chinesische Sprache übersetzte. „Wahrscheinlich seit den Zeiten der Apostel ist kaum ein größeres Werk für den christlichen Glauben in Angriff genommen worden“, so lautete Leibniz‘ Kommentar zu der unter Ricci eingeleiteten Ära europäisch-chinesischer Zusammenarbeit, welcher erst der unselige Ritenstreit (bis 1742) ein Ende setzte.
Im Jahre 1697 veröffentlichte Leibniz seine Novissima Sinica, eine erste systematische Abhandlung über China, wo er „leitmotivisch“ seinen Renaissance-Entwurf zusammenfaßte:
„Durch einzigartige Entscheidung des Schicksals, wie ich glaube, ist es dahin gekommen, daß die höchste Kultur und die höchste technische Zivilisation der Menschheit heute gleichsam gesammelt sind an zwei äußersten Enden unseres Kontinents, in Europa und Tschina (so nämlich spricht man es aus), das gleichsam wie ein Europa des Ostens das entgegengesetzte Ende der Erde ziert. Vielleicht verfolgt die höchste Vorsehung dabei das Ziel – während die zivilisierten und gleichzeitig am weitesten voneinander entfernten Völker sich die Arme entgegenstrecken – alles, was sich dazwischen befindet, allmählich zu einem vernunftgemäßen Leben zu führen. Und es geschieht nicht durch Zufall, glaube ich, daß die Russen, die durch ihr riesiges Reich China mit Europa verbinden und den äußersten Norden des unzivilisierten Gebietes entlang den Küsten des Eismeers beherrschen, unter dem tatkräftigen Bemühen des regierenden Herrschers selbst, wie auch durch den mit Ratschlägen unterstützenden Patriarchen, wie ich gehört habe, dazu angehalten werden, unseren Errungenschaften nachzueifern.“
Zu den wichtigsten in den Novissima Sinica angedeuteten Chinaplänen gehören die Gründung einer Weltakademie der Wissenschaften, an der westliche und chinesische Wissenschaftler gemeinsam tätig werden sollten, die zukünftige Rolle Rußlands als Mittler zwischen China und Europa, die Erforschung Sibiriens, und nicht zuletzt die Begründung der vergleichenden Sprachwissenschaft – die, wie Leibniz vermutete, auch Auskunft über den vermuteten gemeinsamen Ursprung aller Völker, den Ursprung des Denkens und der Sprache liefern würde.
In einem Brief an Pater Grimaldi aus dem Jahre 1689, der in den Novissima Sinica abgedruckt ist, erkundigt Leibniz sich u. a. ausführlich:
„15. Ob es keine Spuren von beweisender Geometrie in den alten Schriften der Chinesen gibt, und keine Spuren der Metaphysik, und ob jenen bereits der Lehrsatz bekannt war, der dem Pythagoras Hekatomben wert zu sein schien?
16. Über das Alter der Himmelsbeobachtungen bei den Chinesen und ob man sie nicht erhalten kann, um die Geschichte des Himmels zu vervollständigen; […]
21. Ob nichts bekannt ist über das Meer zwischen Nordasien und Nordamerika und über die Außenlage des Landes Jezzo jenseits von Japan und über die Berichtigung von geographischen Karten jener Gebiete;
22. Über die Übersetzung ins Lateinische von einigen nützlichen Auszügen aus chinesischen historischen und vor allem auch naturwissenschaftlichen Werken…
24. Ob sie einige besondere Maschinen haben, die in Europa nachzubauen der Mühe wert wären, und über ihre Art und Weise größte Steine fortzubewegen, wozu sie viele Menschen einsetzen;
25. Was von einer Clavis der chinesischen Schriftzeichen zu erhoffen ist; […]
27. Über einige künstliche wirtschaftliche Hilfsmittel der Chinesen im Acker und Gartenbau, die nützlich und wert sind beschrieben zu werden; […]
30. Über die Erz- und Mineralminen, und wie sie Kochsalz, Natron und ähnliches gewinnen.“
In seiner Korrespondenz mit Grimaldi wies Leibniz darauf hin, daß auch der Astronom Kepler sich zeitlebens sehr für die chinesische Astronomie interessiert habe. Entdeckt habe er dies in der aus dem Jahre 1630 datierten Korrespondenz zwischen Kepler und dem damals in China lebenden Pater Terrentius, denn darin teile Kepler u. a. mit, daß er seine Rudolphinischen Tafeln nach China habe bringen lassen. Kepler habe sich intensiv mit den Anfängen der chinesischen Astronomie befaßt und zugleich vieles, was im Laufe der Zeit auf der Grundlage reiner Erfahrung festgestellt worden sei, korrigiert.
In einem anderen an den Herzog Rudolph Augusten zu Braunschweig-Lüneburg gerichteten Brief (er erschien im selben Jahr wie die Novissima Sinica) teilte Leibniz fast „beiläufig“ seine sensationelle Wiederentdeckung des binären Zahlensystems mit, zu der er über das Studium der 3000 Jahre alten Texte von Fu Hi gekommen war. Dem Brief beigelegt war eine Medaille mit dem Titel: „Das Geheimnis der Schöpfung“. Neben dem auf die Medaille eingeritzten binären Zahlensystem, einem Vorläufer des Rechencomputers, war weiter zu lesen: „Imago creationis – Ex nihil ducendis Sufficit Omnum.“ Die Welt sei aus nichts durch die Allmacht Gottes erschaffen worden. Und dies werde durch nichts besser demonstriert als durch den Ursprung der Zahl und die Entwicklung der Zahlen aus Eins und Null, kommentierte Leibniz seine Entdeckung.
Eine zentrale Rolle bei dem geistigen Austausch zwischen den Jesuitenpatres und China spielte, wie aus den Novissima Sinica hervorgeht, Kaiser Kang Hsi (1654-1722), der aus Mandschu-Dynastie stammte. Sein „Wissensdurst war nahezu unglaublich“, berichtet Leibniz, „denn er bemühte sich zusammen mit Pater Verbiest in der Abgeschlossenheit eines inneren Gemachs drei oder vier Stunden lang täglich an mathematischen Geräten und Büchern wie ein Schüler mit seinem Lehrer. Und er machte so große Fortschritte, daß er die euklidischen Beweise erfaßte, die trigonometrischen Berechnungen verstand und so in der Lage war, die astronomischen Erscheinungen in Zahlen auszudrücken.“
Unter Kang Hsis Herrschaft wurden der erste bedeutende chinesisch-russische Grenzvertrag von Nertschinsk geschlossen und große Infrastrukturprojekte initiiert: Deichbauten, um der Überschwemmungen Herr zu werden, sowie ein weitverzweigtes Netz von Kanalbauten.
Kang Hsi entsprach dem von Platon geprägten Konzept des „Philosophenkönigs“, das auch im Konfuzianismus von großer Bedeutung war. Nach der konfuzianischen Philosophie soll der Herrscher, von der „Einzigartigkeit des Individuums“ und dessen souveräner schöpferischer Fähigkeit ausgehend (also einem Menschenbild, welches im Grundsatz den Ideen der christlichen Philosophie sehr nahe steht), Charakter und Vernunft besitzen und Gerechtigkeit üben; er hat als Herrscher das „Mandat des Himmels“ erhalten, d. h. er ist Instrument des himmlischen Naturrechts. Verletzt er dieses, so verliert er das Mandat des Himmels.
Leibniz‘ philosophische Methode
Leibniz war ein überzeugter Platoniker. Im Gegensatz zu den Empiristen, Naturalisten und Taoisten zeigte Leibniz mit seiner wissenschaftlichen Methode, daß der Mensch aufgrund einer „universellen“ Qualität des Geistes, eines „natürlichen Lichtes“, aus sich heraus neue Ideen schafft. Dabei ist alles, was der Mensch denkt, bereits „virtuell“ in ihm angelegt, weil der Geist stets alle seine zukünftigen Gedanken ausdrückt und bereits in verworrener Weise an alles denkt, was er jemals deutlich denken wird. „Nichts kann uns gelernt werden (wie Menon anhand der Entdeckung inkommensurabler Größen zeigt), dessen Idee wir nicht schon im Geiste hätten, die gleichsam die Materie ist, woraus sich der Gedanke bildet.“ Die Vortrefflichkeit der platonischen Denkmethode sah Leibniz darin, „daß Platon den Geist als sich selbst bewegende Substanz definiert, die sich frei und aus sich heraus zum Handeln bestimme, daß er ihn somit als Prinzip der Tätigkeit im Gegensatz zur Materie ansieht, die für sich allein der Tätigkeit unfähig, eher eine Erscheinung ist“.
Das heißt für Leibniz:
- Der Geist ist nicht Materie, sondern die Natur hat ihren Ursprung in metaphysischen Prinzipien, die über das Materielle hinausgehen.
- Die Fähigkeit zu universeller Ideenbildung ist eine dem Menschen „innenwohnende“ Fähigkeit, in dem Sinne wie es der hl. Paulus verstand, nämlich daß die „Gesetze des Universums in die Herzen der Menschen eingeschrieben sind, auch wenn sie nicht alles gewahr werden und daß man gestehen muß, daß die Neigung zur Anerkennung der Idee Gottes in der menschlichen Natur liegt“.
- Hinter den Erscheinungen der Natur liegt ein ewiges unveränderliches Prinzip, das Leibniz den „zureichenden Grund“ nennt, der – da er keines anderen Grundes bedarf – außerhalb der Reihe der zufälligen Dinge liegt und sich in einer Substanz vorfindet, welche die Ursache der Reihe und ein notwendiges Wesen ist, das den Grund seiner Existenz in sich selber trägt. „Dieser letzte Grund der Dinge wird Gott genannt.“
- Das Universum wurde nicht aus blinder Willkür erschaffen, sondern folgt einer schöpferischen Notwendigkeit, und in seiner unendlichen Güte und Weisheit schuf Gott die „beste aller Welten“, d. h. „aus der höchsten Vollkommmenheit Gottes folgt, daß er bei der Hervorbringung des Universums den bestmöglichen Plan gewählt hat, gemäß dem sich die größte Mannigfaltigkeit mit der größten Ordnung vereinigt: bei dem Platz, da Ort und Zeit in der besten Weise verwendet sind und die größte Wirkung auf die einfachste Weise hervorgebracht wird: kurz, bei dem den Geschöpfen die größte Macht, die größte Erkenntnis, das größte Glück und die größte Güte gegeben ist, die das Universum in sich aufnehmen kann“.
- Ohne die Liebe zu Gott wird es kein Fundament einer gerechten Gesellschaft geben. Dies erhält man nur aus der wahren Demonstration der Existenz Gottes, d. h. dem Entdecken neuer Naturgesetze, dem Verbessern der Lebensbedingungen des Menschen, d. h. durch bona opera, welche der Mensch als Nachahmung und Abbild von Gottes Liebe und Weisheit schafft.
Natürliche Philosophie
Im Verlaufe seines intensiven Studiums der chinesischen Sprache und Astronomie sowie der konfuzianischen Philosophie kam Leibniz zu dem Schluß, daß es in der alten Kultur Chinas einen methodischen Denkansatz gebe, der zu denselben Darstellungen über das Höchste, Absolute, Gott, die Gesetze des Universums und über den Menschen kam wie Platon und die christlichen Philosophen.
Kurz vor seinem Tod schrieb Leibniz ein Werk, das leider unvollendet blieb, Die Natürliche Theologie bei den Chinesen. Darin setzt er sich kritisch mit der „reduktionistischen“ Auslegung des Konfuzianismus durch die französischen Patres Longobardi und St. Marie auseinander; diese hatten die These aufgestellt, die konfuzianische Philosophie sei naturalistisch-pantheistisch ausgerichtet. Auf der Grundlage der wenigen Textstellen des Konfuzius und des Neukonfuzianers Chu Hsi stellte Leibniz in dieser letzten philosophischen Abhandlung eine faszinierende Synthese zwischen den Grundprinzipien des Konfuzianismus und der christlichen Philosophie her.
Mit jener allen großen Denkern eigenen Liebe, die aus allem das Beste herausholt und in der Absicht prüft, ob man ihm einen der Vernunft entsprechenden Sinn geben kann, kam Leibniz zu dem Schluß, daß die drei großen Begriffe des Konfuzianismus: 1. Das Urprinzip Li, das erste Prinzip des Universums, 2. das Prinzip Ki, Urmaterie und materielle Schöpfung, und 3. das Prinzip Shang ti, Herr des Himmels, dem christlichen Gottesbegriff sehr nahe kämen.
„China ist ein großes Reich, das dem kultivierten Europa an Ausdehnung nicht nachsteht und es an Einwohnern und guter politischer Ordnung sogar übertrifft“, schreibt Leibniz zu Beginn der Abhandlung. „Auch gibt es in China eine in mancher Hinsicht bewundernswerte öffentliche Moral, verbunden mit einer philosophischen Lehre oder richtiger, mit einer Natürlichen Theologie, die ehrwürdig ist durch ihr Alter, eingeführt und zur Autorität gekommen vor etwa 3000 Jahren, also lange vor der Philosophie der Griechen, auch wenn diese letztere, abgesehen von unseren heiligen Büchern, die erste ist, von der die übrige Welt Werke besitzt. Es wäre daher von uns, die wir im Vergleich mit den Chinesen neu hinzugekommen und der Barbarei kaum entwachsen sind, sehr unklug und anmaßend, wollten wir eine so alte Lehre verurteilen, nur weil sie nicht auf den ersten Blick mit den scholastischen Begriffen, die uns vertraut sind, übereinzustimmen scheint.“ (3) Leibniz untersucht die Prinzipien Li und Ki auf der Grundlage eines gründlichen Studiums aller verfügbaren übersetzten konfuzianischen Texte (er bedauerte sehr, daß es nur wenig übersetzte Textstellen gab und regte an, die Übersetzungen der alten Texte zu vervollständigen).
„Das Urprinzip der Chinesen heißt Li (2,13), das bedeutet Vernunft oder Urgrund der ganzen Natur (5,32), Vernunft und allumfassende Substanz (11,50). Es gibt nichts Größeres und nichts Besseres als das Li (11,53). Diese große und universale Ursache ist rein, in sich ruhend, fein, körper- und gestaltlos und kann nur durch den Verstand erfaßt werden (5,32). Vom Li gehen die fünf Tugenden aus: die Ehrfurcht, die Gerechtigkeit, die Frömmigkeit, die Weisheit und der Glaube (11,49).“
Wenn dem so ist, fragt Leibniz, „warum sollte man nach alledem nicht sagen, daß das Li unser Gott ist, nämlich der letzte oder, wenn man so will, der erste Grund des Daseins, ja sogar die Möglichkeit der Dinge; die Quelle alles Guten, das in den Dingen ist; die Urvernunft, die Anaxagoras und die anderen Griechen und Römer nus bzw. mens genannt haben? Sollte man nicht sagen dürfen, daß das Li der Chinesen jene absolute Substanz ist, die wir unter dem Namen Gott anbeten?“ (9)
Das zweite Prinzip Ki entspricht nach Leibniz dem Begriff der Materie. „Und darum kann man wohl, ohne gegen die alte Lehre der Chinesen zu verstoßen, sagen, daß das Li durch die Vollkommenheit seiner Natur dahin gebracht wurde, unter mehreren Möglichkeiten die angemessenste zu wählen, und daß es auf diese Weise das Ki, das heißt die Materie hervorgebracht hat und zwar mit solchen Anlagen, daß alles übrige von selbst daraus hervorging… (18)
Und wenn doch das Ki nur Werkzeug ist, muß man dann nicht sagen, daß die Kraft oder die erste Wirkursache im Li ist? Mit der Aussage, daß die Urmaterie durch das Urprinzip, also durch die ursprüngliche Form, den actus purus, das Wirken Gottes hervorgebracht wird, kommt die chinesische Philosophie der christlichen Theologie noch näher als die Philosophie der alten Griechen, die die Materie als ein Gott gegenüberstehendes Prinzip betrachteten, das er nicht hervorbringt, sondern dem er nur Form gibt.“ Zwar hätten die Chinesen geglaubt, daß das Li von Anfang an und noch immer sein Ki hervorbringt, und daß also das eine so ewig wie das andere ist, aber dieser Irrtum sei nicht weiter erstaunlich, „da sie ja Offenbarung, die allein uns den Ursprung des Universums lehren kann, nicht gekannt haben. Schließlich haben der Heilige Thomas und andere große Gelehrte gezeigt, daß dieses Wissen sich nicht durch die alleinige Kraft der Vernunft aufzeigen läßt, … und es gibt Leute, die glauben, die Chinesen könnten, da der Anfang ihres Reiches in die Zeit der Patriarchen fällt, von ihnen etwas über die Weltschöpfung erfahren haben.“ (24a)
Li bedeutet daher nicht, betonte Leibniz, „Weltseele“ im pantheistischen Sinne eines Spinoza oder Averroes, es bedeute nicht „alles ist eins“, sondern gemäß der von Leibniz in der Monadologie dargelegten Methode ging aus dem Li Ki die materielle Schöpfung, hervor, in der Gott eminenter und die Dinge emanenter in Gott sind. Konfuzius spreche von dem Li als der festgesetzten Ordnung des Himmels, als Ursprung. So heiße es bei ihm: „Sich gegen den Himmel versündigen, heißt gegen die Vernunft handeln, den Himmel um Verzeihung bitten sich bessern. Was wir Vernunft nennen, nennen sie Gesetz des Himmels… Ich finde das alles ausgezeichnet und in vollkommener Übereinstimmung mit der natürlichen Theologie, … liegt doch in diesen Lehren, insofern sie uns ins Herz geschrieben, das ganze reine Christentum… Abgesehen nur von der Offenbarung und der Gnade.“
Leibniz betrachtete den von ihm herausgearbeiteten ökumenischen Denkansatz zwischen der konfuzianischen und christlichen Weltanschauung vom Standpunkt der bona opera, d. h. als methodische Grundlage und Voraussetzung für die Weitergabe von Entdeckung und die Erzeugung von Entdeckungen. Er mache keinen Unterschied, weder im Hinblick auf die Nation noch die Partei, hatte er in einer Denkschrift geschrieben, denn „das Land, wo die Wissenschaft am besten florieren wird, wird mir das liebste sein, da die gesamte Menschheit immer davon profitieren wird“.