Anläßlich des Goethe-Jahres veröffentlichen wir in dieser Ibykus-Ausgabe mehrere Beiträge, die sich mit der Weimarer Klassik, u. a. aus unterschiedlichen Blickwinkeln mit der Frage des Verhältnisses zwischen Schiller und Goethe, auseinandersetzen. In Zeiten großer epochaler Verwerfungen wie der jetzigen ist es notwendig, zu den Werten und zur Denkweise der Klassik zurückzukehren – d. h. zur schöpferischen Methode von Platon, Kues, Leibniz, Schiller usw.
Die Weimarer Klassik legte die Grundlage für den Aufstieg Deutschlands als Kultur- und Industrienation. Ihre Grundlage wiederum bildete das Werk von Moses Mendelssohn und Gotthold Ephraim Lessing, die gegen die immer dominanter werdende empiristische Schule das geistige Erbe Gottfried Wilhelm Leibniz‘ nach dessen Tode wiederbelebten. Ohne Mendelssohns berühmtes grundlegendes Werk Phaidon (in direkter Anlehnung an Platons Dialog Phaidon), ohne J. S. Bachs beeindruckende Musikkompositionen und ohne Lessings Nathan der Weise hätte es in Deutschland keine Weimarer Klassik gegeben.
Den „Grundstein“ für die Weimarer Klassik legte Gottfried Wilhelm Leibniz schon im 17. Jahrhundert. Mit seinen großartigen Beiträgen und Erfindungen – Leibniz entwickelte als erster die Theorie der physischen Ökonomie –, u. a. mit seinen Arbeiten über die Dynamik und den Kalkulus, schuf dieser bedeutende Philosoph, Wissenschaftler und Staatsmann die Grundlagen für den Wiederaufbau Europas nach dem verheerenden 30jährigen Krieg.
- Als Philosoph und Naturwissenschaftler leitete Leibniz eine Renaissance in den Naturwissenschaften ein. Bedeutend sind seine epistemologischen Angriffe auf die empiristische Schule von Locke, Hobbes, Hume und Descartes. Seine Monadologie ist bis heute eines der wegweisenden Werke der modernen Naturwissenschaften.
- Als Politiker und Diplomat rückte Leibniz die Idee der Zusammenarbeit der Nationen in Europa ins Zentrum aller seiner Anstrengungen. In diversen Denkschriften forderte er, daß die Nationen als Technologie- und Erfindungszentren Akademien einrichten sollten, wo die fortgeschrittensten Konzepte in der Wissenschaft und Technik diskutiert und in der Praxis angewandt werden sollten.
Leibniz‘ Denken ist dem heute verbreiteten Zeitgeist eines Adam Smith, Thomas Hobbes, Mandeville und Nietzsche diametral entgegengesetzt. Ihrer Behauptung, der Mensch sei von Egoismus und Habsucht bestimmt, es gelte nur das Trasymachische Gesetz – das „Recht des Stärkeren“, also Wille und Macht entschieden in der Gesellschaft, was gerecht und ungerecht sei –, stellte Leibniz sein berühmtes Konzept von der „Besten aller Welten“ entgegen. In seinem Spätwerk Vernunftprinzipien der Natur und Gnade schreibt er: „Gäbe es nicht die Beste aller möglichen Welten, dann hätte Gott überhaupt keine erschaffen.“ Und weiter heißt es: „Aus dieser höchsten Vollkommenheit Gottes folgt, daß er bei der Hervorbringung des Universums den bestmöglichen Plan gewählt hat, in dem sich die größte Mannigfaltigkeit mit der größten Ordnung vereinigt: wo das Land, Ort und Zeit in der besten Weise verwendet und die größte Wirkung auf die einfachste Weise erzielt wird; wo den Geschöpfen die größte Macht, das größte Wissen, das größte Glück und die größte Güte gegeben wurde, die das Universum überhaupt zulassen konnte.“
Was Leibniz unter der „Besten aller Welten“ verstand, wird am Beispiel einer seiner ersten Denkschriften Securitas externa et interna deutlich. Es handelt sich hier um einen ungeheuer kühnen Gedankenentwurf, ein „Grand Design“ zur Entwicklung Europas nach dem 30jährigen Krieg, den der damals gerade 23 Jahre alte Leibniz in seiner Eigenschaft als juristischer Berater des Baron von Boineburg, Kanzler des Mainzer Kurfürsten Karl Friedrich von Schönborn, entwarf.
Grundlage der darin von Leibniz vorgeschlagenen Staatenordnung, der „Entente souveräner Republiken“, ist die göttliche Schöpfungsordnung. Justitia est caritas sapientis lautet Leibniz‘ naturrechtlicher Grundsatz. Gemäß dieser Auffassung muß die Gerechtigkeit in einem Staat auf metaphysischen Grundlagen aufbauen, was in direktem Gegensatz zur radikal-positivistischen Auffassung von Thomas Hobbes steht. In seinem Leviathan hatte dieser die These aufgestellt, der Mensch sei von Natur aus ein Egoist, der einer despotischen Macht bedürfe, die ihn willkürlich regiere und an die er seine Souveränität abtrete, um den Zustand des „Krieges aller gegen alle“ zu beenden. Auctoritas fiat Legem, lautete Hobbes‘ Grundsatz.
Dagegen wandte sich Leibniz in seiner kleinen rechtsphilosophischen Schrift Über das allgemeine Konzept der Gerechtigkeit. Er erklärt, Hobbes vertrete offensichtlich die schon von Platon bekämpfte Auffassung des Trasymachos, Recht sei das Recht des Stärkeren:
„Gerecht ist was den Mächtigsten zusagt oder gefällt (…) ein berühmter englischer Philosoph namens Hobbes, der sich durch seine paradoxen Sätze bekannt gemacht hat, hat fast dasselbe behaupten wollen wie Trasymachos. Denn nach ihm soll Gott das Recht haben, alles zu tun, weil er allmächtig ist (…) Wäre diese These wahr, so wären alle Gerichte, alle Mächtigen der Welt aufgrund ihrer Macht im Recht. Aber die Welt entstand nicht allein aus der Allmacht Gottes.“ Gott habe die Welt nicht aus Willen, aus Allmacht, als nur „Wollender“ geschaffen, so Leibniz, sondern er schuf die Beste aller Welten, weil er gut war. Daher lasse sich die Macht nicht von der Weisheit und der Liebe zum Guten trennen, sondern der Staat leite seine naturrechtliche Ordnung aus Weisheit, Güte und Liebe ab.
Leibniz‘ Idee der Besten aller Welten ist kein abstraktes Konzept, sondern richtet sich direkt auch auf die Rolle des souveränen Individuums im Staat und die Frage, inwieweit der einzelne im Staat durch gute Werke, bona opera zur Gerechtigkeit und zum Gemeinwohl beitragen kann.
Unter der Beförderung des „Gemeinwohls“, dem bonum commune verstand Leibniz die stetige Verbesserung der Lebensbedingungen der Bevölkerung. Dazu gehörte, wie er in diversen wirtschaftstheoretischen Schriften und Akademieentwürfen dargelegt hatte, die Verbesserung von „Arbeitsmaterialien“; das „Handwerk“ müßte mit „Maschinen, Stahl und Eisenwerk“ und allgemein neuen Instrumenten verbessert werden, wozu „alles in der Chemie und Mechanik auszuprobieren sei“. Es seien „Manufakturen zu stiften“, die Rohwaren kostengünstig veredelten“. Die „Auswanderung verelendeter Bevölkerung“ müsse aufhören; arme Leute solle man „in Arbeit stellen“, so daß sie „Weib und Kind ernähren können“. Brachliegendes Land müsse mit „Familien bevölkert und genutzt werden“. Die allgemeine Schulbildung für die breite Bevölkerung müsse eingerichtet werden und schließlich sollte die Wirtschaft alles darauf verwenden, das Kraftpotential der Wirtschaft durch technischen Fortschritt zu erhöhen und zu verbessern.
Vom Standpunkt der Leibnizschen Konzeption des Universums und des Menschen entspricht die Idee der „Besten aller Welten“ einem Universum, dem eine „prästabilierte Harmonie“ zugrundeliegt. In der Monadologie legt Leibniz dar, das Universum sei von einer wunderbaren Ordnung und einem Kontinuitätsprinzip durchzogen, dessen allgemeines Charakteristikum stetige Veränderung und Selbstentwicklung des Universums sei. Im Universum ist alles von „tätiger Wirkung“: „Wirken ist das Charakteristikum der Substanz“, schreibt er in Über den ersten Ursprung der Dinge und legt damit den Boden für das Gesetz der Kontinuität aller Veränderungen, „kraft dessen man die Ruhe als unendliche Bewegung d. h. als äquivalent einer Unterart ihres Gegenteils ansehen kann, und das Zusammenfallen zweier Punkte als eine unendliche kleine Entfernung zwischen ihnen, die Gleichheit als Grenzfall der Ungleichheit“. (Aus einem Brief an Varignon)
Allem Wirken der Natur liege eine vis viva zugrunde. In Specimen Dynamicum schreibt Leibniz: „In materiellen Dingen ist etwas enthalten, was zur bloßen Ausdehnung hinzukommt, ja ihr vorangeht, nämlich eine natürliche Kraft, die vom Schöpfer den Dingen eingepflanzt worden ist.“ Denn Wirken ist das Charakteristikum der Substanzen.“
Die Seele des Menschen als ideenbildende Substanz (substantia ideans) – als Quelle der Mannigfaltigkeiten von Ideen, die aus ihrer eigenen Natur in ihr selbst entspringen und die verschiedenen materiellen Zustände der Ordnung nach repräsentieren – ist für Leibniz das aktive Prinzip, die aktive Kraft, der Urgrund wirklichen Fortschritts unserer menschlichen Gattung und Zivilisation. (Brief an de Volder)
Leibniz sieht die Gegenargumente voraus. Pessimisten würden einwenden, diese Welt sei keineswegs die Beste aller Welten, eher das Gegenteil. In der Welt gebe es das Böse, und den Besten ergehe es oft am schlechtesten; unschuldige Menschen würden umgebracht, die Welt erscheine mehr wie ein Chaos. Aber, sagt Leibniz, wir erkennen nur einen Bruchteil der Ewigkeit und des „göttlichen Ratschlusses“. Wie klein nehme sich ein Stück Erinnerung an mehrere Jahrtausende Geschichte beim Menschen. Und dennoch „urteilen wir ohne Überlegung aus einer so geringen Erfahrung über das Unermeßliche und Ewige“, so wie die Menschen in Platons „Höhlengleichnis“. Oder es sei wie mit einem schönen Gemälde, von dem man nur einen Teil sieht, und wo planlos erscheint, was mit Kunstfertigkeit komponiert wurde. Ebenso ist es mit der Musik, wo der Komponist bewußt Dissonanzen setzt, um sie zu höherer Ordnung zu führen. Und so sei es auch mit dem Bösen und den Schicksalsschlägen, die oft gute Menschen ereilten, die jedoch in größeres Gut übergehen. So sei es in der Schöpfungsordnung angelegt, und „das ist nicht theologisch, sondern auch physisch wahr“.
Es kommt also auf den einzelnen Menschen an, ob die Dinge in der Welt einer höheren Ordnung zugeführt werden. Jeder Mensch trägt in sich die Fähigkeit, kraft der ihm eigenen schöpferischen Vernunft seinen Beitrag an die Beste aller Welten zu leisten, indem er in sich das Gute erkennt und zum bonum commune beiträgt. In Über den Ursprung der ersten Dinge schreibt Leibniz dazu:
„Es muß im Ganzen auch ein gewisser stetiger und durchaus freier Fortschritt des ganzen Universums zur Schönheit und Vollkommenheit aller göttlicher Werke anerkannt werden, so daß die Kultur immer höher wird, wie ja unsere Zeit einen großen Teil unserer Erde, Kultur erhalten hat und mehr und mehr erhalten wird. Und wenn es auch wahr ist, daß mitunter manches wieder ins Holz wächst oder wieder zerstört und unterdrückt wird, so muß man dies doch so auffassen, wie wir wenig vorher die Schicksalsschläge gedeutet haben, daß nämlich diese Zerstörung und Unterdrückung zur Erreichung eines Höheren führt, so daß wir auf gewisse Weise selbst aus dem Schaden Nutzen ziehen. Wenn man aber einwenden könnte, auf diese Weise müßte die Welt offenbar schon längst ein Paradies geworden sein, so ist darauf die Antwort zu geben: wenn auch viele Substanzen schon zu großer Vollkommenheit gelangt sind, so sind doch wegen der unendlichen Teilbarkeit des Kontinuums, die im Abgrund der Dinge schlafenden Teile zu erwecken und zu etwas Größerem und Besseren, mit einem Worte: zu einer besseren Kultur hinzuzuführen. Folglich wird der Fortschritt niemals zu Ende gelangen.“