Wieder einmal gibt es einen Streit um Troia – den alten Streit um die Frage: Hat Homers Ilias einen historischen Hintergrund oder ist das Epos nur ein Produkt der Phantasie des Dichters?
Anlaß zu diesem mit spitzen Waffen geführten Streit war die erste Etappe einer gelungenen Ausstellung zum Thema Troia – Traum und Wirklichkeit, in welcher der Öffentlichkeit die jüngsten Forschungsergebnisse vorgestellt werden.
Der Grund für den Streit liegt jedoch viel tiefer. Von einigen Kampfpausen abgesehen, wird diese Auseinandersetzung nun schon über zweihundert Jahre in Deutschland geführt, und immer geht es, bei aller Vielfalt der vorgebrachten Argumente, im Kern um den großen Dichter Homer.
Dabei wird keiner bezweifeln, daß Homer mit seiner Dichtung die Voraussetzung für eine Renaissance schuf. Wenn es aber darum geht, Licht in die geschichtlichen Zusammenhänge der Homerischen Welt des Epos und vor allem deren Wirkung auf die Realität zu bringen, dann greift man mit Geschrei zu den Waffen.
Als während der deutschen Klassik das Interesse an Homer wuchs, veröffentlichte der Altertumswissenschaftler Friedrich August Wolf eine Schrift gegen ihn. In seiner 1795 erschienenen Prolegomena zu Homer stellt er die Behauptung auf, daß sowohl die Ilias als auch die Odyssee unmöglich aus einem Geist geboren sein könnten, sondern daß es sich hier nur um eine Aneinanderreihung verschiedenster poetischer Einfälle handeln könne. Die mit dieser Schrift in der Fachwelt verbreitete Skepsis führte schließlich sogar dazu, die Existenz Homers ganz in Frage zu stellen und die in den Epen beschriebenen Ereignisse als Erfindungen zu bezeichnen.
Als Heinrich Schliemann, von dem Kreis der Altertumswissenschaftler gänzlich unberührt, im Jahre 1871 buchstäblich mit dem Homer in der Hand die Landschaft der Troas durchstreifte und später die Ruinen ausgrub, war die alte Begeisterung für Troia sofort wieder erweckt – und, wie zu erwarten, auch das Geschrei. Von den zu Hause weilenden deutschen Gelehrten schlug ihm die heftigste Opposition entgegen, die schließlich in der Kampagne des Hauptmanns a.D. Bötticher gipfelte. In Büchern, Aufsätzen und Flugschriften warf dieser Schliemann die Verfälschung seiner Grabungsergebnisse und völlig übertriebene Interpretationen vor, denn in Wirklichkeit handele es sich bei dem Ausgegrabenen nicht um eine Homerische Stadt, sondern lediglich um eine „Feuer-Nekropole“.
Selbst nach der Anerkennung von Schliemanns Arbeit und der späteren Entdeckung der eindrucksvollen Mauern des spätbronzezeitlichen Troia VI und VII, welches Homer beschreibt, konnte die brennende Frage nach der tatsächlichen Identität Troias nicht vollkommen beantwortet werden. Obwohl mit Sicherheit davon auszugehen ist, daß man sich in Troia zu dieser Zeit sehr wohl der Schrift bediente, konnten die umfangreichen Grabungen keinen schriftlichen oder sonstigen Beweis zu Tage befördern, der eindeutig belegt hätte, daß das heutige Hisarlik wirklich Troia ist. Diese quälende Ungewißheit beflügelte erwartungsgemäß die Skeptiker, sodaß eine viel beachtete Studie von Rolf Hachmann aus dem Jahr 1964 der Archäologie endgültig jeden Anspruch auf einen Beitrag zur geschichtlichen Klärung der Troia-Frage abzuerkennen schien. Darin hieß es:
„Wenn sich aus dem Epos selbst oder aus anderen Quellen keine Anhaltspunkte ergeben, daß Troia mit einer der Siedlungen im Hügel Hisarlik identisch sein muß, dann sind überhaupt keine Beweismöglichkeiten gegeben, denn die Archäologie besitzt dafür erst recht keine Indizien. Mehr noch: Wenn sich aus dem Epos selbst oder auf Grund anderer Nachweise die Historizität der Stadt Troia und des Troianischen Krieges nicht bestätigen läßt, dann ist die Frage nach der Geschichtlichkeit der Stadt und des Krieges falsch, denn aus dem archäologischen Befund heraus ist ein solcher Beweis erst recht nicht möglich“.
Da die Archäologie weder eine Ummauerung aus Holz noch einen Befestigungsgraben und schon gar keine große Stadt vorweisen könne, stehe fest, daß Homers Bilder ganz irreal seien. Diese Lehrmeinung galt, zumindest in Deutschland, bis in die jüngste Vergangenheit, und so unterscheiden sich die Argumente der rebellierenden Professoren Kolb und Hertel im gegenwärtigen Streit nicht wesentlich von denen des Hauptmanns a.D. Bötticher.
Im wesentlichen zielen alle Argumente darauf ab, Troia die Bedeutung zu nehmen, die ihr der Dichter in der Ilias ohne jede Frage gibt, nämlich:
„Eine von der Akropolis überragte, wohlummauerte große Stadt mit prangenden Häusern und breiten Straßen.“
Und wenn das Bild von Troia schon ganz irreal ist, dann dürfe man allem anderen in der Ilias erst recht keine Glaubwürdigkeit schenken.
Während sich der größte Teil der Gelehrtenwelt im Dornröschenschlaf der Hachmannschen Lehrmeinung sicher wähnte, kamen in den letzten 15 Jahren aber Forschungsergebnisse ans Tageslicht, die nicht nur die grundsätzliche Einschätzung Schliemanns bestätigen, sondern in faszinierender Weise den Weg zur Aufklärung der historischen Begebenheiten weisen. Was in verschiedenen Fachbereichen in gegenseitiger Anregung entstand, wird jetzt in der zu Anfang erwähnten Ausstellung Troia – Traum und Wirklichkeit einem begeisterten Publikum vorgestellt. Da wir außerdem die großartige Gelegenheit hatten, uns die Ausgrabungen in Troia und die Landschaft der Troas anzusehen, wollen wir Ihnen darüber berichten.
Neben vielen anderen Fachbereichen sind die folgenden drei wesentlich:
- Die Archäologie; insbesondere die von Prof. Korfmann seit 1988 geleitete Grabungskampagne in Troia.
- Die Hethiterforschung.
- Die Homerforschung.
Troia ist natürlich kein gewöhnlicher Grabungsplatz, denn jeder, der mit großen Erwartungen hierher kommt, hat viele Bilder aus der Mythologie und der Homerischen Dichtung im Kopf. Steht man endlich vor den Ruinen, stellt man zunächst einmal ernüchternd fest, daß man einen gar nicht besonders großen, dafür aber sehr komplizierten Hügel vor sich hat: mehr als zehn übereinander gebaute Schichten, sieben verschiedene Troias von 3000 vor Christus bis 1000 vor Christus und dann noch die hellenische und die römische Besiedlung. Ganz langsam fängt man an, sich zwischen den verschiedenen Mauerresten zurechtzufinden: Troia I, Troia II, III und IV und dann das von Homer besungene Troia VI und VII. Beim zweiten Rundgang lokalisiert man schon wesentlich klarer die Nord-Ost-Bastion und das Südtor von Troia VI, welches vielleicht das bei Homer besungene Skäische Tor ist. Die letzte Begegnung zwischen Hektor und Andromache fällt einem ein, und plötzlich wird man auch den ständig blasenden Wind gewahr. Erobert man dazu noch die Landschaft der Troas, blickt über die Dardanellen und von der Steilküste hinab auf die Bucht des alten Hafens und zum Grabhügel aus hellenistischer Zeit – dann ist man erst wirklich in Troia.
Die alte Dame Troia zum Sprechen gebracht
Als Korfmann 1988 in Troia zu graben anfing, ging es nicht um die Klärung des alten Homer-Streits. Er hatte bereits mehrere Jahre am Bosporus gegraben, dann sieben Jahre lang ein Projekt ganz in der Nähe von Troia geleitet, welches u. a. einen Friedhof am alten Hafen von Troia (Besiktepe) zum Vorschein brachte, und nahm dann als Experte für das bronzezeitliche Anatolien die neuen Grabungen in Angriff. Als sein Team nach Troia kam, ging es vorrangig um die Lösung einer archäologischen Problematik, die ausgerechnet im Gefolge der alten Grabungen in Troia entstanden war – und zwar die Neubestimmung eines aus den Fugen geratenen Datierungssystems (siehe Box zur Chronologie). Darüber hinaus ging es um die bereits von Schliemann und Dörpfeld aufgeworfene, aber nie beantwortete Frage, ob es vielleicht zu dem festummauerten Burgberg von Troia VI noch eine Untersiedlung gab. Von der Aufgabenstellung hätte man also gar nicht erwartet, daß große Entdeckungen in der Luft lagen, und die wichtige Frage der Chronologie, der man in mühevoller jahrelanger Arbeit nachging, ist für ein breites Publikum von nicht sehr großem Interesse.
Anders jedoch die Unterstadt-Frage. Die neue Methode der Geoprospektion hat entscheidend dazu beigetragen, gerade auf weiträumigem Feld wie hier in der zum Teil landwirtschaftlich genutzten Umgebung des Burgbergs relativ schnell herauszufinden, wo es sich überhaupt zu graben lohnt. Quadratmeter für Quadratmeter wird mit einem Magnetometer überquert, der dabei die durch menschliche Bautätigkeit entstandenen Abweichungen vom natürlichen Boden bis zu ca. 3 Meter Tiefe registriert. Dabei entsteht eine dem Röntgenbild vergleichbare Aufzeichnung, die dem Fachmann erste wichtige Anhaltspunkte liefert. Es sprang sofort ins Auge, daß es sich bei der hellenistisch-römischen Besiedlung um eine unerwartet großflächige und planmäßige Bebauung handelte, aber es war noch viel erstaunlicher, daß, wo immer man Sondagen machte, man auch auf darunter liegende Schichten von Troia VI stieß. Schließlich brachte die Kampagne von 1992 Bilder zustande, die auf den Verlauf einer Unterstadtmauer 400 Meter südlich der Burgmauer zu deuten schienen. Bei der darauf folgenden Grabung kam aber etwas ganz anderes ans Tageslicht: keine Mauer, sondern ein bis zu 4 Meter breiter Graben. Dieser Graben konnte in mehreren Schnitten und durch weitere geomagnetische Messung in bisher gut 600 m Länge verfolgt werden, sodaß man zu einer vollkommen neuen Einschätzung kommen mußte.
Man konnte jetzt davon ausgehen, daß zu den 23000 Quadratmetern für die Burg noch weitere 250.000 Quadratmeter für die Unterstadt dazu kommen, was etwa einer Einwohnerzahl von 6000 bis 7000 Menschen entspricht und Troia in die Reihe anatolischer Residenz-und Handelsstädte setzt.
Noch 1984 hatte Frank Kolb im Standardwerk Die Stadt im Altertum über Troia Folgendes geschrieben:
„Troia VI und VIIa, welche chronologisch für eine Gleichsetzung mit dem homerischen Troia in Frage kommen könnten, waren armselige kleine Siedlungen und können erst recht keinen Anspruch auf eine Benennung als Stadt erheben.“
Solche Vorstellungen und ähnliche vom Räuber- und Piratennest mußte man nun über Bord werfen.
Dieser von seiner Ausdehnung beachtliche Graben war direkt in den Felsen gehauen, etwa 4 Meter breit, zur Ebene 1 Meter und zur Stadt 2,2 Meter tief, so daß man ohne Zweifel einen wesentlichen Teil einer Befestigungsanlage vor sich hatte. Dieser Graben hatte vor allem die Aufgabe, heranfahrende Streitwagen abzuwehren. Im zwölften Gesang der Ilias heißt es dazu:
„So im Gewühl ging Hektor umhergewandt und ermahnte über den Graben zu springen die Seinigen. Aber nicht wagtens ihm die Rosse, geflügeltes Laufs; sie wieherten lautauf. Stehend am äußersten Bord; denn zurück sie schreckte des Grabens Breite, zum Sprung hinüber nicht schmal genug, noch zum Durchgang Leichtgebahnt; denn ein jäh abhängiges Ufer erhub sich Rings an jeglicher Seit‘, auch war mit spitzigen Pfählen Obenher er bepflanzt, die Achaias Söhne gestellet, Dichtgereiht und mächtig, zur Abwehr feindlicher Männer. Schwerlich vermocht ein Ross, an den rollenden Wagen gespannet, Überzugehen; Fussvölker nur eiferten, ob sie vermöchten. Aber Polydamas sprach, dem trotzigen Hektor sich nahend: Hektor und ihr, der Troer Gewaltige und der Genossen, Torheit ists, durch den Graben die hurtigen Rosse zu treiben.“
Man fand, daß der Graben an einigen wenigen Stellen nicht ausgehauen wurde, sondern daß man den Felsen dort in etwa 10 Meter Breite stehen ließ. Dort, so dachte man, müßten sich die Stadttore befunden haben, denn hier konnten Wagen bequem den Graben passieren und durch das Tor die Stadt erreichen. Tatsächlich konnte man wenig später an einer dieser Stellen parallel zum Graben und zur Stadtseite hin einen ganz schmalen Graben ausheben, der wiederum in der Mitte unterbrochen war. Dieses kleine Grabenfundament diente der Errichtung einer Palisadenwand, in deren Mitte sich das Stadttor befand, und tatsächlich fand man dort auch die großen Pfostenlöcher für die Türen. Graben und Toranlage waren nun gefunden, aber zu einer solchen Verteidigungsanlage gehörte auf jeden Fall noch eine Stadtmauer. Daß man sie findet, war nicht ohne weiteres zu erwarten, denn im 1. Jahrtausend wurde noch zweimal eine Unterstadt gebaut, und man kann sich leicht vorstellen, daß die Steine der alten Stadtmauer dabei vollständig abgetragen wurden. Außerdem ist der Boden über dem Felsen oft nicht mächtiger als 50 Zentimeter bis 1 Meter, so daß von vornherein übereinander gebaute Schichten ausgeschlossen waren. Erwartungsgemäß fand sich ein Stück der alten Troia VI-Stadtmauer ganz woanders, nämlich direkt an der Burg. Dort war sie geradezu in die Mauer der Nord-Ost-Bastion eingepaßt, was darauf hindeutet, daß diese Unterstadt-Mauer nicht irgendwie nachträglich angebaut wurde, sondern von Anfang an da war. Wenn man noch hinzu nimmt, daß mittlerweile auch beachtliche Steinfundamente größerer, aneinander gebauter Häuser in der Unterstadt freigelegt wurden, dann ergibt sich insgesamt ein ganz anderes Bild, als daß es sich hier um eine armselige Siedlung gehandelt hätte. Außerdem fand man an anderer Stelle ein in den Felsen geschlagenes Fundament (ähnlich dem der Palisadenwand im Grabenbereich), was anzeigt, daß bereits die maritime Troia-Siedlung (ca. 2400 vor Christus) eine holzummauerte Unterstadt hatte.
In der Unterstadt findet sich alles, was man von einer prosperierenden Stadt dieser Zeit erwarten kann. Breite Straßen, Brunnenplätze, Öfen und Pithoi, wie man die großen tönernen Vorratsgefäße nennt. Daneben fand man Plätze, die auf eine rege Handwerkstätigkeit schließen lassen, zum Beispiel Metallschmieden, Töpferwerkstätten und Wollverarbeitung. Interessant ist auch der Fund von mehr als 10 Kilogramm Schalen der Purpurschnecke an einem einzigen Platz, was auf die Existenz einer Purpurfärberei hindeutet. Die sämtlichst auf der Töpferscheibe gefertigte Keramik bekam durch neu entwickelte Brenntechniken und modische Ornamentik, zum Beispiel imitierte mykenische Muster, ein höchst vielfältiges Aussehen. Daneben wird die Pferdehaltung, -zucht und -dressur sowie der Bau der Streitwagen eine größere Rolle gespielt haben. Schatzfunde wie in Troia II gab es bis jetzt nicht, aber die wenigen ausgegrabenen Kostbarkeiten, wie einzelne Schmuckstücke aus Gold, Silber und Bronze, Perlen aus Karneol und Bergkristall oder ein aus Elfenbein geschnitzter Kamm, deuten auf eine hochentwickelte Handwerkskunst hin. Die Archäozoologen fanden heraus, daß es neben der Menge an Pferden auch große Schafherden gegeben hat, daneben Rinder, Ziegen und Schweine.
Ein ganz besonderer Fund ist das unterirdische Wasserbergwerk, welches man im Westen der Stadt, außerhalb der Unterstadtmauer in den Grabungskampagnen von 1997 und 1998 entdeckte. Zwar wußte man schon früher von der Quellhöhle und den davor befindlichen Wasserbecken, aber nun hat man sich systematisch in die Tiefe dieser Höhle hineingegraben und dabei Erstaunliches gefunden: Von einem 13 Meter langen Hauptarm zweigen drei weitere ab, der längste von ihnen immerhin 100 Meter lang. Vier Schächte, die offensichtlich als Brunnen benutzt wurden, führen an die Erdoberfläche. Ursprünglich entstand hier ein kleiner unterirdischer Stausee, der mit einer Überlaufrinne versehen war, über die das Wasser in die äußeren Staubecken gelangte. Noch heute fließen 500 bis 1400 Liter pro Tag nach. Aus welcher Zeit nun stammt dieses unterirdische Wasserreservoir? Die Vermutung, daß eine solch erstaunliche Anlage in späterer hellenistischer oder römischer Zeit entstand, hat sich als nicht richtig erwiesen. Die in der Heidelberger Forschungsstelle Radiometrie der Akademie der Wissenschaften untersuchten Sinterproben ergaben eine Datierung, welche die Entstehung bereits in das frühe 3. Jahrtausend v.Chr legt. In dem Abschnitt über die Hethiterforschung werden wir sehen, welche Bedeutung dieses unterirdische Wasserwerk außerdem noch hat.
Eine Residenz- und Handelsstadt
Alles zusammengenommen entsteht hier das Bild einer wohlhabenden, ständig wachsenden Stadt, die sich nach Aussehen und Gebräuchen in das Muster anatolischer Städte einreiht. Schon allein die außergewöhnliche geographische Lage legt das Entstehen einer beachtlichen Handelsstadt nahe, denn selbst in römischer Zeit war der Transport zu Wasser noch 60 mal billiger als zu Land. Auch die besonderen Strömungs- und Windverhältnisse am Eingang zu den Dardanellen werden dazu beigetragen haben. Zu dem gerade von Mai bis Oktober relativ stark wehenden Nord-Ost-Wind kommen die besonderen Strömungsverhältnisse in den Dardanellen hinzu. Da das Schwarze Meer über einen großen Zufluß von Süßwasser aus den einmündenden Flüssen verfügt, entsteht ein Süßwasserstrom vom Marmarameer in Richtung Ägäis, der von der Oberfläche aus etwa 17 Meter ausmacht. Darunter fließt das stark salzhaltige Wasser in Richtung Schwarzes Meer. Für die Segelschiffe der damaligen Zeit, die noch über keinen Kiel verfügten und deshalb nicht ohne weiteres gegen den Wind segeln konnten, wurde die Einfahrt und das Passieren der Dardanellen zu einer schwierigen Aufgabe. Zu dem Wind kam die Strömung, und so war man oft wochenlang gezwungen, in dem an der Ägäisküste gelegenen „Hafen“ von Troia auszuharren, bis man schließlich unter günstigeren Bedingungen die Reise wagen konnte. Wer will bezweifeln, daß Troia aus seiner ungewöhnlich günstigen Lage einen Nutzen zu ziehen verstand?
Sowohl die verschiedenen Schatzfunde aus der Periode Troia II als auch der frühe Gebrauch der Töpferscheibe und die frühe Bronzeherstellung weisen auf weitreichende Handelsbeziehungen hin, die schon zur Zeit der maritimen Troia-Kultur gepflegt wurden. Die Töpferscheibe wurde bekanntlich im Zweistromland erfunden, und für die Bronzeherstellung braucht man Zinn, das man aus Zentralasien oder aus Böhmen importieren mußte. Bernstein kam von der Ostsee, das seltene Eisen aus dem östlichen und südlichen Schwarzmeerraum, Textilien und Karneol aus dem Kaukasus und Lapislazuli sogar aus Afghanistan. Da der Schwarzmeerhandel um 1700 vor Christus zunehmend auf den Seeweg verlegt wurde, konnte sich die Stadt Troia schnell entwickeln und schließlich eine Hochkultur ausbilden, die über 450 Jahre bestehen sollte.
Ein Schriftzeichen taucht auf
1995 tauchte in Troia endlich die erste Schrift auf: ein rundes, bikonvexes Siegel aus Bronze, beidseitig mit bronzezeitlichen Schriftzeichen versehen. Es ist im Durchmesser nur 2,5 Zentimeter breit und 1 Zentimeter dick und in der Mitte durchbohrt, ein sogenanntes anatolisches Drehsiegel, das auf praktische Art beidseitig benutzt werden kann. Die Aufschrift der einen Seite besagt, daß sein Eigentümer die hohe Funktion eines Schreibers inne hatte, und die andere Seite wurde von seiner Frau benutzt.
Die Schriftzeichen sind entgegen mancher Erwartung eindeutig nicht Linear B, sondern hethitisch, eine Schrift, die erst in jüngerer Zeit entziffert wurde. Während man die hethitische Keilschrift seit 1917 lesen kann, wurde das Hieroglyphen-Hethitische (oder Luwische) erst später entziffert. Wir werden gleich sehen, daß dieser Fund keine erstaunliche Ausnahmeerscheinung darstellt, sondern für die längst erwartete Einbindung Troias in das Hethiterreich spricht.
Die Hethiter
Im Jahre 1905 begann der im Auftrage der deutschen Orientgesellschaft nach Bogazköy geschickte Archäologe Hugo Winkler dort mit Ausgrabungen. Sehr bald stieß er auf ein umfangreiches Tontafel-Archiv, das ihm nicht nur verriet, daß er sich in der ehemaligen Hauptstadt des Hethiterreiches, nämlich Hattusa befand, sondern welches ihm auch gleich ein in Akkadisch verfaßtes Schreiben des ägyptischen Pharaos Ramses II an den Hethiterkönig Hattusili III an die Hand gab. Dieses Schreiben berichtet von dem gleichen im Jahre 1269 vor Christus geschlossenen Friedensvertrag zwischen Ägypten und dem Reich der Hethiter, den man schon von der Hieroglypheninschrift auf der Tempelwand von Karnak kannte. Im Laufe der Ausgrabungen kamen auch eine Menge Tontafeln zum Vorschein, die man noch nicht lesen konnte, weil sie in der Sprache der Hethiter verfaßt waren. Man konnte zwar diese indogermanische Schrift in den darauffolgenden Jahren entziffern, da es aber weltweit bis auf den heutigen Tag nur ganz wenige Experten gibt, die sie lesen können, sind die 1912 ausgegrabenen Tafeln immer noch nicht vollständig ausgewertet. Trotzdem wurden von ihnen und aus weiteren Grabungen eine solche Fülle von Staatsverträgen, diplomatischer Korrespondenz und historiographischen Texten gefunden, daß in jüngster Vergangenheit das Reich der Hethiter, von dem man vorher noch so gut wie nichts wußte, vor unseren Augen rekonstruiert werden konnte. Dank dieser und auch einiger ägyptischer Quellen kennen wir nun die politische Geographie Westkleinasiens und wissen inzwischen auch, daß Troia wirklich Troia ist.
Dem Troianischen Krieg auf der Spur
Neben der politischen Geographie geben die hethitischen Quellen aber auch einen ersten Einblick in die politischen und kriegerischen Auseinandersetzungen des 13. Jahrhunderts vor Christus
Zwar wäre es zum gegenwärtigen Zeitpunkt rein spekulativ, den im Mythos überlieferten „Troianischen Krieg“ hier irgendwo ansiedeln zu wollen, aber das jetzt schon vorhandene Quellenmaterial läßt ganz eindeutig darauf hoffen, daß dies zukünftig einmal möglich sein wird. Aus diesem Grund gehen wir etwas ausführlicher auf die Ereignisse des 13. Jahrhunderts vor Christus in Kleinasien ein.
Seit dem 14./13.Jahrhundert vor Christus nennt sich der nordwestlichste Teil Kleinasiens in der hethitischen bzw. luwischen Sprache „Wilusa“, oder besser das Land Wilusa. Davor hieß es Assuwa mit einem Teilgebiet unter dem Namen Taruwisa oder Truwisa. Im Griechischen wird daraus Troia oder Wilios, wobei im späteren Griechisch das „w“ nicht mehr gesprochen wird, und so gelangen wir zu den von Homer gebrauchten Bezeichnungen: Troia und Ilios.
Das Land Wilusa unterhielt feste diplomatische Beziehungen zum Großkönig des Hethiterreiches. Südlich des Landes Wilusa lag Arzawa, das im 14. Jahrhundert vor Christus zu einer solch bedeutenden Macht heranwuchs, daß es aus ägyptischer Sicht seinen Platz in der Reihe der damaligen Großmächte fand: Ägypten, Babylonien, Mittani und Hattusa.
Der südlichste Teil der kleinasiatischen Küste mit der Stadt Millawanda (Miletos) gehörte zum Einflußbereich des Landes Ahhijawa (Achaier), mit Sitz auf dem griechischen Festland, dessen Machtzentrum man nach neuesten Erkenntnissen in Theben lokalisiert.
Als sich der hethitische König Mursili II (1318–1290 vor Christus) durch die Expansionsbestrebungen von Arzawa zunehmend bedroht sah, unternahm er einen großangelegten Feldzug, der erst zur Zerstörung von Millawanda (Miletos), dann zur Einnahme von Abasa (Ephesos) und schließlich zur Aufteilung des Landes Arzawa in Mira, Seha und Hallaba führt. Der König von Ahhijawa flüchtet sich auf die Inseln.
Natürlich lag es in der Absicht der Hethitischen Zentralmacht in Hattusa, durch von ihnen eingesetzte Könige die Macht in den eroberten Gebieten zu sichern. Machtkämpfe innerhalb der alten arzawischen Familien als auch wieder aufblühende Expansionsbestrebungen Ahhijawas sorgten in der Folgezeit für kriegerische Unternehmungen bis in den Norden der kleinasiatischen Küstenregionen. In der Korrespondenz wird der arzawische Prinz Pijamaradu als besonders aggressiv beschrieben – wahrscheinlich auch deshalb, weil er sich der Unterstützung Ahhijawas sicher war. Als er schließlich auch das nördliche Land Wilusa bedrohte, mußten die Hethiter dem dort herrschenden Alaksandu zu Hilfe kommen.
Dieses militärische Eingreifen der Hethiter zugunsten Alaksandus in Wilusa (ca. 1290 bis 1272) führte schließlich zur Eingliederung Wilusas in das Hethiterreich. Auf den ausgegrabenen Tontafeln sind weite Teile des Vertrages nachzulesen, mit dem der König Alaksandu den Vasallenstatus seines Landes gegenüber dem Großkönig Muwattalli II. von Hattusa festlegt. In dem ausführlichen Vertrag wird zwar die unverzügliche Information bei sich anbahnenden Aufständen, die Lieferung von Truppen und Streitwagen im Falle einer Bedrohung und die Auslieferung von Flüchtigen gefordert, aber keine innenpolitische Einmischung oder wirtschaftliche Tributzahlung festgelegt. Am Ende dieses Vertrages werden zu dessen Bekräftigung alle Götter des Landes Wilusa als Zeugen aufgerufen: neben dem Wettergott des Heeres und Appaliuna wird der Gott des unterirdischen Wasserlaufs des Landes Wilusa genannt.
Diese bemerkenswerte Erwähnung eines speziell in Wilusa ansässigen, „den unterirdischen Wasserlauf des Landes Wilusa“ repräsentierenden Gottes wäre für sich genommen schon außergewöhnlich. Daß aber nun gerade in den vergangenen Sommern dieser unterirdische Wasserlauf ausgegraben und seine Existenz bereits für das 3. Jahrtausend vor Christus nachgewiesen wurde, das ist doch höchst interessant.
Neues aus der Homer-Forschung
Gleich im zweiten Gesang der Ilias begegnen wir dem sogenannten Schiffskatalog, der alle 29 Schiffskontingente der an dem Troia-Feldzug beteiligten Einheiten aufzählt. Die Aufzählung erfolgt stets nach dem gleichen Muster:
Zuerst werden die Region bezeichnet und die in ihr vertretenen Ortschaften aufgezählt, welche die Kampfeinheiten entsenden.
Dann folgt der Name der Kommandanten.
Dann wird die Anzahl der Schiffe und deren jeweilige Mannschaftsstärke benannt.
Insgesamt waren 1086 Schiffe mit etwa 100000 Mann beteiligt. Allein aus der Anzahl der Schiffskontingente wird schon deutlich, daß man dadurch so etwas wie eine Landkarte aus damaliger Zeit herleiten kann. Nun fiel dabei schon immer auf, daß fast ein Viertel der im Katalog genannten Orte schon für die Griechen des 8. Jahrhunderts vor Christus, der Zeit Homers, nicht lokalisierbar waren, weil sie keine Besiedlung mehr aufwiesen. Dafür gab es zweierlei Erklärungen: Entweder hatte Homer diese Orte erfunden, oder die Bezeichnung stammte aus einer früheren Zeit. Was darüber hinaus immer schon auffiel, war, daß kein einziger Ort an der kleinasiatischen Küste genannt ist, obwohl dieses Gebiet zu Homers Zeit längst von Griechen besiedelt war.
Neben der bisweilen starken Tendenz, diese Ungereimtheiten einfach der dichterischen Phantasie anzulasten, gab es unter den Experten auch immer schon solche, die dafür plädierten, daß der Schiffskatalog aus der Zeit der Mykenischen Hochkultur stammte.
Eine grundsätzliche, in diese Richtung führende Überlegung war die folgende:
Wer konnte überhaupt ein so großes Unternehmen, das 1086 Schiffe aus 29 Regionen umfaßt, in Angriff nehmen? Wer war in der Lage, die Bevölkerung fast ganz Griechenlands zu einem gemeinsamen kriegerischen Zweck zu vereinigen? Für die Zeit nach dem Zusammenbruch der Palast-Kulturen, die Zeit der sogenannten dunklen Jahrhunderte zwischen 1200 und 800 vor Christus, ist ein so großes Unternehmen nicht denkbar. Selbst danach, für die Zeit Homers, kann man sich zwar einzelne Kolonisationsfahrten vorstellen, aber keinen Invasionszug. Ganz anders dagegen war die Zeit der mykenischen Hochkultur ab dem 15. Jahrhundert vor Christus Damals war Ahhijawa eine selbst über den Mittelmeerraum hinaus anerkannte Großmacht, die sehr wohl in der Lage war, ein solches Großunternehmen durchzuführen. Schließlich hatten sie bereits das einflußreiche Kreta erobert und dessen Flotte im südlichen Mittelmeer ausgeschaltet. Ein Invasionszug dieser Größe war also nur für diese Periode denkbar.
Einen weiteren Hinweis für die Überlieferung aus ferner Vorzeit gibt die Form des Schiffskataloges, der nach Art der Aufzählung ganz der mykenischen Registraturpraxis entspricht. Alle bisher gefundenen Linear-B-Täfelchen weisen diese bürokratische Amtssprache auf, die uns in allen Einzelheiten auch über Ernteerträge, Viehbestände, Personenkataloge in Genealogien, Tötungslisten usw. Aufschluß gibt. Es war deshalb denkbar, daß die Aufmarschliste aller griechischen Schiffskontingente von Anbeginn zur Troia-Geschichte gehörte, unzählige Male in die verschiedensten Gesänge aufgenommen wurde und auf diese Weise auch in die Ilias gelangte.
Vieles sprach also schon dafür, daß der Schiffskatalog samt der Troia-Geschichte aus der mykenischen Epoche stammt, als man im November 1995 einen wunderbaren Fund machen konnte, der diese Hypothese bestätigt. Bei Bauarbeiten im Stadtzentrum des heutigen Theben konnte man den drittgrößten Linear-B-Tafel-Fund Griechenlands bergen: 250 Täfelchen, die aus einem Palast-Archiv der Kadmeia stammen. Unter den vielen aufgeführten Ortsnamen des damaligen Theben fand man nun auch drei, die in dem Schiffskatalog der Ilias in dem Aufgebot der Boioter in einer Reihe genannt werden und die zu den bisher völlig unauffindbaren gehörten: Eleon, Peteon und Hyle.
Auf diesen Tafeln fand sich auch der Ort Eutresis, über den man durch Ausgrabungen bereits Genaueres wußte, daß er nämlich zwischen 1300–1200 existierte, danach völlig zerstört und erst um 600 wiederbesiedelt wurde.
Es ist also damit sehr schön bestätigt, daß diese Namen in der Ilias keineswegs frei erfunden sind, sondern in mykenischer Zeit zum Herrschaftsbereich von Theben gehörten, welches sich immer mehr als das damalige Machtzentrum erweist.
Der Hexameter
Es stellt sich natürlich nun die Frage: Wie konnte die Troia-Geschichte, wenn sie tatsächlich in mykenischer Zeit entstand, durch so viele Jahrhunderte, besonders durch die dunklen Jahrhunderte hindurch, zu Homer gelangen? Lange Zeit hielt man das für undenkbar. Neuere Untersuchungen in den Sprachwissenschaften, auf die wir an dieser Stelle nur andeutungsweise eingehen können, zeigen aber, daß dies durch den Gebrauch des Hexameters als besondere Überlieferungsmethode der Griechen möglich wurde.
Die Ilias besteht aus 15693 Hexametern, und nicht ein einziger Vers bricht aus diesem festgefügten Versmaß aus. Diese Rigorosität geht bei Homer so weit, daß er, um das Versmaß zu erhalten, bisweilen die Sprache verändert. Schon länger hatte man herausgefunden, daß zu der handwerklichen Grundlage eines Sängers der Gebrauch einer ganzen Reihe von „stehenden Beiworten“ (Epitheton) gehörte, die über Generationen weitergegeben wurden. Ausdrücke wie: „rosenfingrige Morgenröte“, „vielduldender göttlicher Odysseus“, „mutiger Renner Achilles“ mußten beim lebendigen Vortrag mit Hilfe erlernter Verknüpfungsregeln so benutzt werden, daß sie die entsprechende Versmaß-Bedingung erfüllten.
Die Sprachforschung der letzten zwanzig Jahre fand nun heraus, daß gerade viele dieser stehenden Beiworte tatsächlich aus dem 16. Jahrhundert stammen. Es fiel nämlich auf, daß Verse, wie sie uns in der homerischen Sprache überliefert sind, falsch klingen und daß sich das auch durch rhythmische Veränderung nicht beheben ließ. Zuerst nahm man an, daß Homer bisweilen ein Fehler unterlaufen sei. Dann aber, nachdem das Studium der Linear-B-Texte genügend fortgeschritten war, übersetzte man den gleichen Wortlaut ins Griechische des 16. Jahrhunderts, und siehe da, der Vers klang perfekt.
Auch dieses Beispiel zeigt, daß die Überlieferung bis in die mykenische Zeit zurückreicht.
Aus diesen neuen Erkenntnissen, die wir aus der Grabung, der Hethiterforschung und der Homerforschung gewonnen haben, müssen wir den Schluß ziehen, daß Homer wieder zu einer Herausforderung geworden ist.