Interview mit András Schiff: „Die Menschen brauchen die Poesie und die Stille“

Ortrun und Hartmut Cramer sprachen am 1. März 1997 in Frankfurt am Main mit dem Pianisten András Schiff.


Ibykus: Unsere erste Frage steht noch unter dem Eindruck Ihres gestrigen Konzertes mit dem Alban-Berg-Quartett; auf dem Programm standen drei Werke Franz Schuberts aus verschiedenen Schaffensperioden, also ein sehr interessanter Programmaufbau. Sie spielen in diesem Jahr sehr viel Schubert; können Sie Ihre Gedanken zum Schubert-Jahr kurz umreißen?

Schiff: Ja, der Aufbau eines Programms ist eine sehr wichtige Sache. Und gewiß, ich spiele in diesem Jahr sehr, sehr viel Schubert, aber eigentlich ist es gar nichts Besonderes, es ist höchstens eine Spur mehr. Für mich ist die Beschäftigung mit Schubert ein Bemühen, eine Leidenschaft und eine große Freude. Es gibt bei ihm auch heute noch so viel zu entdecken, in jedem Werk – sogar in den Liedern. Denn sehr häufig wird die Winterreise gesungen und die Schöne Müllerin, ab und zu einmal der Schwanengesang, und noch etwa fünfzig weitere Lieder. Aber es gibt ja noch fünfhundert andere, und unter diesen sind dreihundert kolossale, phantastische Meisterwerke.

Jedes Mal entdecke ich etwas Neues, wenn ich mit Sängern arbeite. Ich liebe die Arbeit mit Sängern, es ist eine sehr wichtige Tätigkeit. Leider kann ich in diesem Bereich nicht so viel tun, wie ich möchte, denn es erfordert sehr viel Zeit. Es ist eigentlich vom Solistischen gar nicht zu trennen; wenn man wirklicher Musiker ist, dann gehört diese Funktion einfach dazu.

Bei ihrem Spiel fällt ja sofort auf, daß Sie mit dem Instrument singen.

Ja, ich versuche es. Das Klavier ist ja nicht unbedingt ein Instrument, bei dem man automatisch an das Singen denkt. Es hat etwas Mechanisches, oder Halbmechanisches. Ich spiele trotzdem Klavier, weil ich die Literatur so hoch schätze. Die Klavierwerke und -konzerte sowie das kammermusikalische Werk ist derart umfangreich, da kann man so unendlich viel machen. Selbst wenn man hundert Jahre lebte, oder zehnmal hundert Jahre, man würde noch immer nicht mit dem Kern-Repertoire fertig.

Horszowski war ja so jemand, er ist hundert Jahre alt geworden…

Ja, Horszowski war ein großer Held für mich…

Mir ist es sehr wichtig, keine zweitklassige Musik zu spielen. Das ist kein Snobismus, sondern ich muß mir Prioritäten setzen, und mich interessiert eben die beste Musik – dabei ist es für mich unerheblich, ob es nun alte oder neue Musik ist. Sehen Sie, wenn Sie Bratschist sind oder Fagottist, dann müssen Sie häufig etwas minderwertige Werke spielen, und das ist doch schade um die Zeit. Aber die haben eben nicht beispielsweise die 32 Beethoven-Sonaten!

Natürlich kann das auch problematisch sein; ich kann zum Beispiel nicht so viel zeitgenössische Musik spielen, wie ich möchte. Natürlich spiele ich sie, aber…

Da gibt es nicht so viele Meisterwerke…

Ja, wir warten auf die neuen Meister, wir suchen die Meisterwerke; ich hoffe doch sehr, daß auch weiterhin Meisterwerke geschrieben werden. Denn wir möchten auch keine Museumswärter sein. Obwohl ich die alten klassischen Meisterwerke natürlich nicht als Museumswerke betrachte, denn sie werden ja nur durch die Interpretation und fortwährende Re-Interpretation zum Leben erweckt.

Wir möchten an dieser Stelle noch einmal zu Ihrem gestrigen Konzert zurückkehren, insbesondere zu Ihrer Wiedergabe des Forellenquintetts. Das ist ein sehr bekanntes, populäres Stück, und trotzdem hatten wir den Eindruck, daß es für Sie auch in diesem Werk – wie Sie anfänglich dargelegt haben – noch immer sehr viel zu entdecken gibt. Und diese „Entdeckerfreude“ vermittelt sich in Ihrem Spiel. Bei dem Forellenquintett ist ja nun die Verbindung zum Lied, zur Poesie ganz direkt, unmittelbar. Könnten Sie das noch näher erläutern?

Ja, selbst bei so einem populären Stück – wie Sie richtig sagen – muß man suchen; es ist nicht gerechtfertigt, einfach nur perfekt zu spielen, wenn ich darüber nichts Neues oder Persönliches zu sagen habe; ich habe kein Recht, das Stück „herunterzuklimpern“. Im Gesamtschaffen Schuberts stellt es noch ein relativ unkompliziertes Werk dar.

Es wird ja überliefert, Schubert habe auf die Frage: „Warum ist Ihre Musik so traurig?“ angeblich geantwortet: „Warum? Gibt es so etwas wie lustige Musik?“ Und das stimmt, billig-lustige Musik gibt es nicht. Aber in diesem Stück kommt Schubert der Heiterkeit am nächsten. Es ist kein depressives Werk. Es hat einige Kehrseiten und Schatten, wie immer bei Schubert: die ständigen Dur-Moll-Wechsel, die wir auch bei Mozart finden. Und wie Mozart hat er auch eine Art Januskopf; man weiß oft nicht, wann er lacht und wann er weint.

Er hat ein sehr feines Gespür für Ironie.

Ja, das stimmt. Aber Humor hat Schubert nicht, jedenfalls nicht in dem Sinne wie Schumann, nicht wie Beethoven und schon gar nicht wie Haydn. Haydn hat diesen unglaublichen Sinn für Humor, meiner Meinung nach den besten von allen. Ja, bei Schubert ist es Ironie, er ist ungeheuer sensibel.

Selbst ein Werk wie das Forellenquintett muß man neu denken, und man darf es nicht allzu oft spielen. Früher habe ich es sehr oft gespielt; heute mache ich es sehr viel seltener.

Dabei ist es auch sehr bedeutsam, mit welchen Partnern man Musik macht. Ich kann nicht alles allein festlegen, von den Partnern kommen Strömungen und Impulse, die man aufnimmt, auf die man reagiert.

Das Musizieren mit dem Alban-Berg-Quartett gestern abend hat Ihnen sehr viel Spaß gemacht hat, das war deutlich zu spüren.

Ja, es war wunderbar. Ich habe mit ihnen schon einmal das Forellenquintett gespielt, vor etwa fünf Jahren; damals hat Günter Pichler (der Primarius des Alban-Berg-Quartetts, Red.) die Geige gespielt. Gestern spielte Gerhard Schulz (der zweite Geiger des Quartetts, Red.), das ist wieder etwas ganz anderes. Im allgemeinen mache ich Kammermusik und Lieder nur mit einem kleinen Kreis von Musikern. Ich bin der Meinung, daß man die Partner nicht zu oft wechseln kann. Viele tun das; ich bin dagegen, denn musikalische Partnerschaften sind – wie menschliche Partnerschaften im allgemeinen – eine sehr heikle Sache. Wenn es funktioniert, ist es etwas ganz Wertvolles, und man muß sie pflegen und darf nicht ständig wechseln. Das gleiche gilt auch für Dirigenten.

Nehmen wir die Frage der musikalischen Partnerschaft als Stichwort: Könnten Sie uns ein bißchen über Ihren Werdegang, Ihre Ausbildung erzählen? Woher kamen die entscheidenden Impulse für Ihre künstlerische Entwicklung?

In meiner Jugend wurde in Ungarn, wie in ganz Mitteleuropa, die Hausmusik noch sehr gepflegt. Ich hoffe, daß es noch nicht ausgestorben ist, das Musizieren zu Hause, auch mit Amateuren.

Man traf sich in den bürgerlichen Familien am Sonntagnachmittag zum Kaffeetrinken und danach wurde Streichquartett gespielt. Ich habe schon als Kind, mit sieben oder acht Jahren, mit anderen Kindern Trios und Sonaten gespielt.

Waren Ihre Eltern auch Musiker?

Sie waren keine Musiker, aber sie waren musikalisch. Meine Mutter wollte ursprünglich Pianistin werden, es ist nichts daraus geworden. Mein Vater war Frauenarzt, er spielte als Amateur die Geige.

In der musikalischen Ausbildung in Ungarn spielte die Kammermusik eine sehr wichtige Rolle. Im Konservatorium und in der Hochschule machte jeder Kammermusik, nicht aus Pflicht, sondern aus Interesse und Leidenschaft.

Zu meinen Lehrern gehörte György Kurtág, ein ganz großer Komponist. Ich war damals 14 Jahre alt; Kurtág gab mir stets als Hausaufgabe Schubert-Lieder, die ich in der Klavierstunde dann selbst singen mußte. Singen und spielen, das war der vielleicht wichtigste Impuls in Richtung Schubert. Für ein Kind ist so ein Schubert-Lied wie Der Zwerg gar nicht einfach. Es ist auch heute für mich nicht einfach, psychologisch und seelisch und im allgemeinen. Dieses Studium der Lieder war eine große Sache für mich.

Kurtág nimmt offensichtlich eine besondere Stellung ein. Vor etwa zwei Jahren hatten wir die Gelegenheit, das Auer-Quartett aus Budapest kennenzulernen, als die vier jungen Musiker an einer Meisterklasse mit Norbert Brainin über „Motivführung als Kompositionsmethode der späten Beethoven-Quartette“ teilnahmen, die das Schiller-Institut im slowakischen Schloß Dolná Krupá veranstaltete. Auch die Mitglieder des Auer-Quartetts – sozusagen die Musiker-Generation nach Ihnen – haben uns erzählt, daß sie durch Kurtág maßgebliche Einflüsse erhalten haben. Ist Kurtág eine Art „nationaler Musiklehrer“ von Ungarn?

Ich denke ja. Schon in früheren Zeiten gab es einen Mann namens Leo Weiner, ein Zeitgenosse von Bartók, und ein ausgezeichneter Komponist. Seine Hauptaufgabe im Musikleben Budapests war die Förderung der Kammermusik. Ganze Generationen gingen zu Leo Weiner: Fritz Reiner, oder Solti oder Sándor Végh, eigentlich alle. Und das schafft enge künstlerische Verbindungen. Wenn ich mit Sándor Végh musizierte, dann wurde diese Verbindung lebendig. Uns trennte ein Altersunterschied von 45 Jahren, doch es war kein Problem zu musizieren, weil es diese unsichtbare Verbindungslinie gab. Das ist etwas Großartiges, da muß man nicht mehr allzuviel über Grundlagen wie Tempo, Phrasierung und Artikulation diskutieren.

Also ein Teil der Kultur, der Musikkultur.

Ja, es atmet. Für mich ist das Atmen sehr wichtig, man kann es von den Sängern lernen. Leider vergißt man es als Instrumentalist sehr oft. Man muß an das Ein- und Ausatmen denken; bei einer Musik wie Schubert ist es eigentlich etwas Selbstverständliches, er denkt in singenden Phrasen.

Wir möchten in Bezug auf die Impulse für Ihre Entwicklung noch einmal spezifisch nachfragen. Sie erwähnten Sándor Végh. Vor einigen Jahren haben wir mit ihm ein Interview für den Ibykus geführt, und das war ein sehr intensives und angeregtes Gespräch. Er betonte, welch wichtige Impulse er wiederum von Pablo Casals erhalten hatte. Da gibt es also eine zusätzliche Verbindung, denn Pablo Casals – auch einer der epochemachenden Musiker für ganze Generationen – hat ja sehr viel mit Horszowski musiziert, der für Sie ja auch eine große Rolle gespielt hat.

Ja, das sind große Vorbilder. Horszowski war in meinem Leben als Pianist sehr wichtig für mich. Ich habe ihn beim Kammermusikfestival in Marlboro in Amerika kennengelernt. Damals habe ich sehr viel mit ihm gespielt. Er war wunderbar, sehr hilfsbereit.

Haben Sie bei ihm auch Unterricht genommen?

Nein, Unterricht nie. Es gab in Marlboro auch keinen Unterricht, in Marlboro kommen ältere Musiker mit jüngeren Musikern zusammen, um gemeinsam Kammermusik zu machen. Ich war nie in einer Gruppe mit Horszowski zusammen, aber wenn ich dort Probleme hatte, dann konnte ich immer zu ihm kommen. Und ich hatte damals viele Probleme mit dem amerikanischen Musizieren – diese Probleme habe ich noch immer! Wenn man noch jünger ist, dann ist man leicht verunsichert und zweifelt, ob der eigene Weg wirklich der einzig richtige ist. So verunsichert bin ich jetzt überhaupt nicht mehr.

Können Sie uns einige Beispiele für dieses „amerikanische Musizieren“ geben?

Viele! Oft ging ich zu Mr. Horszowski, er war so lieb und hat mich getröstet. Denn in Amerika wird oft sehr plakativ musiziert, so wie das Land ist: groß; alles muß groß, laut, bombastisch und effektvoll sein. Das mag ich überhaupt nicht, heute noch weniger als damals. Dieses Mit-dem-Zeigefinger-Musizieren, das Egoistische zu betonen. Wissen Sie, was ich meine? Das ist mir sehr zuwider. Natürlich muß ich eine eigene Auffassung haben, man darf nicht das Individuelle unterschätzen. Alle Musiker, mit denen Sie sprechen, werden Ihnen natürlich pflichtschuldig sagen: „Wir sind gehorsame Diener der Komponisten.“ Aber mit sehr unterschiedlichen Ergebnissen! Weil man das Individuelle eben nicht unterschätzen darf. Allerdings darf man es auch nicht betonen. Es kommt sowieso zum Ausdruck! Auch meine eigenen Aufführungen von heute, morgen und übermorgen, sie verändern sich, zwar nicht drastisch, aber es gibt doch bemerkenswerte Unterschiede.

Beethoven hat es in seinen letzten Quartetten auf einen sehr guten Begriff gebracht: „So streng wie frei.“ Das trifft den Kern, auch in der Frage der Interpretation. Einerseits muß man dem Komponisten folgen, andererseits…

Über alle diese Dinge gab es in Amerika viele Diskussionen, zum Beispiel über das Rubato-Spiel. Aber was heißt rubato? „Herr Horszowski, was kann ich machen: wenn ich eine Phrase rubato spiele, dann kritisieren es die Kollegen sofort.“ Und Horszowski antwortete: „Ach, wissen Sie, wir lieben immer unser eigenes Rubato, aber nicht das der Nachbarn.“ Das war schön gesagt! Solche Altersweisheit! Er ist in Amerika nicht verdorben worden. Auch Rudolf Serkin, den ich ebenfalls sehr gut kannte, war – im Gegensatz zu vielen anderen europäischen Künstlern – nicht „amerikanisiert“. Das äußerte sich unter anderem in ihrem Geschmack.

Geschmack ist eine merkwürdige Sache. Wir sagen oft „Geschmackssache“, aber ich meine, daß manche von uns einen guten Geschmack haben und andere sicherlich einen schlechten. Es ist schwer zu definieren.

Nun hat sich der Begriff „Geschmack“ auch im Laufe der Zeit stark geändert. Denkt man an die Zeit Mozarts, zum Beispiel an Leopold Mozart, so verwendet er in seiner Violinschule ständig das Wort „Geschmack“.

Ständig. Und Carl Philipp Emanuel Bach auch.

Heute würde man vielleicht eher „Ausdruck“ sagen, oder Individualität.

Aber auch „Geschmack“. Denken Sie an die Verzierungen in der Barockmusik, da gibt es alle diese Textbücher aus der Zeit, die eine Regel nach der anderen erwähnen – und dann kommt Carl Philipp Emanuel Bach und sagt: „Das ist letzten Endes Geschmackssache, ein Musikus mit gutem Geschmack muß das richtig machen“ – das ist schon etwas Schönes! Das heißt sehr viel, es heißt, daß ein Musiker sich in diesen Werken, in dem Stil mit absoluter Sicherheit auskennen muß. So eine Zeit wünschen wir uns heute!

Wir diskutieren so viel darüber, was richtig ist und was nicht – manches Mal gibt es große Irrwege. Ich denke oft: Was ist da so viel zu diskutieren? Haben die Menschen denn keine Ohren? Scheinbar nur wenige.

Wir leben heute in einer Zeit, wo es fast keine Kriterien mehr gibt. Jeder kann über eine phantastische Aufführung sagen, das war ein Dreck, und umgekehrt. Und sehr oft werden sehr schlechte Dinge zum Himmel gelobt, und ich weiß nicht warum. So subjektiv ist das nicht. Ich meine, wie man etwa Schubert spielt. Es ist sehr gut, daß sich das Schubert-Bild in den letzten Jahren stark gewandelt hat, weg vom Biedermeier – nur soll man das um Gottes willen nicht so übertreiben, daß daraus ein Steckenpferd für die Psychiater wird!

Heute lieben es einige, eben mit diesem Zeigefinger das Dramatische, das Krankhafte zu betonen. Schubert hat sehr viele dramatische Gedichte bearbeitet, aber häßlich ist das nicht! Man darf diese Musik nicht häßlich interpretieren! Leider gibt es so etwas. Dann wird gesagt: Was für Sie häßlich ist, ist vielleicht für den anderen gar nicht häßlich – aber so einfach ist das nicht.

Das führt natürlich zu der Frage, wozu die Kompositionen überhaupt geschrieben werden. Es führt zur Idee des Strebens nach Wahrheit, in der Komposition wie in der Interpretation. Ist das, was man zu Papier bringt, was man der Nachwelt hinterläßt, etwas, das die schöpferischen Fähigkeiten der Allgemeinheit verbessert und weiterbringt, neue Erkenntnisse schafft, oder ist es einfach eine willkürliche Darlegung individueller Stimmungen, Ausdruck des Persönlichen im falsch verstandenen Sinne? Denn Individualität ist ja ganz unabdingbar, weil nur das menschliche Individuum als solches zu schöpferischem Denken und zu schöpferischem Ausdruck fähig ist. Von daher hängen diese Dinge zusammen; in dieser Frage sind uns heute, in dieser ziemlich unpoetischen Zeit, die Kriterien wohl verloren gegangen.

Ja, was ist Wahrheit? Natürlich muß man sich ständig fragen: Warum hat der Komponist dieses Werk geschrieben, was wollte er damit sagen? Es geht um Wahrheit, um eine höhere Wahrheit, das ist kein Realismus.

In unserem Jahrhundert gibt es viel Realismus, es gibt große zeitgenössische Werke, die andere ästhetische Kriterien haben. Selbst wenn Schubert Gefühlszustände beschreibt, die man kaum ertragen kann, wie im Leiermann oder in einigen der Heine-Lieder, dann ist das kein Realismus im heutigen Sinne, sondern ein Streben nach etwas Höherem. Schubert hat so viel Elendes erlebt, doch er sucht die Harmonie, er sucht das Glück, er findet es nur in der Musik.

Oder die Gedanken um den Tod: Schubert, oder überhaupt die Romantik, diese ganze Zeit – warum beschäftigen sie sich ständig mit dem Tod? Der Tod galt als Freund. Nur wenige Künstler in der damaligen Zeit hatten Angst vor dem Tod.

Die soziale Lage war damals ja auch so, daß man sich ständig damit beschäftigen mußte. In Schuberts Familie beispielsweise…

Schubert starb mit 31 Jahren, aber das war nicht so außergewöhnlich damals. Außergewöhnlich war es, wenn jemand über 70 Jahre lebte.

Diese Auseinandersetzung mit dem Tod ist sehr wichtig, denn das einzige, was nach dem Tod bleibt, sind die Werke. Schubert ist sicherlich eines der besten Beispiele dafür. Schöpferische Leistungen machen potentiell jedes menschliche Wesen unsterblich, und ein musikalisches Genie wie Schubert natürlich erst recht. Er war auf der ständigen Suche nach Wahrheit…

Ja, und da ist immer eine Botschaft. Wir suchen die Werke, die eine Botschaft vermitteln. Warum ist Schubert gerade heute so aktuell? Sie sagten, wir leben in einer ziemlich unpoetischen Zeit – aber die Menschen brauchen die Poesie, die Wärme und die Anregungen, die Intimität und Stille. Das ist für mich das Wesentliche in der Schubertschen Musik: Vieles spielt sich in den leisesten Bereichen ab, oder in den allerleisesten, wo es überhaupt keine Musik gibt, sondern Stille. Wie in der Malerei, wo oft die unbemalten Flächen wichtig sind.

Für mich ist der ein großer Meister, der auch von Ökonomie weiß; es ist ein sehr wichtiges Merkmal. Nicht nur was geschrieben wird, auch das was verschwiegen wird, ist wichtig. Schubert macht ja auch eine unglaubliche Entwicklung in dieser Richtung durch. Manche seiner früheren Werke sind sehr beladen mit verschiedenen ornamentalen Elementen, das wird dann immer weniger, und am Schluß, wie in den Heine-Liedern, steht nur noch die nackte Wahrheit.

Darum finde ich, daß er trotz seiner 31 Jahre ein volles Lebenswerk hinterlassen hat. Es ist unmüßige Spekulation zu denken, was er versäumt hat. Er hat nichts versäumt, er hat sich ausgeschrieben. Einige Menschen leben eben intensiver als andere.

In dieser Intensität des Lebens liegt ja auch eines der großen Probleme unserer Zeit. Die Leute mögen zwar länger leben, aktiv sein und viel Sport treiben, und doch ist ihr Leben ohne Inhalt.

Ja, die Menschen treiben viel Blödsinn!

In diesem Jahr feiern wir ja nicht nur den 200. Geburtstag Franz Schuberts und Heinrich Heines. Es ist auch ein Brahms- und Mendelssohn-Jahr. Wir möchten noch nach Ihrem Verhältnis zu Brahms fragen, denn Brahms hat ja Schubert in allerhöchstem Maße geschätzt und doch eine ganz eigene Sprache entwickelt.

Ja, er hat Schubert sehr geschätzt und sehr viel für Schubert getan. Zum Beispiel hat er sehr viel beigetragen zur ersten Schubert-Gesamtausgabe. Was mich sehr an Brahms fasziniert ist, wie er als Norddeutscher in Wien gelebt und gearbeitet hat.

Schubert war ein Ur-Wiener, ich empfinde seine Musik als eine sehr österreichische Musik. Natürlich ist es universale Musik, er war keine lokale Größe – aber er hat eine Art „lokales Kolorit“. Und auch die Brahmssche Musik gewinnt durch Wien ein starkes Lokalkolorit, sie wird weicher, sanfter. Natürlich: Brahms blieb immer Brahms. Die rauhe Seele ist geblieben, das Melancholische, das Elegische. Brahms war im besten Sinne Pragmatiker, ein praktischer Komponist, und er war vielleicht auch der letzte. Er hat von den Problemen Schumanns oder Mendelssohns sehr viel gelernt. Diese beiden haben komponiert, geschrieben, dirigiert und alles mögliche getan. Sie konnten sich nicht allein der Komposition widmen. Das hat diese beiden ungeheuren Genies viel gekostet. Brahms wollte, glaube ich, diesen Fehler nicht machen; also kam er nach Wien, hat nur gelegentlich Klavier gespielt und Konzerte gegeben, manchmal auch dirigiert, konnte aber schön in Ruhe komponieren.

Alle Werke von Brahms, die wir heute kennen, sind „tip-top“. Er war so selbstkritisch, er hat vieles vernichtet und verbessert, das wir gar nicht kennen. Er war äußerst selbstkritisch – auch kritisch anderen gegenüber, aber mit sich selbst am meisten. Es gibt ein paar Werke, die er neu bearbeitet hat, wie das Trio op. 8: Davon gibt es eine Erstfassung – das Werk ist nicht wiederzuerkennen. Diese Fassung ist wirklich viel schwächer, ich glaube, er hätte sie gerne vernichtet. Er hat das Trio sehr viel später noch einmal bearbeitet. Diese Endfassung ist wunderbar, sie wird heute gespielt; aber dann hat jemand die Erstfassung gefunden.

Gottseidank hat Brahms sehr viel Briefe, Postkarten und anderes geschrieben; irgendwo schreibt er, man tue dem Komponisten überhaupt keinen Gefallen damit, Jugendwerke, Erstfassungen oder solche Dinge zu veröffentlichen.

Nicht einmal dem göttlichen Schubert tut man einen Gefallen – schreibt Brahms! Und er meint damit, glaube ich, auch seine eigenen Kompositionen. Heute wollen wir alles ausgraben und aufführen, das ist nicht immer richtig. Natürlich gehören diese Werke in kritische Editionen und Gesamtausgaben, aber in den Konzertsaal? Da bin ich nicht so sicher.

Leider spielen oft auch kommerzielle Überlegungen bei derartigen Aufführungen eine Rolle, oder auch die Unsicherheit, sich an den wirklichen Meisterwerken messen zu lassen.

Gewiß.

Abschließend möchten wir auf den jetzt schon öfter angesprochenen Hunger nach Lebens-Inhalten in unserer „unpoetischen“ Zeit zurückkommen. Es hat uns gestern abend beeindruckt und gefreut, wie das Publikum in dieser riesengroßen Halle reagiert hat. Die Zuhörer haben sehr konzentriert zugehört und sind bei allen gespielten Werken – einschließlich des nun wirklich nicht einfachen G-Dur-Quartetts – sehr gut mitgegangen. Wie schätzen Sie diese Reaktion ein: Glauben Sie, daß sich da ein Bedürfnis nach wahrer Kunst reflektiert?

Zweifellos, das Bedürfnis ist da. Wir möchten etwas mitteilen, und wenn es aufgenommen wird, dann freue ich mich sehr.

Allerdings muß ich sagen, daß so ein Riesensaal für so ein Konzert denkbar ungeeignet ist. Ich würde solche Konzerte am liebsten überhaupt nicht spielen. Ich bevorzuge immer die kleineren Säle. Ich habe in London gerade wieder an sechs Abenden alle Schubert-Sonaten gespielt. Solche Zyklen könnte ich dort in einem großen Saal spielen, doch ich bevorzuge die Wigmore Hall mit etwa 500 Plätzen. Leider kommen dann sehr viele Leute nicht hinein; ich spiele dann lieber dreimal dort als einmal in der Festival Hall. Weil sehr Vieles verloren geht.

Gestern, in diesem Riesensaal, der, wie gesagt, sehr problematisch ist, haben wir versucht, die ungünstigen Umstände zu vergessen. Wir haben einfach die Augen zugemacht und uns vorgestellt, wir wären in einem Salon, in einem kleinen Zimmer, und wir ziehen die Zuhörerschaft da hinein.

Ich konnte die Akustik gar nicht beurteilen, aber ich glaube, wenn man konzentriert und mit Qualität spielt – auch äußerst leise –, und wenn der Ton einen Fokus hat, dann sind die Zuhörer gezwungen, besser zuzuhören. Ich glaube, wenn in einem solchen Saal ein Symphonieorchester die Erste Symphonie von Mahler spielte – sehr bombastisch –, dann würden sie vielleicht nicht so zuhören. Bei dem G-Dur-Quartett muß ein sensibler Mensch zuhören. Vor allem, wenn das so gut gespielt wird; es ist so ein kolossales Werk.

Dieses Werk besitzt ja wirklich alle Elemente. Auch dieses Liedhafte, das Wienerisch Volkstümliche, aber stark verdichtet zu einer großartigen Form…

Es ist ein Riesenwerk, und es paßt schon gar nicht in das Biedermeier-Bild von Schubert: es ist eine Fortsetzung der späten Beethoven-Quartette, es entstand in der gleichen Zeit wie Beethovens op. 131. Ja, Schubert hatte sein Leben lang immer dieses Vorbild Beethoven vor Augen, es hat ihn fast gelähmt, und trotzdem fand er seinen eigenen Weg. Und im G-Dur-Quartett löst er auch die Probleme der großen Form. Das ist ein philosophisches Meisterwerk, dieses G-Dur-Quartett.

Da ist er ein Meister; er kann in den kleinen Formen etwas ganz Poetisches machen, aber er beschäftigt sich auch mit den existentiellen Problemen der Menschheit. Das geht sehr weit.

Also, wir brauchen in der heutigen Zeit mehr Schubert?

Ja; doch ich finde, daß auch Kurtág unter den Komponisten von heute etwas sehr Wichtiges zu sagen hat; denn nur sehr wenige schreiben für die menschliche Stimme wie er. Er hat eine außerordentliche Sensibilität und ist mit der Vergangenheit verbunden. Vielen unserer heutigen Komponisten fehlt die Verbindung mit der alten Musik, das ist für mich unverständlich. Ich habe Pierre Boulez sagen gehört: „Wenn Schubert ein großer Komponist ist, dann verstehe ich nichts von Musik.“ Das ist traurig.

Also, ich finde, man muß diese Wurzeln auch in der Kunst haben, ob das die Vergangenheit ist oder – wie bei Janacek oder Bartók – die Volksmusik. Das sind gesunde Wurzeln, davon kann man leben und darauf bauen. Es gibt heute leider so viel Dekadentes, Bodenloses.

Was Sind Ihre weiteren Pläne im Schubert- und Brahms-Jahr?

Pläne gibt es viele. Ich beschäftige mich sehr intensiv mit Schumann, ich bin ein sehr großer Schumann-Liebhaber. Und da gibt es noch sehr viel zu tun. Komponisten wie Mozart, Beethoven oder Bach muß man interpretieren und immer wieder spielen, aber sie sind längst akzeptiert. Schubert ist ein „Zwischen-Fall“, und meiner Meinung nach ist Schumann überhaupt noch nicht akzeptiert, kaum jemand schätzt sein Spätwerk.

Es gibt so viele Klischees. Ich halte es für eine Mission, mit diesen Klischees aufzuräumen, wie dem, daß er verrückt geworden ist, oder daß er schlecht orchestriert hat – das ist alles Unsinn! Schumann orchestrierte nicht schlecht, seine Musik wird sehr schlecht dirigiert! Man muß jede Note lassen, wie er sie geschrieben hat, und nicht neu orchestrieren oder umschreiben. Man muß richtig probieren und eine Balance finden, ein Äquilibrium. Ich kenne von Schumann kein Werk, das nicht wunderbar ist – so inspirierend. Bei allem Respekt und bei aller Liebe zu Brahms muß ich sagen, für mich ist Schumann der genialere Komponist. Brahms ist der bessere Komponist, er hat wirklich nichts hinterlassen, was eben nicht tipptopp ist; er beweist eine ungeheure Meisterschaft im Handwerklichen, phantastisch! Aber bei Schumann gibt es diese brennende Genialität, diese einfach unglaubliche Inspiration. Natürlich gibt es das auch bei Brahms, beispielsweise in seinem ersten Klavierkonzert, an dem er wahnsinnig lange gearbeitet hat. Da spüre ich diese vulkanische Genialität. Jedoch nicht bei allen seinen Werken.

Ich habe jetzt sehr oft alle Kammermusikwerke von Brahms im Zyklus gespielt, mit verschiedenen Freunden, das war ein großes Erlebnis. Wir haben alle Sonaten, Trios und Quartette gespielt – jedes einzelne Werk ist wunderbar. So eine durchgehende Qualität, das muß man schon sehr bewundern.

Herr Schiff, herzlichen Dank für das Gespräch.