Ibykus: Anfang des kommenden Jahres feiern wir Schuberts 200. Geburtstag. Aus diesem Anlaß werden in vielen Städten Konzerte und Lesungen veranstaltet, wie beispielsweise die große Konzertreihe in Köln, bei der Sie die künstlerische Leitung übernommen haben, und die Sie mit einem Vortrag eingeleitet haben. In dieser Konzertreihe sollen alle Schubert-Lieder aufgeführt werden…
Fischer-Dieskau: …alle bis auf wenige Ausnahmen.
Wir möchten zum Einstieg zunächst gerne fragen: Worin liegt Ihrer Meinung nach die besondere Bedeutung Franz Schuberts, warum sollte man sich heute – in einer Zeit, die von wirtschaftlicher, moralischer, kultureller Krise bedroht ist – mit Schubert beschäftigen?
Ich bin nicht der Meinung, daß man Kunstwerke unbedingt in Beziehung setzen müßte zu dem, was in der Zeit vorgeht. Zwar sind wir eigentlich als Künstler verpflichtet, unsere Zeit widerzuspiegeln; auf der anderen Seite leben diese Werke aus sich selbst, und sie bleiben auch am Leben. Der Grund, weshalb nun Schubert so gefeiert wird, liegt eher darin, daß es ja seinesgleichen nicht mehr gegeben hat. Es ist weder vor ihm zu finden, noch nach ihm. Die Gattung Lied ist längst tot; das Kunstlied gibt es nicht mehr. Es werden zwar Gesänge für Klavier und Gesang noch geschrieben, aber sie als „Lieder“ zu bezeichnen, wäre in den allermeisten Fällen eine große Kühnheit. Schubert hat diese Form innerhalb weniger Jahre vollkommen entwickelt. Und deshalb ist es wichtig, sich an diesem Mann zu orientieren. Es geht ja um dessen musikalische Natur, etwas, was in der Form heute gar nicht mehr möglich ist.
Aber es ist ganz gleichgültig, in welchen bedrängten und engen Umgebungen Schubert aufwuchs, unter welchen erschwerten Umständen er gelernt hat und wie das Leben durch Krankheit gezeichnet war, und wie früh es zu Ende war – man starb ja früh in jener Zeit.
Ich glaube vielmehr, es ist sehr gut, wenn man sich anhand seiner Lieder unter anderem auch an die sozialen Umstände erinnert, unter denen Schubert gearbeitet hat. Ganz abgesehen davon, daß die Lieder einfach ein solch quirlendes Leben in sich haben, das man niemals voll erfassen kann, dem man sich vielleicht stückchenweise annähern kann, ohne es jemals zu erreichen. Und all das ist gebunden an einen einzigen Geist, an eine Empfindungsart für Musik.
Sie sagen, Sie möchten das Kunstwerk nicht unbedingt in Beziehung zur Wirklichkeit der Zeit sehen, da es einen eigenen Wert habe.
Das meine ich allgemein für die Kunst. Es bedeutet keinen l‘art pour l‘art-Standpunkt, aber die Kunst soll sich nicht an die Zeit hängen. Sondern sie darf die Zeit widerspiegeln, muß es aber nicht, finde ich. Sie ist selbständig… sie war es zumindest. Ob sie es heute noch sein könnte, ist die große Frage, ich bezweifle es. Wenn ich jetzt sehe, was sich „schöpferisch“ tut, so ist das etwas mager.
Man betont ja allgemein, gerade bei Schubert, die reichhaltige Möglichkeit, auf die neuesten Werke der zeitgenössischen Dichter zurückgreifen zu können.
Das stimmt. Andererseits würde Schubert vielleicht heute noch ein sehr viel weiteres Feld zu beackern finden. Es würde sich ihm heute ein unendliches Spektrum von Lyrik darbieten, das es damals noch gar nicht gab. Denn die Lyrik war ja noch relativ neu, sie war ja eigentlich erst mit Klopstock entstanden; es sei denn, man wolle zurückgehen zu Gryphius. Es handelt sich um eine ganz neue Art, sich zu äußern. Sie entstand frühestens in der Aufklärung.
Schubert ist angeblich bei der Auswahl seiner Gedichte ziemlich willkürlich vorgegangen…
Keineswegs, das glaube ich nicht. Es ist doch ein Unsinn, wenn manchmal die hundert guten Gedichte, die er vertont hat, gegen 400 nicht so gute aufgerechnet werden. Erstens behandelt er sie verschieden, er wird den guten Gedichten hervorragend gerecht. Aber er läßt sich vor allen Dingen durch musikalische Aspekte anregen: Was ist rhythmisch, was ist harmonisch, wie ist eine Melodie aufzubauen? Die Komposition einer Melodie entsteht aus einem Textstück, vielleicht die erste Zeile, es kann aber auch die ganze Strophe sein, es kann überhaupt die Form des Gedichts sein.
Also ist ein Gedicht schon eine Art Partitur?
So ist es. Sehr viele Komponisten haben durch das Vertrautsein mit Texten zu einer Form gefunden. Ein berühmtes Beispiel ist Nietzsche, der ein musikalischer Dilettant war, aber unbedingt komponieren wollte. Und Hans von Bülow gab ihm bei der Beurteilung einiger seiner Kompositionen den sehr intelligenten Rat: „Machen Sie Lieder, halten Sie sich an Texte, dann werden Sie wenigstens einen roten Faden oder eine leitende Hand finden, die Ihnen den Weg weist.“ Und so war es auch, die Lieder sind noch das weitaus Beste, was er musikalisch geleistet hat.
Schubert hat einige Gedichte abgelehnt…
Nicht viele! Einige haben sich zur Musik nicht geeignet. Aber vieles andere, das sich eigentlich auch nicht zur Musik eignete, ihm als Text aber gefallen hat, hat er versucht umzusetzen. Manchmal ist er dabei dann auch gescheitert, wie beispielsweise bei seinem Zyklus von drei Hymnen des Novalis, die sind einfach nicht ganz gelungen, aber so etwas passiert eben.
Brahms war der Meinung, man solle doch lieber davon absehen, alles zu drucken, was Schubert je geschrieben hat. Er hat damals bei der Gesamtausgabe gesagt, „das würde Schubert so nie bestätigen, es wird ihn schmälern, wenn Sie wirklich alles drucken, was er geschrieben hat, denn es gibt auch schwache Sachen.“ Aber ich muß sagen, im Verhältnis zu anderen Komponisten sind die schwachen Sachen bei Schubert sehr selten…
Brahms hat auch gesagt: „Man kann aus jedem Lied von Schubert etwas lernen.“
Natürlich. Aber Brahms selber war bei sich äußerst kritisch, er hat immer wieder ausgewählt und gefeilt. Was er dann veröffentlicht hat, das war bis zum i-Punkt richtig, da konnte nichts geändert werden.
Zusätzlich zum Inhalt des Gedichtes gibt es für Schubert aber doch noch eine andere, geistige Ebene, die ihn bei der Liedkomposition anspricht.
Ja, da gibt es die verschiedenartigsten Bezüge bei ihm, mehr biographische als bei anderen. Er wählt sich Gedichte aus, die zu seiner augenblicklichen Lage passen, die ausdrücken, was er erlebt oder zu erleben ahnt. Vielleicht hat er deshalb so häufig Gedichte seiner Freunde bearbeitet. Denn diese hatten ja eine gewisse Einsicht darin, was in ihm vorging.
Viele Gedichte, die Schubert vertont hat, haben ja auch die Komponisten vor ihm, wie Reichardt, Zelter gemacht. Worin liegt der Unterschied?
Reichardt kommt ihm als sein Vorläufer vielleicht noch am nächsten. Schubert hat einige Kompositionen Reichardts kopiert, um sich in der Schreibweise zu üben, mit dem deklamatorischen Stil vertraut zu werden, der rezitativisch nur knapp durch Akkorde untermauert ist. Den Prometheus von Reichardt kann man wirklich als Schubert-Vorläufer sehen. Ich glaube, daß Schuberts Prometheus davon profitierte. Aber sonst? Natürlich, als ganz junger Anfänger hat er sich Zumsteeg zum Vorbild genommen, dieselben Texte vertont. Aber dann geht es ja bei Schubert rasant weiter. Diese Entwicklung ist einzigartig.
Man sagt, Gretchen am Spinnrad war der große Wurf; von da ab war er eben das Genie.
Er war vorher auch schon eines. Das Kunstlied vollendete sich aber in jener Zeit, das muß man sagen.
Gibt es da trotzdem danach noch eine Entwicklung bei Schubert, oder ist er da schon fertig?
Es gibt natürlich eine Entwicklung. Aber Gretchen am Spinnrad bedeutet einen ungeheuren Sprung, da gibt es eigentlich keinen Vorläufer. Es wirkte wie ein Blitz.
Danach gab es natürlich noch weitere Entwicklung. Schubert hat auch immer wieder mal versucht, auf die alten Formen zurückzugreifen, auf seinen frühen Stil, den er neu zu beleben versuchte. Davon ist er aber sehr schnell wieder weggekommen. Gegen Ende seines Lebens spürt man, daß er sich nicht mehr in andere Figuren hineindenkt, die er dann sprechen läßt, sondern daß wirklich er selbst spricht. Bis dahin – ich würde denken, ungefähr bis zur Zeit der Einsamkeit, als er in Zseliz in Ungarn war – läßt er in seinen Liedern jemand anderen sprechen. Und mit diesem Lied Einsamkeit, das er selber als das Beste, das er bis dahin komponiert hatte, bezeichnete, ist eine Stufe erreicht, in der er sich wirklich ganz und gar mit dem, was er komponiert, identifiziert.
Zum Beispiel kann man an der zweifachen Vertonung von Goethes An den Mond nachvollziehen, welche Entwicklung in kürzester Frist durchlaufen wird. Die erste Fassung ist lieb und hübsch und durchaus anhörbar, aber eben nicht so wichtig wie das kurz danach entstandene zweite Lied, das ganz anders angelegt ist, ein vollkommen anderer Strophenaufbau – alles ist anders.
In Köln hatten Sie bei Ihrer Lesung betont, daß Schubert zumeist mehrere Gedichte eines Dichters hintereinander komponiert hat.
Ja, möglichst, sehr häufig.
Er hat also nicht nur versucht, das Gedicht zu komponieren, sondern auch den Charakter des Dichters zu begreifen.
So ist es. Deshalb war ich auch bei meinen Liederabenden immer bestrebt, möglichst nur Werke eines Komponisten zu singen, damit sich das Publikum langsam in die Art und Weise eines schöpferischen Geistes hineinarbeitet und ihm folgen kann. Wenn man immer nur kleine Grüppchen macht, so drei, vier Lieder von einem, dann ein anderer, dann noch einer, dann entgeht einem die Chance, sich in einen Komponisten hineinzudenken, da die Stücke ja meistens sehr kurz sind.
Sie sagen, „diesen einen schöpferischen Geist“. Ich würde das gerne zum Stichwort nehmen. Denn die Liedkomposition zeichnet sich doch dadurch aus, daß sie explizit mit Metaphern arbeitet. Lyndon LaRouche hat vor einiger Zeit eine interessante Arbeit geschrieben, in der er darlegt, daß sich schöpferisches Denken, schöpferische Einsicht über die Metapher vermittelt. Die Metapher als Ideengestalt…
Da müssen Sie in der Musik von einer Formengestalt sprechen, von übernommenen Formelementen, die verwendet werden, um bestimmte Dinge auszudrücken. Denn das Malen mit Musik, das ist etwas anderes.
Das meine ich nicht. LaRouche spricht unter Bezug auf Kepler von „Gedankending“. Kepler hat diesen Begriff in der Weltharmonik viel verwendet. Das heißt, daß ein schöpferischer Komponist, Dichter, Künstler, gezwungen ist, seine neuen Erkenntnisse zu vermitteln, die so, in der Form bisher nicht existiert haben, die Lösung von selbst aufgestellten oder bereits vorhandenen Paradoxen, die sich mit dem derzeit vorhandenen Wissen und Können nicht auflösen lassen. Genau dieser Schritt, das Unvereinbare, das Paradox, in den Griff zu bekommen soll ja vermittelt werden. Und dabei gilt es, mittels der Metapher, einen Ausdruck zu finden, ein geistiges Bild zu erzeugen, das genau den schöpferischen Prozeß, den ich selber durchmache, zum Ausdruck bringt.
Das wird, meine ich, in der Romantik am wenigsten zutreffen. In der Romantik bestimmt vornehmlich die Stimmung, die Atmosphäre. Und in der Beziehung doch könnte man Schubert auch schon einen Romantiker nennen. Die Stimmung eines Gedichts. Die Lyrik ist ja auch in den meisten Fällen bestrebt, so eine augenblickliche Zusammenballung von Elementen auszudrücken.
Schubert dringt zu dem Kern eines Gedichts vor, den er neu in Musik schöpft. Das ist die Idee der Metapher. Diesen Prozeß kann man ja nicht mit Worten fassen. Furtwängler hat davon gesprochen hat, er spiele das, war zwischen oder hinter den Noten ist.
Das ist noch etwas anderes, dabei handelt es sich um den Interpreten. Er selber hat ja auch den Beweis dafür geliefert, daß es nicht so einfach ist mit der Komposition, während er als Interpret unglaubliche Höhen erklimmen konnte.
Die Idee eines Gedichts findet sich doch aber nicht in den einzelnen Worten, die dastehen, sondern in dem Ganzen.
Und das selbst bei Eichendorff, obwohl es sich bei ihm wirklich bei jedem Wort um ein Symbol handelt. Aber wenn man die alle analysiert, dann kommt dabei noch lange nicht eine Interpretation des Gedichts heraus. Der Interpret ist ja mit anderen Dingen beschäftigt. Sie sagen es: zwischen den Zeilen, das ist die Hauptsache.
Es geht also um das Nachspüren, den Versuch des Nachentdeckens des schöpferischen Prozesses, den der Komponist selber vollzogen hat.
Ja, möglichst, das erreicht aber niemand vollständig. Man kann allenfalls versuchen, die Dinge zurückzuverfolgen, woher kommt eine Idee, wo hat er angeknüpft, und was ist das eigene Neue?
Aber liegt darin nicht tatsächlich der Reichtum bei der klassischen Kunst?
Nein, der wahre Reichtum besteht in der Fähigkeit – zumindest für die Zeit, die ich im Blick habe, zwischen 1800 und 1900 –, nicht so sehr die Form oder die Struktur nachzuvollziehen (das muß alles auch sein), sondern die Persönlichkeiten nachzuformen, die da reden, die da singen, die da schreiben. Die eigene Persönlichkeit dazuzufügen, und damit zu verschmelzen. Ich glaube, darum wird es hauptsächlich gehen.
Wehe, wenn keine verwandlungsfähige Persönlichkeit da ist, die interpretiert, dann kommen wir dazu, wie heute oft Beethoven gemacht wird: im Schnelltempo durchgehastet, metronomisch. Das kommt den Werken nicht bei. Er ist ja selber ein sehr freizügiger Pianist gewesen. Man weiß aus Berichten, daß er improvisatorisch hochbegabt war, und das erlaubt allein schon eine unglaubliche Freizügigkeit. „Klassisch“ kann nicht metronomisch meinen!
LaRouche bezeichnet das Kunstlied als eine Art Rosette-Stein, der hilft, sich den größeren, umfangreichen Werken der Kammermusik, bis hin zu Sinfonien, anzunähern und sie zu verstehen. Bei Schubert kann man das ja am Beispiel der Lieder, die er dann weiter entwickelt, auch ganz konkret sehen.
Aber dann entstehen schon bald erhebliche Schwierigkeiten. Ich denke an den jungen Hugo Wolf, der Brahms aufsucht, um ihm seine Kompositionen zu zeigen und dann als einziges Urteil hört: „Gehen Sie in die Akademie, zu Herrn Hellmesberger, und lernen Sie komponieren.“ Man sieht, wie weit das Unverständnis eines hochintelligenten, geistvollen Mannes für ein junges Genie gehen kann: es ist aus vielen Gründen gar nicht vorhanden! Wolf begibt sich stilistisch in so ganz andere Bahnen, eine ganz andere Art der Deklamation, eine Worthörigkeit. Der junge Wolf gehört zu denen, die sich hundertmal ein Gedicht vorsprechen, so lange, bis die Musik dazu gefunden ist. Bei Brahms geschieht der schöpferische Prozeß ganz anders.
Ich glaube, Schubert hatte mehrere Methoden, sich einem Gedicht zu nähern: Es vorlesen, lesen, sich immer neue Ideen dazu ausdenken, verschiedene Dinge erst mal im Kopf erklingen zu lassen, bis er sich endlich entscheidet. Leider kann man es meistens im Einzelnen nicht mehr nachvollziehen. So wenig, wie wir uns vorstellen können, wie Michael Vogl sang, das möchte ich auch gern wissen. Oder wie Schubert Klavier spielte. Es ist sehr schwierig, das nachzuempfinden. Ich glaube, daß er ein sehr geschwinder Pianist war, seine Zeitgenossen sprechen von der „Nettigkeit seines Spiels“. Er war sicher einer von denen, wenn er ins Zimmer kam und hörte jemanden üben, als erstes sagte: „Warum so langsam?“ Solche Tendenz ist bei Schubert gegeben. Im Unterschied zu Brahms, bei dem es genau umgekehrt gewesen sein mag. „Warum hastet ihr so? Denkt doch mal, wenn ihr 4/4 habt, erst mal in 8/8, dann werdet Ihr schon ein bißchen weiterkommen.“
Ist Schubert für Sie, wie für fast alle Liedersänger, im Zentrum?
Vielleicht nicht alleiniges Zentrum, aber das leuchtendste. Da sind schon noch andere, Schumann, Brahms und Wolf. Und Beethoven in seiner Art, obwohl für ihn das Lied ja eine etwas schwierige Sphäre bedeutete, er gab sich nicht gerne mit Texten ab. Er tat es dann doch, weil es in die Breiten wirkte – besser verkaufte als rein instrumentale Musik. Er wollte sich auch deshalb damit auseinandersetzen, weil er Opern schreiben wollte, womit er kein großes Glück hatte. Hätte Beethoven alle seine Pläne verwirklichen können, dann hätten wir beispielsweise einen „Macbeth“, einen „Faust“ und vieles andere. Er hatte sich ja schon verpflichtet, eine ganze Reihe von Opern zu machen. Daraus ist dann nach Napoleons Einmarsch nichts geworden. Aber die Beschäftigung mit Worten und mit Liedern reicht in die zentrale Zeit bei Beethoven.
Sehen Sie denn Gemeinsamkeiten im Liedschaffen zwischen Beethoven und Schubert?
Im Wachtelschlag, den ja beide vertont haben, eine ganze Reihe von Entsprechungen, natürlich auch durch den Rhythmus des Gedichts bedingt.
Aber im allgemeinen gründeten ja beide in dem, was bis dahin an Musik gemacht worden ist. Beide Komponisten haben ja gehört, wie der junge Hummel Klavier gespielt hat, und sie haben beide Schlegels Vorlesungen besucht in Wien, und so fort. Es gibt viele Gemeinsamkeiten, aus denen sie dann sicher Folgerungen zogen.
Ich würde gern noch einmal nachhaken: Die Vermittlung der Ideen, schöpferischer Ideen. Ich hätte gerne noch einmal gefragt, wie Sie an diese Frage herangehen, als Sänger, und heute als Lehrer. Sehen Sie da Veränderungen, gibt es eine Entwicklung in die eine oder andere Richtung?
Nein. Die zu bebauenden Felder sind bei jedem einzelnen jungen Menschen, den Sie kennenlernen, dieselben. Es gilt eigentlich nur, ihn aufzuwecken und ihm die Ohren zu spitzen für das, was in der Musik steckt. Diese Voraussetzungen sind unverändert. Und wenn die jungen Menschen das erfaßt haben, dann kommt auch etwas davon zum Lehrer zurück.
Beim Orchester ist das nicht ganz unähnlich. Es gibt Orchester, auf denen liegt Mehltau, da muß zunächst einmal die normale Routine durchstoßen werden, und die Öffnungen freigemacht.
Welche Rolle spielt denn aber eine Vorbildung, in der Schule, im Elternhaus, wenn man zum Beispiel sieht, daß heute im normalen Schulunterricht die Beschäftigung mit den Klassikern immer mehr an den Rand gedrückt wird?
Ich glaube, es spielt überhaupt keine Rolle. Nehmen Sie das Beispiel Zelter: Sohn eines Maurermeisters und einer Tuchmacherswitwe und absolut nicht mit Musik befaßt, niemand in der Familie. Er offenbart mit noch nicht 12 seine erste musikalische Liebe und entwickelt die selbst dann unglaublich schnell weiter, ohne irgendeinen Lehrer zu haben. Er baut sich aus kleinen Holzplatten eine Orgel, die man treten kann. Natürlich kam kein Ton heraus, aber er stellte es sich vor, denn er hatte Tasten, die man drücken kann, er nahm ein Stück Holz und tat, als ob er Geige spielen konnte, bis der Vater darauf kam: „Du machst dauernd Musik, soll ich Dir eine Geige schenken?“ „Ja!“ Und so fing er an zu kratzen. Und so hat sich das entwickelt, später war das der Kontrapunktlehrer hier in Berlin. Es gibt da viele Beispiele. Dvorak, Schlächtermeisterssohn, da war auch vorher nicht von Musik die Rede.
Sie müssen unterscheiden zwischen schöpferisch und nachschöpferisch. Bei den schöpferischen Menschen tauchen wirklich neue Horizonte auf. Das Nachschöpferische ist an individuelle Fähigkeiten gebunden, da wird die „Ausbildung“ überhaupt nicht enden. Und ich versuche, das bißchen an Stupsen zu geben, was dem Interpreten möglich ist. Das Üben muß er alleine machen, das Herausfinden der Möglichkeiten, mit seiner Stimme zu arbeiten, bleibt eigentlich seine eigene Erfahrung. Er muß lernen, kritisch sich selbst gegenüber zu sein, muß herausfinden, wo sich die schönsten Klangmöglichkeiten in seinem Organ finden. Das kann ihm nur in sehr ungefähren Worten mitgeteilt werden. Man könnte es auch klanglich suggerieren, aber er soll seinen eigenen Klang finden! Und natürlich auch die eigene Person, die dann das ausdrückt, was auszudrücken wäre.
Sie hatten es in anderen Interviews der letzten Zeit erwähnt, daß gerade die Ausbildung der Persönlichkeit in unserer Gesellschaft zur Zeit sehr zu kurz kommt.
Nein, die Ausbildung der Persönlichkeit, das glaube ich nicht. Mich besorgt die allgemeine soziale Tendenz, eine Ebene zu schaffen, aus der nichts herausragt. Jeder, der sich individuell bemerkbar macht, fällt unangenehm auf. Diese Tendenz aus Amerika haben wir allerdings übernommen, und wir müssen ihr entgegenwirken. Nivellierung, oder immer nur nachmachen, was die anderen tun.
Wenn einer beispielsweise im Orchester was besonders Gutes leisten will, fällt er unangenehm auf, weil der Apparat sagt, wir machen hier unseren Dienst, und das auf einem gewissen Level, und darüberhinaus… Darum haben es die Kapellmeister heute auch sehr viel schwerer als damals. Wenn da einer kam, der die Aura eines besonderen Geistes hatte, dann saßen die Musiker eben gleich auf der Vorderkante des Stuhls.
Das gibt das Stichwort: Die Frage des nicht-singenden Kammermusikers, des Orchesters. Sie selbst sind ja auch als Dirigent tätig. Was können Sie als Sänger vermitteln, was vielleicht andere so nicht können?
Atmen können, zum Beispiel. Alle Musik muß sprechen in irgendeiner Form. Es wäre zu wünschen, daß man auf dem Atem musiziert, mit dem Atem. Das ist eine Grundvoraussetzung, aber es gibt noch sehr viele andere. Natürlich kann die Übertreibung dieser Dinge zum Bombast und zum aufgeblähten Musizieren führen. Es hat ja genügend Komponisten gegeben, die hier einen möglicherweise gefährlichen Weg beschritten haben, wie beispielsweise Bruckner. Heute versucht man dem zu begegnen, indem man ihn einfach so herunterspielt, so wie er gedruckt ist; aber so ist es auch nicht gemeint.
Solche Strukturgenies der Wiedergabe wie Furtwängler werden uns nicht oft geschenkt. Der alles, was er an Regungen, sowohl crescendi wie decrescendi, accelerandi, ritenuti immer von der Struktur her anging. Es gehorchte immer den Gesetzen, die in einem Stück waren. Das macht seine Wiedergabe so stimmig und überzeugend.
Wie weit sehen Sie da in dieser Hinsicht Beethovens berühmtes „So frei wie streng“, das er seiner Großen Fuge voranstellte? Was er ja sicher auf die Kompositionsweise bezog, was man aber genauso gut annehmen kann für den Interpreten.
Na, hoffentlich kann man das. Das ist die Frage.
Es gibt eine allgemeine Gesetzmäßigkeit, die der Vielfalt in unserem Universum eine Einheit verleiht. Johannes Kepler ist dieser Frage intensiv nachgegangen; Goethe spricht später von dem, „was die Welt in ihrem Innersten zusammenhält“.
Diese Einheit ist in der Musik durchschnitten worden. Eine Gesetzmäßigkeit, an die Goethe noch geglaubt hat, die er versucht hat, bei dem jungen Mendelssohn zu erkunden, indem er sich hat vorspielen lassen: was gab es zu der Zeit, was ist einander gefolgt, wie sind die Dinge vor sich gegangen? Er wollte immer die Zusammenhänge verstehen, und doch haben sich ihm die musikalischen Zusammenhänge eigentlich nicht erschlossen. Und dann kommt Schönberg später und sagt: Ich mache einen radikalen Schnitt, und damit ist die Sache erledigt, Ende der Musikgeschichte, aus. Seitdem bewegen wir uns in krampfhaften Zuckungen verzerrter Musikprobleme.
Künstlerisch sind wir krank an Leib und Seele. Was für ein Weg da heraus führen kann, ist mir unklar. Und welche Einheit herzustellen ist, in einer Zeit, wo die Orchester sterben und wo die Opernhäuser vor dem Schließen stehen, was soll da folgen – wo nichts wirklich Dauerhaftes neu geliefert wird, für die Musik und die Orchester; die Stücke werden einmal aufgeführt, dann werden sie weggeworfen. Das ist alles sehr deprimierend.
Wenn ich da noch eine Frage anhängen darf. Es stimmt ja; einerseits ist ein wirtschaftlicher Druck da, andererseits gibt es ein großes Bedürfnis nach Musik, nach Konzerten.
Es war vielleicht noch nie so groß.
Aber was passiert mit diesem Bedürfnis, wird es abgespeist mit Akrobatentricks oder irgendwelchem Glimmer…
Jeder Einzelne kann nur versuchen, dem entgegenzuwirken.
Hoffen wir, daß die Bemühungen nicht vergeblich sind! Herr Fischer-Dieskau, wir danken für das Gespräch.