Krieg oder Frieden

Wenn Heinrich Heine uns heute besuchen könnte, dann würde er sich vielleicht an sein vielzitiertes Gedicht erinnern:

„Denk ich an Deutschland in der Nacht,
Dann bin ich um den Schlaf gebracht.
Ich kann nicht mehr die Augen schließen,
und meine heißen Tränen fließen…“

Und sehr wahrscheinlich würde er dann neu und anders weiter dichten und seinem Entsetzen über die Zustände im heutigen Deutschland noch weitaus dramatischeren Ausdruck verleihen.

Man stelle sich vor: eine ganze Reihe der vorzüglichen Geister, die Deutschland über die Jahrhunderte hervorgebracht hat, kämen noch einmal vom Ort der Unsterblichkeit in die Gegenwart zurück und könnten das Verhalten der Zeitgenossen beobachten.

Nikolaus von Kues käme voraussichtlich zu der Überzeugung, daß sich in allen deutschen Institutionen völlig zurückgebliebene Nachkommen der Aristoteliker und Scholastiker eingenistet hätten.

Johannes Kepler würde vermuten, die Anhänger des Club of Rome und Klaus Schwab seien wieder auf das Niveau derjenigen zurückgefallen, die meinen, die Erde sei eine Scheibe.

Gottfried Wilhelm Leibniz würde wahrscheinlich vermuten, daß die meisten Zeitgenossen hochgradig an Sein verloren hätten, indem sie den verschiedenen Varianten des Übels frönten und in ihrer geistigen Trägheit einen Widerwillen gegen das Bewegtwerden manifestierten, woraus eine Verschlossenheit resultiere, sich von dem Guten oder Wahren leiten zu lassen.

Gotthold Ephraim Lessing würde sich beklagen, der Mangel an Mitleidsfähigkeit weise darauf hin, daß es in der Gegenwart nur wenige gute Menschen gäbe, und Friedrich Schiller schließlich käme höchstwahrscheinlich zu dem Schluß, daß Deutschland unter die Brotgelehrten, die Philister und die Räuber gefallen wäre.

Die Frage, der wir uns auf jeden Fall stellen sollten, lautet: Wie stehen wir heutigen Deutschen mit dem, was wir an Kreativität, Tugenden und Zukunftsvisionen zu bieten haben, vor den großen Denkern, Dichtern und Erfindern da, deretwegen Deutschland einmal einen guten Ruf hatte?

Ich fürchte, wir geben derzeit ein erschreckendes Bild ab. Aus einem Volk, das vor nicht allzu langer Zeit sich geschworen hatte, daß von deutschem Boden nie wieder Krieg ausgehen dürfe, ist ein Volk geworden, das offensichtlich keinen eigenen Willen mehr hat, wenn es um die Politik der Nato geht. Daß die Lieferung von schweren Waffen in Kriegsgebiete und die Ausbildung von an Militäraktionen beteiligten Kämpfern in Deutschland uns nach internationalem Völkerrecht de facto zu einer Kriegspartei macht, fällt anscheinend nur sehr wenigen Menschen mehr auf. Daß die Sozialdemokratische Partei quasi über Nacht bereit ist, den ganzen Verdienst der Ostpolitik aus dem Fenster zu werfen, der wir nichts weniger als die friedliche Wiedervereinigung verdanken, ist bestürzend. Und daß so viele Wirtschaftsführer den Flötisten von Hameln auf den Leim gehen, die die deutsche Wirtschaft mit den Sanktionen gegen Rußland gegen die Wand fahren, ist ebenso beschämend wie katastrophal.

Angeblich sind wir ja im Westen die Bannerträger von Demokratie und Menschenrechten, die Verteidiger einer „regelbasierten Ordnung“ gegen Diktatoren und Autokratien. Aber in Wirklichkeit gibt es bei uns wieder etwas, was als der „deutsche Blick“ bekannt wurde. Gemeint ist damit ein ängstliches Umsichsehen, wie es während der Nazi-Zeit gang und gäbe war, als man extrem vorsichtig sein mußte, daß niemand eine eventuell von der offiziellen Linie abweichende Äußerung mitbekommt.

Wenn man heute z. B. die Auffassung vertritt, man müsse dringend eine diplomatische Lösung für die Ukraine-Krise suchen, weil dieser Konflikt das Potential hat, zum dritten, nuklearen Weltkrieg und damit zur Auslöschung der menschlichen Gattung zu führen, dann gilt man auf der Stelle als Putin-Agent und kommt auf schwarze Listen, wie die des „Zentrums zur Bekämpfung von Desinformation“ in der Ukraine.

Und wer regt sich noch über den Doppelstandard auf: die Nato führte 20 Jahre lang Krieg in Afghanistan, und Julian Assange wird langsam aber sicher dahingemeuchelt, weil er auf begangene Kriegsverbrechen hingewiesen hat. Haben die deutschen Fernsehzuschauer aber zwanzig Jahre lang jeden Tag minutiös über jede Kampfhandlung in Afghanistan Berichte zu sehen bekommen, von zivilen „Kollateralschäden“ durch Drohneneinsätze gar nicht erst zu reden?

Um Heines Gedicht etwas abzuwandeln: Wir dürfen nicht mehr die Augen verschließen, wir brauchen Staatsbürger, die Verantwortung für unser Land übernehmen, das offensichtlich unter die Räuber gefallen ist. Wir müssen dafür sorgen, daß Deutschland sich den vielen Staaten in der Welt anschließt, die versuchen, eine Konfrontation zwischen den großen Nuklearmächten zu verhindern, wie die meisten Länder in der Tradition der Blockfreien Bewegung, und alle, die ein neues Paradigma der Kooperation anstreben.

Wenn wir wirklich profunde Antworten finden wollen, dann können wir sie bei den oben genannten Besuchern vom Ort der Unsterblichkeit finden, die universelle Wahrheiten ausgesprochen haben, gegenüber denen sich die Sprüche der sogenannten „Modernen“ ausnehmen wie billiger Tand gegenüber Diamanten.

Der Weg zum Frieden ist vielleicht mühsam, aber er steht offen und muß energisch eingeschlagen werden.

HZL