Als die Mauerische Buchhandlung in Berlin im Dezember des Jahres 1821 einen ersten Band Gedichte Heinrich Heines veröffentlichte – in etwa die Gedichte, die später als Abteilung „Junge Leiden“ ins Buch der Lieder aufgenommen wurden –, rühmte der Verlag, daß der junge Autor „durch seltene Tiefe der Empfindung, lebendige humoristische Anschauung und kecke, gewaltige Darstellung eine überraschende Originalität bekunde“. Ungehört, ja unerhört war der Ton der Gedichte: sehr persönlich in der Empfindung, musikalisch wie ein Volkslied, dann wieder in spöttischer Distanz zur eigenen Betroffenheit sorgten sie für gehöriges Aufsehen. So kontrovers sie auch in den gebildeten Kreisen diskutiert wurden, in der breiten Öffentlichkeit brach bald ein regelrechtes Heine-Fieber aus, und das Buch der Lieder, in dem alle frühen Gedichtzyklen zusammengefaßt wurden, erlebte noch zu Heines Lebzeiten nicht weniger als 13 Auflagen.
Die Heimkehr ist Heines umfangreichster Gedichtzyklus; er umfaßt 88 Gedichte, als deren Entstehungszeit der Autor die Jahre 1823 und 1824 angibt. Der Zyklus mutet auf den ersten Blick vielleicht etwas monumental an, doch er birgt so viele Schönheiten, daß es sich lohnt, etwas zu verweilen. Der Dichter verzichtete auf Überschriften, die einzelnen Gedichte sind nur numeriert. So wird die Einheit des Zyklus betont und die innere Entwicklung nicht unterbrochen. Liebe und Liebesweh sind auch hier das vorherrschende Thema, das immer wieder neu variiert wird und Anlaß zu verschiedensten Spekulationen über die Ursache dieser Traurigkeit bot. Dabei ist man sicher gut beraten, in der besungenen Geliebten nicht nur die untreue Angebetete zu sehen, sondern sie als Metapher zu verstehen. Des Dichters Seelenschmerz gilt nicht nur einer unglücklichen Liebe, diese steht vielmehr stellvertretend für Verlust schlechthin: den Verlust eines geliebten Menschen, den Verlust der Schönheit in der Welt, ja auch für den Verlust der Poesie. Die große Periode der Klassik war mit Goethes Tod endgültig abgeschlossen, und mit der Romantik war eine andere, eine seichte Kunstperiode angebrochen, wie Heine sehr richtig erkannte. Zeit seines Lebens verachtete er die Romantiker als seichte Verseschinder und reaktionäre Gefühlsduselanten und bekämpfte sie mit scharfer Feder.
Die politisch bedrückenden Zustände, die Engstirnigkeit der Zeitgenossen, Duckmäuserei, generell die Unvollkommenheit der Welt sind Gebrechen, die Heine sein Leben hindurch beschäftigten und die er in seinen Gedichten wie in seinen Prosaschriften immer wieder geißelt. Er selbst war der „unglücksel‘ge Atlas“, der „die ganze Welt der Schmerzen“ tragen mußte (Heimkehr Nr. 24); er litt unter den Unzulänglichkeiten der Welt und mußte dagegen angehen. Dabei wählte er sich die Sprache zur Waffe, die er mit vernichtender Bravour ins Feld führt.
Grandios, wie er die seichten Platitüden, die eben so gesprochen werden, wenn man abends in kleiner Runde den Sonnenuntergang beobachtet, wiederholt wie in dem Gedicht „Wir saßen am Fischerhause“ (7), und dem Publikum in der Schilderung von den schönen, stillen Indern und den schmutzigen, blöden Lappen seine eigenen Vorurteile vorführt, oder wenn ausgerechnet die Kastraten mit ihrem Sang von „Liebessehnen“ und „Liebeserguß“ (79) die Damen zu Tränenströmen rühren. Mit „solchem Kunstgenuß“ sind das Bildungsbürgertum und seine hohlen Begriffe in wenigen Worten entlarvt.
Daß seine Gedichte trotz teilweise beißender Kritik so bekannt und geliebt wurden, liegt nicht zuletzt an der Form, die Heine für die meisten seiner Gedichte wählte. Die Volksliedstrophe war damals in der deutschen Lyrik durchaus beliebt, aber Heine gab ihr ein ganz eigenes, unverkennbares Gepräge. Die Strophenform ist die bekannte vierzeilige mit Kreuzreim, doch die Senkungsfreiheit des Volksliedes bildet Heine zur Zeile mit drei oder vier Hebungen aus. Klang und Inhalt bilden eine Einheit, in seinen Gedichten schwingt Musik, es sind wirklich Lieder, die buchstäblich nach Vertonung rufen.
Ungewöhnlich auch ist Heines Selbstironie. Die häufigen Variationen über das Liebesweh, die vielleicht manch einem zu viel werden, unterbricht er mit einem spöttischen kleinen Gedicht:
Teurer Freund! Was soll es nützen,
Stets das alte Lied zu leiern?
Willst du ewig brütend sitzen
Auf den alten Liebes-Eiern?
Ach! Das ist ein ewig Gattern,
Aus den Schalen kriechen Küchlein,
Und sie piepsen und sie flattern,
Und du sperrst sie in ein Büchlein.
(Heimkehr 42)
Immer wieder trifft man auf Unerwartetes. Da stehen kleine Märchen (2) neben sehnsuchtsvollem Schmachten (49), der tief Verletzte (23) neben fantastischen Wortspielereien (17), der selbstironisierende Spötter (65) neben dem zutiefst Verzweifelten (20). Dazwischen findet sich eine groteske Posse (66), Autobiographisches (38) und ein stolzes: „Ich bin ein deutscher Dichter, Bekannt im deutschen Land; Nennt man die besten Namen, So wird auch der meine genannt.“ (13) Ja, selbst kleine Balladen winken dem aufmerksamen Leser, oder besser Gedichte, in denen eine kleine Ballade verborgen ist.
Heine hat auch wunderschöne Balladen geschrieben, denken wir nur an „Die Wallfahrt nach Kevlaar“ oder an „Die Grenadiere“. In diesem Zyklus finden wir nur eine herkömmliche, die „Lorelei“ (2), dafür entdecken wir vereinzelt verstreut eine ganz eigentümliche Kunstgattung, die Heines ureigenste „Erfindung“ ist: lyrische Gedichte mit balladesken Elementen. Die Handlung wird nur angedeutet, wir sehen von außen ins Jägerhaus (5) oder ins Pfarrhaus (28), in dem sich dramatische Szenen abspielen, hinein, ohne selbst direkt am Geschehen teilzuhaben. In diesen Gedichten spiegelt sich in der vorherrschenden Not, der Verzweiflung und dem Überdruß auch deutlich die soziale Aktualität der Zeit wider; sie drängen buchstäblich auf einen Umbruch hin, wenn eine soziale Explosion vermieden werden soll.
Und man entdeckt ausgesprochene Kostbarkeiten wie das Gedicht „Mein Herz, mein Herz ist traurig“ (3), das Heines ganze Meisterschaft sowohl in der Form als auch in der inhaltlichen Gestaltung zeigt. Auf den ersten Blick bietet das Gedicht wenig Eigentümliches; ein Wanderer steht auf einer Anhöhe und läßt seinen Blick schweifen. Er sieht unter sich ein kleines Bächlein sich schlängeln, ein Knabe rudert im Kahn, etwas entfernter sieht er freundliche Hügel, weidendes Vieh, Mägde tollen auf der Wiese – eine idyllische Szene, plastisch ausgemalt wie ein Gemälde. Auch die Form ist wieder die altbekannte vierzeilige Volksliedstrophe mit drei Hebungen und drei bis sechs Senkungen; hier aber reimen nur die zweite und die vierte Zeile, die erste und dritte sind ohne Endreim.
Mein Herz, mein Herz ist traurig,
Doch lustig leuchtet der Mai;
Ich stehe, gelehnt an der Linde,
Hoch auf der alten Bastei.
Da drunten fließt der blaue
Stadtgraben in stiller Ruh‘;
Ein Knabe fährt im Kahne,
Und angelt und pfeift dazu.
Jenseits erheben sich freundlich,
In winziger, bunter Gestalt,
Lusthäuser und Gärten und Menschen,
Und Ochsen und Wiesen und Wald.
Die Mägde bleichen Wäsche,
Und springen im Gras herum;
Das Mühlrad stäubt Diamanten,
Ich höre sein fernes Gesumm.
Am alten grauen Turme
Ein Schilderhäuschen steht;
Ein rotgeröckter Bursche
Dort auf und nieder geht.
Er spielt mit seiner Flinte,
Die funkelt im Sonnenrot,
Er präsentiert und schultert –
Ich wollt, er schösse mich tot.
Wunderbar, wie der Dichter die Entwicklung des Gedichtes gestaltet, wie die verschiedenen Metaphern aufeinander aufbauen, wie der Rhythmus sich verändert. Das Gedicht beginnt in ruhiger Bewegung, der Wanderer nimmt nur seine nächste Umgebung und sich selbst wahr. Doch in der dritten Strophe weitet sich der Blick des Betrachters, und der Vers beginnt zu tanzen, zu singen. Diese Bewegung wird noch durch Tonbeugungen verstärkt (Stadtgráben, Lusthäúser, jenséits), die Spannung und Schwung erzeugen. Der Rhythmus gewinnt überhand, der Wortsinn muß sich der tänzerischen Bewegung unterordnen. In der fünften Strophe verengt sich der Blick des Betrachters wieder, er fixiert den alten Turm, das Bild wird grau. Der Vers kehrt zur ruhigen, regelmäßigen Bewegung des Anfangs zurück, der Bogen zum traurigen Herzen, mit dem das Gedicht beginnt, ist geschlossen, der Betrachter auf sich selbst zurückgeworfen. Heine nennt uns nicht den Grund für die Traurigkeit, wie er gewöhnlich tut, es ist von keinem Liebchen die Rede. Die Umgebung ist freundlich und friedlich und steht im krassen Gegensatz zur Stimmung des Helden. An die Stelle der „großen Liebesschmerzen“ tritt eine Welt, die sich zwar freundlich darstellt, von der man aber völlig abgeschieden ist, an der man nicht teilhat.
Heine ist ein Meister der Sprache, er liebt, mit der Sprache zu spielen, Wortspielereien gehören zu seinem Kennzeichen. Fantastisch, wie in dem Gedicht „Sei mir gegrüßt, du große, Geheimnisvolle Stadt“ (17) aus dem (Stadt-)Tor ein (menschlicher) Tor wird, der „immer willig (ist), wenn eine Törin will“. Er genießt es, uns an der Nase zu zupfen, zu necken. Erst werden wir mit herrlichen Bildern und süßen Empfindungen in entlegenste Sphären entführt, um durch eine plötzliche spöttische Bemerkung aus allen Himmeln gerissen zu werden. Der romantische Nebel lichtet sich, wir werden genötigt zu denken, zwischen Sentimentalität und wirklicher Betroffenheit zu unterscheiden.
Die in Klammern gesetzten Zahlen geben die Nummer des jeweiligen Gedichtes an.