Wir feiern in diesem Jahr den 550. Geburtstag Leonardo da Vincis. Aus diesem Anlaß will Ibykus einige Aspekte im künstlerischen Schaffen Leonardos erhellen, die bislang zu wenig Beachtung fanden. Dies betrifft insbesondere den Forscher Leonardo, der u. a. im Vorgriff auf Wernadskijs Untersuchung der Biosphäre neue wissenschaftliche Hypothesen auf dem Gebiet der Geologie formulierte und interessante Einsichten in die Entwicklung unseres Planeten lieferte.
Für Leonardo ist der Maler „Nachahmer der Natur“, der jedoch durch seine Kunst und Erfindung die Natur selbst erhöht. Er versuchte die der Natur zugrundeliegenden Gesetze zu erforschen und in seinen Gemälden und Skizzen das Wirken der Natur sichtbar zu machen. Leonardo war zugleich der erste Wissenschaftler, der als Vorläufer Gottfried Wilhelm Leibniz‘ eine „Wissenschaft der Technologie“ entwickelte. Mittels wissenschaftlicher Hypothesen entwarf er Skizzen für arbeitssparende Maschinen, darunter „Produktionsmaschinen“, wir würden heute sagen Werkzeugmaschinen. So erfand er – im Vorgriff auf die Jahrhunderte später erfolgenden Arbeiten der École polytechnique – Hebemaschinen, Wurfmaschinen für das Militär, Maschinen zur Herstellung von Feilen und Bohrmaschinen. Gleichzeitig machte er Vorschläge zur Verbesserung der Infrastruktur wie Bewässerungs- und Kanalisationsprojekte, um Regionen für die Landwirtschaft nutzbar zu machen (darunter zum Beispiel das unvollendet gebliebene Projekt zur Umleitung des Arno in Florenz). Er fertigte Skizzen zum Bau von Brücken und Straßen an und beschäftigte sich mit der Frage der Schiffbarmachung von Flüssen.
Leonardo wurde am 15. April 1452 in dem in der Toskana gelegenen Städtchen Vinci geboren. 1478 kam er in die Werkstatt des bekannten Malers Andrea del Verrocchio. Von 1481–99 war er als Ingenieur und Maler bei dem Mailänder Herzog Ludovico Sforza il Moro angestellt. – Aus dieser sehr fruchtbaren Zeit hat er ein riesiges Werk an Manuskriptseiten hinterlassen, so wie er überhaupt wie kein anderer Maler Manuskripte über die Malerei, Notizbücher und Tagebücher hinterlassen hatte. 1965 wurde der CODEX Madrid I und II gefunden, der zum ersten Mal ermöglichte, Leonardos technische Entwürfe genauer zu studieren und viele originäre Beiträge für die Wissenschaft zu sichten.
Zu den prägenden geistigen Einflüssen da Vincis gehörte Luca Pacioli. Pacioli war der Lehrer des Malers Piero della Francesca, der sehr stark von den Ideen Cusas angeregt war und zusammen mit Leonardo während dessen Anstellung bei Ludovico Sforza in Mailand intensive Geometriestudien betrieb. Unter anderem vermittelte Pacioli Leonardo die Werke des Euklid und studierte mit ihm sein eigenes Werk De divina Proportione. Leonardo hielt sich fast 20 Jahre in Mailand auf – zwischenzeitlich war er als Militäringenieur bei Cesare Borgia in der Romagna angestellt – und verließ es erst, nachdem es 1499 von den französischen Truppen Ludwigs XI. erobert worden war. 1517 begibt er sich nach Frankreich nach Amboise, wo er dem französischen König Franz I. zur Verfügung steht. Dort stirbt er am 2. Mai 1519.
Leonardo verstand sich im Cusanischen Sinne als uomo senza lettere, so wie ihn Cusa in Der Laie über die Weisheit dargestellt hatte, wo es heißt:
Redner: Wie könntest du zum Wissen deiner Unwissenheit geführt worden sein, da du ja ein Nichtwissender bist?
Laie: Nicht aus deinen, sondern aus Gottes Büchern.
Redner: Welche sind dies?
Laie: Die er mit eigenen Fingern geschrieben.
Redner: Wo kann man die finden?
Laie: Überall.
Der Mensch ist gemäß Leonardo Erfinder und Mittler zwischen der Natur und den Menschen, und Wissen hat nichts damit zu tun, irgendwelche aufgeblasene Reden zu schwingen, sondern in die inneren Gesetze von Gottes Werken in der Natur einzudringen und mittels der Malerei „das Unsichtbare sichtbar zu machen“.
Stets ging er sehr polemisch mit den Sophisten ins Gericht:
„Wenn ich auch nicht, wie sie, Autoren anzuführen weiß, so ist es doch weit größer und des Lesens würdiger, die Erfahrung, die Lehrmeisterin ihrer Lehrmeister, anzuführen. Aufgeblasen und schwülstig kommen sie daher, bekleidet und geschmückt nicht mit ihren eigenen Werken, sondern mit denen anderer; und meine eigene Arbeit gönnen sie mir nicht; und wenn sie mich als Erfinder verachten, um so mehr sind sie dann zu tadeln, da sie gar nichts erfinden, sondern die Werke anderer herumtrompeten und nachbeten.
Die Erfinder und Mittler zwischen der Natur und den Menschen sind, verglichen mit den Herumtrompetern und Nachbetern der Werke anderer, nicht anderes zu beurteilen und zu bewerten als der Gegenstand außerhalb des Spiegels im Vergleich zu dem Bild des Gegenstands, das im Spiegel erscheint, denn der eine ist in sich etwas und der andere ist nichts, Das sind Leute, die der Natur wenig verpflichtet sind; denn sie tragen nur ein künstliches Kleid, ohne das ich sie unter die Tierherden schicken könnte.“ (C. A 117 r.)
„Ich weiß wohl, manch Arroganter wird glauben, er könne mich, da ich kein Humanist bin, mit Recht tadeln, indem er anführt, ich sei kein gelehrter Mann. Törichte Leute! wissen sie denn nicht, daß ich ihnen genauso antworten könnte wie Marius den römischen Patriziern antwortete, nämlich mit den Worten: ,Diejenigen, die sich mit fremden Federn schmücken, wollen mir meine eigene Werkstatt nicht gönnen.‘ Sie werden sagen, ich könne, da mir die lateinische Gelehrsamkeit fehle, nicht gut sagen, was ich behandeln möchte. Aber wissen sie denn nicht, daß das, was ich zu sagen habe, nicht von den Worten anderer kommt, sondern aus der Erfahrung entsteht, welche die Lehrmeisterin dessen war, der gut geschrieben hat, und sie soll auch meine Lehrmeisterin sein, und sie werde ich bei allen Fällen anführen.“ (CA 119 v.a.)
Das Thema schöpferisches Wissen versus Sophismus zog sich daher wie ein roter Faden durch Leonardos Werk. Gemäß Leonardo existiert im Universum eine grundlegende Idee, die sich in den Naturgesetzen darstellt und vom menschlichen Geist begriffen werden kann. Der Mensch begreift diese Gesetze nicht automatisch. Nur wenn er sich als Instrument göttlicher Kraft sieht, ist es ihm möglich, die Gesetze des Universums mit seiner Vernunft zu erfassen und mittels der Malerei – Leonardo nennt sie eine „stumme Dichtung“ – die Natur nachzuahmen bzw. durch die Kunst zu erhöhen. Für Leonardo stand die Malerei daher noch höher als die Dichtung. Die Malerei, hielt er in einer Eintragung fest, diene einem besseren und wertvolleren Zweck und es zeige sich, daß man lieber das Gehör, den Geruch und den Tastsinn verliere als die Sehkraft:
„Wer nämlich die Sehkraft verliert, der verliert auch den Augenblick und die Schönheit des Weltalls und er gleicht einem, der lebendig in das Grab eingeschlossen ist, wo es ihm an Bewegung und Leben sonst nicht fehlt: siehst du denn nicht, daß das Auge die Schönheit der ganzen Welt erfaßt? Das Auge ist der Herr über die Astronomie; es macht die Kosmographie; es ist Rat und Beistand aller menschlichen Künste, es bewegt den Menschen in die verschiedenen Teile der Welt; es ist der Fürst der Mathematik, sein Wissen ist unumstößlich, es hat die Höhe und die Größe der Sterne gemessen, es hat die Elemente und ihren Wohnsitz herausgefunden; es hat durch die Bahnen der Sterne die Zukunft vorausgesagt; es hat die Architektur und die Perspektive hervorgebracht und die göttliche Malerei.
O Auge, du stehst hoch erhaben über allem, was Gott geschaffen hat! Wo ist das Lob, das deinen Wert ausdrücken könnte? Wo die Völker und die Zungen, die dein wahres Wirken vollendet beschreiben könnten? Es ist ja das Fenster des menschlichen Körpers, durch das er seinen Weg erspäht und die Schönheit der Welt genießt; dem Auge ist’s zu danken, daß sich die Seele mit dem menschlichen Kerker zufrieden gibt, der ihr ohne das Auge zur Qual würde; daß das menschliche Bemühen das Feuer entdeckte, wodurch es wieder zurückgewann, was ihm vorher die Finsternis genommen hatte. Das Auge hat die Natur mit dem Ackerbau und den erquickenden Gärten geschmückt… Was könnte man ohne das Auge tun? Das Auge bewegt die Menschen von Osten nach Westen; es hat die Schiffahrt erfunden und darin übertrifft es die Natur, daß die einfachen Dinge der Natur endliche sind, die Werke aber, die das Auge den Händen befiehlt, unendlich sind, wie der Maler beweist, wenn er unendlich viele Gestalten von Tieren, Kräutern, Bäumen und Orten erfindet.“ (C. U 15 v.-16 r.)
Diese Ausführungen sollten helfen, zwei der bedeutendsten Gemälde Leonardos in neuem Zusammenhang zu sehen. Sie stammen aus der Mailänder Periode, als Leonardo in engem Dialog mit Pacioli stand. In dem Artikel „Das Ei ohne Schatten“ (Ibykus Nr. 73) weist der Autor Karel Vereycken auf die Felsengrottenmadonna hin, ein Bild, in dem man die Proportionen eines goldenen Rechtecks erkenne. „Leonardo wollte das Unsichtbare sichtbar machen. Es wird oft darauf hingewiesen, daß es scheint, als wolle Maria mit einer schützenden Geste verhindern, daß das Kind in einen jähen Abgrund vor seinen Füßen stürzt – ein Eindruck, der durch das Mittel des instabilen Blickwinkels erzeugt wird. Dieser Effekt wird verstärkt durch die Verwendung des Lichts, das Leonardo ebenso wie später Rembrandt als Metapher dient.“ Vereycken verweist auf eine Stelle in Cusas Die Gottesschau, wo es heißt: „Jene Dunkelheit im Auge entsteht nämlich aus dem alles überstrahlenden Licht der Sonne. Je tiefer es also die Dunkelheit erkennt, in umso größere Wahrheit erreicht er in der Dunkelheit das unsichtbare Licht.“
Unsichtbares Licht kann nur durch die Finsternis dargestellt werden. Hat Leonardo nicht aus diesem Grund die Szene in eine Felsengrotte verlegt?, fragt Vereycken. „Das Licht, das die beiden Figuren beleuchtet, ist das sichtbare Licht. Aber eine zweite Lichtquelle an der Öffnung der Grotte im Hintergrund spendet Licht einer ganz anderen Qualität. Steht diese nicht für das unsichtbare Licht?“
Ein weiteres Beispiel ist das Abendmahl, das im Refektorium des Klosters Santa Maria delle Grazie in Mailand zu sehen ist und in den letzten 20 Jahren restauriert wurde. Leonardo malte dieses Fresko 1495–97 im Auftrage Ludovico Sforzas.
Das Antlitz Christi bildet den zentralen Perspektivpunkt des Bildes. Je mehr der Betrachter in die Mitte des Raumes tritt, um das Fresco zu betrachten, um so mehr wird das etwa sieben Meter breite Fresco lebendig vor seinem physischen und geistigen Auge. Tritt man näher an das Bild heran, so scheint es, als betrachte man es von unten nach oben. Durchschreitet man den Saal des Refektoriums und bewegt sich weiter nach hinten im Raum zur Südseite, so kommt es einem vor, als betrachte man es von oben. Oben, unten, von der Seite – stets ändert sich die Perspektive und Optik, von der aus man das Bild in seinem komplexen Geschehen erfassen kann und dennoch: der Blick Christi – zugleich der Fluchtpunkt der Perspektive – blickt jeden gleichermaßen an.
Leonardo wollte den Moment darstellen, wo Jesus sagt: „Wahrlich, wahrlich, einer von euch wird mich verraten“ – ein Moment höchster Spannung und Dramatik, der hier unter den anwesenden zwölf Aposteln ausgelöst wird.
Sie sind tief erschüttert und erregt, und diese Erregung setzt sich wie eine akustische Wellenbewegung vom Zentrum an den äußeren Rand des Bildes fort und prallt von da wieder zurück.
Leonardo merkte in seinen Eintragungen an, daß es ihm hier darauf ankomme, die „moti dell’anima“, die innere Seelenbewegung äußerlich darzustellen. Er fertigte ausführliche Studien über die Gesten der Apostel an und schrieb dazu:
„Einer, der trank, ließ den Becher an seinem Platz und wandte den Kopf dem Sprechenden zu. Ein anderer schiebt die Finger seiner Hände ineinander und wendet sich mit starren Brauen seinem Gefährten zu; der andere hat die Hände geöffnet und zeigt deren Innenflächen, zieht die Schultern bis zu den Ohren hoch und öffnet staunend seinen Mund. Ein anderer sagt seinem Nachbarn etwas ins Ohr, und der, der ihm zuhört, beugt sich zu ihm hin, zugleich hält er in der einen Hand ein Messer und in der anderen das Brot, das er schon auseinandergeschnitten hat. Noch ein anderer, der ein Messer in der Hand hat, schüttet mit dieser Hand, während er sich umdreht, einen Becher auf den Tisch. Ein anderer hat seine Hände auf dem Tisch liegen und schaut. Ein anderer bläst auf sein Essen. Ein anderer beugt sich nach vorne, um den Sprechenden zu sehen und hält sich die Hand vor die Augen, um sich Schatten zu machen. Noch ein anderer neigt sich hinter den, der sich nach vorne beugt, und sich zwischen der Mauer und dem nach vorne Gebeugten befindet, schaut er auf den Sprechenden.“ (S. K. M. II 62 v-63 r.)
Wir erleben ein Drama, einen Moment des Übergangs, der emotionellen Erschütterung. Leonardo setzt den zentralen Fluchtpunkt des Bildes in die Mitte des Antlitzes Christi – seine Augen. Er macht diesen zum Mittelpunkt seiner Komposition.
Durch die drei Fenster wird der Blick freigegeben auf eine ferne Landschaft. Christus ist Bindeglied zwischen Irdischem und Himmlischem, er ist Sohn Gottes unter den Menschen. Der Blick Christi, der jeden, der dieses Bild, egal von welchem Blickwinkel aus, betrachtet und erfaßt, läßt den Betrachter durch den Akt des Sehens geistig teilnehmen an der Schau Gottes.
Ibykus veröffentlicht zugleich zwei Beiträge von Künstlern aus Rußland – dem Mosaikkünstler Kornoukov Alexander Davidovich und der aus Italien stammenden Malerin Elide Cabassi –, die sich aus unterschiedlichem Blickwinkel, der Ikonenmalerei, mit der gleichen Frage der Transzendenz auseinandersetzen.