Lessing: Gegenpol zur Aufklärung

Die Zeit des Dreißigjährigen Krieges stellt eine der dunkelsten Perioden der Menschheitsgeschichte dar. Gottfried Wilhelm Leibniz entwickelte einen genialen Plan für eine europäische Friedensordnung, Gotthold Ephraim Lessing hielt mit seinen Trauerspielen der Oligarchie den Spiegel vor und entwarf mit Nathan der Weise ein Menschenbild auf höherer Ebene, um die Rückständigkeit der Gesellschaft zu überwinden.


Gotthold Ephraim Lessing (1722–1781), Gemälde von Anna Rosina de Gasc (Lisiewska), Gleimhaus Halberstadt.

Eine Kriegstrunkenheit scheint die Besinnung Europas ausgelöscht zu haben, der Denkfaden abgeschnitten. Auch die moderne Welt ist nicht frei von Irrtümern, die einem Großteil der Bürger verborgen bleiben, weil sie die vorgefaßten Narrative als ihre Meinung übernommen haben und sich als alleinige Besitzer der Wahrheit dünken. Wie in der Antike die magischen Orakelsprüche der Kultpriesterinnen das Volk lenkten, so führen heute die digitalen Medien die Massen mit ähnlicher Wirkung. Die Mittel haben sich geändert, die oligarchische Kontrolle und Steuerung des Volkes ist geblieben.

Für „Demokratie“ und „Menschenrechte“ stürzen wir Regierungen, führen Angriffskriege, inszenieren Farbrevolutionen und empfinden den permanenten Kriegseinsatz seit über 30 Jahren als normale Welt. Die Nato-Staaten haben die Westfälische Friedensordnung, die sich in der UN-Charta widerspiegelt, aufgegeben.

Erinnern Sie sich an Tony Blair, den ehemaligen britischen Premierminister, der 1999 das Ende der „westfälischen Ordnung“ verkündete und damit das Ende der Souveränität einleitete? Er entging nur knapp einer Anklage wegen Kriegsverbrechen, wurde aber vom britischen Königshaus vor kurzem geadelt. Wir sind Zeuge einer Wertezertrümmerung und einer Auflösung der Rechtsordnung, die durch die sog. „regelbasierte Ordnung“, einer Kopie der „Macht des Stärkeren“, ersetzt wird. Die Sprache der Medien und der Politik dient dazu, den Geist zu knebeln. Frieden heißt jetzt Krieg und Recht wird Unrecht. Wo ist der Ausweg?

Der Dreißigjährige Krieg von 1618 bis 1648 war von ähnlichen Irrtümern beherrscht. Eine finstere Periode von permanenten Kriegen vernichtete Menschen, Städte, Dörfer, Vieh und Felder. Hunger und Seuchen vergrößerten das Leiden, der Hexenwahn wurde geschürt, die Denunziation blühte und brachte Unschuldige als Teufelsanbeter vor die Inquisition. Die Bevölkerung verlor ihre Hoffnung, wurde barbarisiert oder flüchtete in einen fundamentalistischen Jenseitsglauben. Ein Drittel der Menschen wurden durch Krieg und Krankheiten dahingerafft. In Wirklichkeit diente die Religion der Oligarchie als Vorwand, um die europäischen Staaten gegeneinander aufzuhetzen.

Erst der Westfälische Frieden setzte dem Morden ein Ende. Er schien aus einer anderen Welt zu kommen: Das Recht auf Krieg wurde ersetzt durch das Recht auf Frieden, die Macht der Willkür durch das Maß des Rechts und der Gerechtigkeit.

Auch heute halten viele Bürger die Umkehr zu einem neuen Paradigma, einer neuen Friedensordnung für unmöglich. Das kommt nur daher, weil sie ihre Macht als Bürger an die Oligarchie abgetreten haben.

Vom Friedensvertrag zum Frieden

Mit dem Vertragsabschluß des Westfälischen Friedens war der Frieden aber noch nicht verwirklicht, er mußte erst noch mit Leben und Taten erfüllt werden. In dieser Periode der Schwäche der Feudalfürsten tritt Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716) mit einem genialen Konzept auf den Plan, die Staaten für eine europäische Friedensordnung zu gewinnen. Sein Plan war es, die oligarchischen Kräfte zu schlagen, die Barbarei zu bekämpfen und die Menschheit als Ganze zu erheben. Denn immerhin hatten 80 Prozent der Bevölkerung keine Bildung und, anfällig für Aberglauben, lebten sie von der Hand in den Mund. Das Zentrum seines Plans war die Gründung von Akademien (Kollegien), den er verschiedenen europäischen Ländern vorschlug.((Martin Kaiser, „Kennen Sie Gottfried Wilhelm Leibniz?“, Neue Solidarität Nr. 9, 2. März 2016.)) Sie sollten Lokomotive und Organisationszentren für sich entwickelnde Nationalökonomien sein, im klaren Gegensatz zur britischen Freihandelspolitik.

Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716), Gemälde von Johann Friedrich Wentzel.

Im Memorandum Sozietät und Wirtschaft spricht er, nur wenige Jahre nach den Kriegswirren, vom „Streben nach Glück für alle“ als Aufgabe des Staates. Er stellt der Unmoral des britischen Philosophen John Locke ein völlig neues Menschenbild entgegen: der Mensch als imago viva dei, als lebendiges Abbild Gottes.

Für Locke, der im Dienste des britischen Empire arbeitete, war der Mensch tierähnlich, der nur Sinne, aber weder Seele noch Vernunft besaß und folglich weder Bildung noch sozialen Schutzes bedurfte.

Leibniz lehnte dieses bestialische Menschenbild ab, das die Bevölkerung ohne Bildung auf die Stufe von Schafen und Hunden stellte. Seine revolutionären Ideen verpackte er in diplomatische Form, seine visionären Gedanken erweckten Neugier bei vielen Fürsten Europas.

„Ich mache keinen Unterschied der Nation und der Partei“, schrieb er an den russischen Kanzler Gobin, und bat um ein Treffen mit dem Zaren: „Ich würde mich freuen eine kräftige Blüte der Wissenschaften bei den Russen zu sehen, die in Deutschland nur mäßig gepflegt werden.“ Welch ein Unterschied zur heutigen getrübten Sicht unserer Politiker, die nach den geopolitischen Kriterien eines George Soros ihre Partner wählen, anstatt im Fortschrittswillen der Nationen die Zukunft zu sehen.

Weitsichtig sah Leibniz vor 300 Jahren ein sich öffnendes Rußland als Brücke nach China.

Heutzutage liefe er Gefahr, in Amerika als chinesischer oder russischer Agent verhaftet zu werden. Sein Optimismus war grenzenlos, Mißerfolge oder Rückschläge bei seinen zahlreichen Projekten entmutigten ihn keineswegs, sondern spornten ihn um so mehr an. Er stellte sich die Aufgabe, die menschliche Gesellschaft gemäß einer allgemeinen harmonischen Ordnung zu organisieren.

Gotthold Ephraim Lessing

Doch wie sollte eine solche Ordnung umgesetzt werden, wenn Feudalfürsten und Bürger ohne Redlichkeit, Gerechtigkeit und Milde waren? Der Frieden stand zwar auf dem Papier, aber in den Gemütern war er noch nicht angekommen. Nur vor diesem Hintergrund kann die Bedeutung von Lessings Wirken (1722–1781) verstanden werden.

Er sah in den oligarchischen Institutionen und ihren Dienern die Blockade, welche jeglichen Fortschritt hemmte. Im Herrenbewußtsein mit unersättlicher Gier nach Pfründen wurden die Landeskinder mißbraucht. Lessing war selbst Zeuge, als sein Schulunterricht abgebrochen werden mußte, weil man im Krieg die Räume der Schule als Lazarett benötigte.

In einem Brief an seinen Vater schreibt er:

„Das arme Meißen sieht einer Totengrube ähnlich. Alles ist voller Gestank und Unrat. In den meisten Häusern liegen 30 bis 40 Verwundete.“

Trotz bitterster Armut im Volk war es England gelungen, Friedrich II. in den Siebenjährigen Krieg zu locken und den Krieg um Schlesien zu führen.

Lessing hielt mit diesem Lied dagegen:

Eine Gesundheit

Trinket, Brüder, laßt uns trinken,
Bis wir berauscht zu Boden sinken;
Doch bittet Gott den Herrn,
Daß Könige nicht trinken.

Denn da sie unberauscht
Die halbe Welt zerstören,
Was würden sie nicht tun,
Wenn sie betrunken wären?

Es brauchte außerordentlichen Mut, der Oligarchie den Spiegel vorzuhalten. Bereits in seinem ersten Trauerspiel Samuel Henzi stellt Lessing seine Entschlossenheit für Recht und Gerechtigkeit unter Beweis. Der „Fall Henzi“ hatte ganz Europa entsetzt, wurde doch die Wahrheit eingekerkert, wie heute im „Fall Assange“.

Worum ging es? In der Schweiz wurde der Schriftsteller Samuel Henzi gefoltert und geköpft für eine angebliche Verschwörung gegen die Adelsrepublik Bern, die nur auf dem Papier stattfand. Lessing ist über die Willkürjustiz entsetzt und macht sich als freier Schriftsteller zum Wortführer der Empörten. Er dramatisiert den Schauprozeß und ergreift Partei für den tapferen und mutigen Mann, der kein fanatischer Umstürzler war, sondern nur ein unerschrockener Streiter für Recht und Gerechtigkeit.

Bild: Wikipedia/hls-dhs-dss.ch
Darstellung der Hinrichtung des Schriftstellers Samuel Henzi, 1749.

Wenige Jahre später greift Lessing in seinem Trauerspiel Emilia Galotti erneut das Thema der Rechtlosigkeit der Oligarchie auf.

Er zeigt einen Prinzen, der die Leichtigkeit des Lasters verkörpert. Mit uneingeschränkter Macht ausgestattet, wird der Prinz vom sensiblen Ästheten am Morgen zum unmenschlichen Ungeheuer am Nachmittag, wo er in seiner Zerstreutheit „recht gern“ ein Todesurteil unterzeichnet.

Die Substanzlosigkeit seines Charakters wird uns vor Augen geführt. Lessing behandelt ihn nicht von außen, sondern macht ihn von innen her durchsichtig. Gerade weil er den Prinzen nicht von vornherein verurteilt, sondern ihn als einen bestimmten Menschen in einer bestimmten Lage zeigt, mit dessen Ähnlichkeit sich der Zuschauer bis zu einem gewissen Grad identifizieren kann, wird die Substanzlosigkeit noch vernichtender. Nur in einer Situation, in der der Mensch auf die Probe gestellt wird, ist sein Charakter sichtbar, meint Lessing.

Für Lessing ist Charakter kein fester Besitz, sondern seine Fähigkeit zur Selbstentscheidung. Die sittliche Autonomie müsse jedes mal neu durch den menschlichen Willen errungen werden.

Ein neues Menschenbild nach dem Dreißigjährigen Krieg

Wie kann ein Volk, das 30 Jahre lang von Vernichtung und Tod bedrängt war, moralisch erhoben werden? Wie kann die Bildung einer „schönen Seele“ gelingen, in der Freiheit und Notwendigkeit keinen Widerspruch darstellen? Jeder Kleingeist hätte von Anbeginn kapituliert. G.W. Leibniz wies den Weg u. a. in seiner Spätschrift Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand. Die Schrift stellt die wissenschaftlich-psychologische Frage, was der Mensch ist und wie wir zur Erkenntnis kommen. Wie zum Wissen?

Er schreibt:

„Eben hierin unterscheiden sich die Erkenntnisse der Menschen von den Tieren. Die Tiere sind nur auf Erfahrung angewiesen und richten sich nur nach Beispielen. Sie kommen niemals dahin, notwendige Sätze zu bilden, während die Menschen zu demonstrativen Wissenschaften fähig sind. Daher kommt es, daß es den Menschen so leicht ist, Tiere zu fangen und daß die einfachen Empiriker so leicht Irrtümer begehen. Denn die Vernunft allein ist im Stande sichere Regeln aufzustellen.“

Voltaire

Der französische Philosoph Voltaire, zeitlebens Anhänger des britischen Liberalismus, war ein erklärter Gegner von Leibniz, beherrschte den Berliner Königshof, die Salons und den König selbst. Lessings Freund Moses Mendelssohn nannte Voltaires Treiben kurzerhand „Afteraufklärung“, denn seine Worte von „Aufklärung“, „Vernunft“ und „Toleranz“ waren hohl und verlogen. Keineswegs ging es ihm um die Verbesserung der Sitten und Tugend. Sein Schlachtruf war: Befreiung vom Korsett der Moral.

Voltaire beherrschte den Berliner Königshof, die Salons und den König selbst. Das Bild zeigt die Tafelrunde König Friedrichs des Großen im Marmorsaaal des Schlosses Sanssouci. Friedrich II. hinten in der Mitte, wendet sich links Voltaire zu, der auf dem zweiten Stuhl links vom König sitzt. Gemälde von Adolph Menzel.

Entgegen der heutigen Meinung war Voltaire frech und skrupellos, führte ein zielloses Gesellschaftsleben und amüsierte die Salons mit schamlosem Witz. Für die soziale Notlage der Juden, die als Ausgestoßene und Verbannte im Getto lebten, rührte er keinen Finger.

Nur ein kleiner Teil der Juden, hauptsächlich die, die zum Christentum übergetreten waren, erhielten das Schutzrecht des Staates. Wäre es nicht fortschrittlich gewesen, wenn der Aufklärer Voltaire sich für ihre Bürgerrechte eingesetzt hätte, wie es der österreichische Kaiser Josef II. 1763 tat? Stattdessen führte er einen schmutzigen Prozeß gegen den Juden Hirsch. Mit Geschick verstand er es, seine Finanzen aufzubessern und soll sogar Geld in die französische East-India Company und in Sklaventransporte gesteckt haben, wie in das Schiff „Le Saint Georges“, welches Cadiz 1751 nach Guinea verließ.

Er verfaßte ein lächerliches Theaterstück, Candide, das sich gegen Leibniz‘ philosophische Erkenntnis einer harmonischen Ordnung als „der besten aller möglichen Welten“ richtete. Mit Candide wollte er diese in den Dreck ziehen und dem Gespött preisgeben, eine Story, die den „Denver Clan“ von Hollywood vorwegnahm. Der Romanheld „Candide“ begegnet allen Lastern dieser Welt sowie Verrat, Untreue, Verfolgung, Mord und Krieg. Selbst ein Erdbeben wird herbeizitiert. Alle Verbrechen werden aufeinandergestapelt als Beweis, daß die beste aller möglichen Welten ein Hirngespinst sei. Candide ist und bleibt ein Tölpel den ganzen Roman hindurch. Der Autor Voltaire amüsiert sich regelrecht, wie sein Dummkopf verdroschen, betrogen und mißhandelt wird und offenbart so die Sichtweise der Bourgeoisie, die den Untertan als dummes Wesen ansieht.

Fabeln als Waffe

Lessing, der zeitlebens ein Anhänger von Leibniz war, wie im übrigen auch Lyndon LaRouche, sah sich durch solch mächtige Gegner in Staat und Kultur herausgefordert. Anstatt über die feudale Erniedrigung des Volks zu lachen, versuchte er dessen Kreativität zu wecken. Er entdeckt die Fabel wieder, die mit kurzen, eigenwilligen Geschichtchen den Spott gegen die Oligarchie richtet.

Die Fabeln besitzen Charme, da sie spielerisch die Sitten der Tiere den Gewohnheiten der Menschen angleichen. Aber das wichtigste ist die Ironie, die das Schöpferische im Menschen provoziert. So drückt die Fabel Kreativität und Vernunft aus und kann selbst ein in Leibeigenschaft und ärmsten Zuständen lebendes Volk zum Lachen bringen.

Die Pointe ist aber oft nicht sofort ersichtlich wie bei einem Witz. Die Fabel „erzwingt“ das Nachdenken, weil sie den Leser gedanklich verfolgt. Ihr Charme überspielt ihre klassische wissenschaftliche Komposition.

Jede Fabel handelt in der oligarchischen Welt und besitzt einen Gedankenbruch, der nicht überlesen werden darf, wie die zwei folgenden Beispiele zeigen.

Die Wasserschlange

Zeus hatte nunmehr den Fröschen einen andern König gegeben; anstatt eines friedlichen Klotzes, eine gefräßige Wasserschlange. Willst du unser König sein, schrien die Frösche, warum verschlingst du uns? – Darum, antwortete die Schlange, weil ihr um mich gebeten habt. – Ich habe nicht um dich gebeten! rief einer von den Fröschen, den sie schon mit den Augen verschlang. – Nicht? Sagte die Wasserschlange. Desto schlimmer! So muß ich dich verschlingen, weil du nicht um mich gebeten hast.

Der Wolf und das Schaf

Der Durst trieb ein Schaf an den Fluß; eine gleiche Ursache führte auf der anderen Seite einen Wolf dazu. Durch die Trennung des Wassers gesichert und durch die Sicherheit höhnisch gemacht, rief das Schaf dem Räuber hinüber: Ich mache dir doch das Wasser nicht trübe, Herr Wolf! Sieh mich recht an; habe ich dir nicht vor sechs Wochen nachgeschimpft? Wenigstens wird es dein Vater gewesen sein!

Der Wolf verstand die Spötterei; er betrachtete die Breite des Flusses und knirschte mit den Zähnen. Es ist dein Glück, antwortete er, daß wir Wölfe gewohnt sind, mit euch Schafen Geduld zu haben; und ging mit stolzen Schritten weiter.

Lessing spielt mit der falschen Annahme des Lesers oder des Schafs.

Die Religionskrieger

Allerdings war die sogenannte Aufklärung nicht die einzige Fessel, die über Deutschland lag. Auf der konservativen Seite traf Lessing auch auf die dogmatische Engstirnigkeit der Kirche. Für sie hatte der Religionskrieg nicht aufgehört. Lessing versuchte zu mäßigen:
„Der Buchstabe ist nicht der Geist, und die Bibel nicht die Religion“.

Ein seltenes, wortgewaltiges Exemplar von Fanatismus war der Hauptpastor Goeze von Hamburg. „Er schleppe seine Gläubigen an den Haaren in den Himmel“, spotteten seine Zeitgenossen. Lessing sah in ihm einen Abraham à Santa Clara, der Bußpredigten von der Kanzel schleuderte und alle Tage Fegefeuer und Verdammnis predigte. Lessing schrieb:

„Es wundert mich, daß ein so belesener Mann wie Goeze nicht begreifen will, wie er mit seinen bitterbösen Texten und seinen grimmigen, oftmals selbstgemachten Gesangbuchversen um Jahrhunderte zu spät gekommen ist.“

Der Hauptpastor von Hamburg Johann Melchior Goeze, fanatischer Gegner Lessings.

Goeze ließ in seiner Kirche jenes Bußlied aus dem umstrittenen Hamburger Gesangbuch singen, das viel Ärger erregte, an dem er aber verbissen festhielt:

„Du wirst vor Stank vergehen
wenn du dein Aas wirst sehen
dein Mund wird lauter Gall`
und Höllenschwermut schmecken –
des Teufels Speichel lecken
und fressen Kot im finstern Stall“

Seine Besucher sollten den Schrecken bis in den Schlaf und Traum fühlen. Zwischen Lessing und Goeze kam es zum theologischem Streit und schließlich zu unversöhnlicher Feindschaft. Der Oberpastor zog alle Register, um sich seines scharfzüngigen und überlegenen Gegners zu entledigen, und erwirkte schließlich eine Knebelung: Lessing unterlag von nun an der Vorzensur.

Es gab nur ein Mittel, mit dem er sich wehren konnte, er mußte die Vernunft der Kunst zu Rate ziehen. Anstatt die Menschen zu ängstigen und zu unterdrücken, sollte das Gute in ihnen die Oberhand gewinnen. Die Poesie hatte zum Angriff überzugehen. Aber würde man ihn auf „seiner Kanzel, dem Theater, wenigstens predigen lassen?“

Nathan der Weise

Mit Nathan der Weise gelingt Lessing eine Meisterwerk von Humanität und Schöpferkraft, ein Werk, das vom Sockel steigt und den Parteienstreit schlichtet. Denn sowohl die sogenannten Aufklärer als auch die orthodoxen Eiferer waren unfähig und nicht nur unwillig, die Spaltung der Gesellschaft zu überwinden.Was behinderte sie? Worin lag ihr Mangel? Beide pflegten mehr eitle Eigenliebe als Liebe zur Menschheit. Jeder dünkte sich im Besitz der Wahrheit zu sein: die Orthodoxen nannten die Wahrheit „den rechten Glauben“, die anderen, die Aufklärer, glaubten im „Besitz der Vernunft“ zu sein.

Für Lessing hingegen war die „Suche nach der Wahrheit und die Aufrichtigkeit, mit der man sucht, wichtiger, als der vermeintliche Besitz“. Glaube und Vernunft, die scheinbaren Gegensätze, müßten auf einer höheren Ebene vereinbar sein, da die Welt kein Chaos sei, sondern „prästabilierte Harmonie“ besitze.

Bild: Wikipedia/Deutsche Fotothek
Szenenbild aus Lessings Nathan der Weise im Deutschen Theater Berlin 1945. Paul Wegener (rechts) als Nathan, Kai Möller als Sultan.

Lessing gelingt es, „die Idee in ein Bild“ zu verwandeln, und zwar so, daß die Idee im Bild immer unendlich wirksam und unerreichbar bleibt und, selbst in allen Sprachen ausgesprochen, doch unaussprechlich bliebe, wie J. W. Goethe bemerkt.

Unbemerkt hinter dem schlichten Märchen, also der Parabel mit den drei Ringen, schließt er Leibniz‘ Konzept der „Monade“ ein, wonach es im Menschen keine Trennung von „außen“ und „innen“ gibt. Der Mensch als Einheit ist mit einer „tätigen Seele“ geboren, die schöpferisch frei wirken und das Unvollkommene verbessern könne. Das sah er als „die beste aller Welten“ an.

Der Mensch als Mikrokosmos gestaltet den Makrokosmos der Welt und der Gesellschaft. Das Übel der Welt führt dann nicht mehr dazu, mit dem Schicksal zu hadern, sondern es zum Guten zu verändern. Darum dürfe das Drama auf keinen Fall eine Geschichtsschreiberrolle einnehmen, sondern müsse Reproduktion des Weltganzen sein, denn „was in der Welt durch eine Überfülle an Erscheinungen nicht mehr sichtbar zu werden vermag, daß alle ihre Erscheinungen in einer in Gott gegründeten Ordnung zusammenhängen, das vermag das Drama durch seine perspektivische Verkürzung zu erreichen“.

Der Inhalt in Kürze: Wir werden nach Jerusalem ins 12. Jahrhundert zur Zeit der Kreuzzüge versetzt. Zwischen den drei Religionen Judentum, Christentum und Islam herrscht eine Art Waffenstillstand, obgleich man sich mißtrauisch beäugt. Der Konflikt bricht erneut auf: Der Jude Nathan soll auf dem Scheiterhaufen verbrannt werden. Die Anklage: er habe ein christliches Findelkind, das ihm zugetragen wurde, wie sein eigenes erzogen. Der christliche Patriarch besteht auf Verbrennen. Es kommt zum Verhör, das der moslemische Herrscher Saladin führt. Er befiehlt, Nathan müsse unverzüglich auf die Frage antworten, was die wahre Religion sei, ob Islam, Judentum oder Christentum. Um sein Leben zu retten, trägt er die Ringparabel vor.

„Vor grauen Jahren lebt eine Mann im Osten,
der einen Ring von unschätzbarem Wert
aus lieber Hand besaß.“

„Du hörst doch Sultan?“, fragt Nathan.

Schließlich kommt der Ring auf einen Vater mit drei Söhnen. Um keinen zu benachteiligen, da er alle drei gleich liebt, läßt er zwei Kopien anfertigen, die dem Original vollkommen gleichen. Der Vater stirbt, es kommt zum Streit, weil jeder der Söhne schwört, den echten zu besitzen. Auch der Richter kann kein Urteil fällen, da alle Ringe gleich scheinen. Aber er rät, ein ehrlicher Wettstreit unter ihnen solle den Beweis erbringen, dann zeige sich, wer den andern an Sanftmut, Verträglichkeit und Wohltun überbiete.

Und er kommt zu dem wohlbedachten Schluß:

„und wenn sich dann der Steine Kräfte
bei euren Kinder-Kindeskindern äußern
so lad ich über tausend Jahre
sie wiederum vor diesen Stuhl. Da wird
ein weiserer Mann auf diesem Stuhle sitzen
als ich und sprechen. Geht.“

Die Ringparabel entwaffnet den Religionsstreit wie der Westfälische Frieden die Kriegsparteien entwaffnet hatte.

Lessing verwendet viel Mühe, den Text immer wieder zu verbessern, zu ergänzen, und er erfüllt ihn mit dem Geist seiner Humanität. Das Gleichnis des Rings (das er von Boccaccio aus dessen Buch Decamerone entnommen hatte) erfährt eine minimale Veränderung mit großer Wirkung: Die Magie des Rings wird ersetzt durch den Willen, Gutes zu tun („wer in dieser Zuversicht ihn trägt“), und wird damit zur Kraft mit zivilisationsgestaltender Bedeutung.

Mittels der poetischen Parabel des Rings überwindet Lessing die künstliche Trennung zwischen der Erscheinung des Ringes, der „Außenwelt“, und dem Glauben, am meisten vom Vater geliebt zu sein, der „Innenwelt“: die menschliche Tätigkeit, das Gute zu tun, die Liebe zur Menschheit.

Die Idee der Schönheit, die Friedrich Schiller als notwendige Bedingung für jedes Kunstwerk fordert, blitzt auf. Der unlösbare Streit, die Echtheitsprobe der Ringe wird in die Zukunft verlegt und in einen sittlichen Wettstreit umgewandelt. Aber der neue Wettstreit ist nicht mehr als Kampf gegeneinander zu verstehen, sondern einer musikalischen Fuge vergleichbar, wo das Thema sich verändert, bereichert, aber immer als Einheit vorwärts strebt oder wie das Licht, das durchdringt aber nicht verdrängt. Lessing schrieb:

„Noch kenne ich keinen Ort, wo dieses Stück aufgeführt werden könnte. Aber Heil und Glück dem, wo es zuerst aufgeführt wird.“

Lessing gibt uns einen Fingerzeig, wie wir unsere Konflikte auch heute zwischen Staaten überwinden können, statt in neue Kriegstrunkenheit zu verfallen.