Operation Ibn Sina – Die Krise der Menschheit lösen

Mit dem folgenden Artikel beginnen wir eine Reihe von Beiträgen in loser Folge, die sich insbesondere an Jugendliche richten, denn ohne das Wissen um die bahnbrechendsten Entwicklungen der Menschheitsgeschichte kann man auch keine Visionen für die Zukunft entwickeln. Wir geben hier die Rede wider, die Helga Zepp-LaRouche auf einer internationalen Jugendkonferenz des Schiller-Instituts am 15. Januar 2022 gehalten hat.


Bild: Wikipedia
Statue des Ibn Sina (Avicenna) im Gelehrten-Pavilion in der Wiener UNO-City.

Ich möchte darstellen, warum die Berufung auf Ibn Sina – im Westen allgemein als Avicenna bekannt –, einer der geistigen Giganten der Weltgeschichte, der geeignetste Weg ist, um die Existenzkrise der Menschheit, mit der wir heute konfrontiert sind, zu lösen.
Seit fast zwei Jahren leben wir in einer völlig außer Kontrolle geratenen Pandemie. Covid-19 hätte nicht die tödlichen Folgen gehabt, wenn die reichen Länder in dem Bewußtsein gehandelt hätten, daß man eine Pandemie nur lösen kann, wenn jedes einzelne Land über ein modernes Gesundheitssystem verfügt. Es hilft niemandem, wenn Impfstoffe in einigen Ländern gehortet werden und die Entwicklungsländer leer ausgehen. Das Ergebnis ist genau das, was passiert ist: Es entstehen Mutationen – Delta, Omikron, und wer weiß, wie viele solcher Mutationen noch kommen werden.

Ibn Sina, die überragende Persönlichkeit des 11. Jahrhunderts, steht mit seinem weitsichtigen medizinischen Konzept für den Kampf gegen die Ausbreitung von Seuchen und für den Aufbau eines neuen Weltgesundheitssystems.

Deswegen meine dringende Bitte an Sie, die jungen Menschen: Wir müssen eine Kraft schaffen, um Gerechtigkeit auf dem Planeten herzustellen. Dazu gehört zuerst die Änderung der öffentlichen Meinung in Bezug auf Afghanistan. Es gibt Leute, die sagen, die Taliban müsse den Frauen erst bestimmte Rechte zugestehen, bevor man ihre Regierung anerkennt. Das ist das scheinheiligste Argument, das ich je gehört habe: Wenn Frauen mit ihren Kindern verhungern oder erfrieren, ihnen keine Milch geben können, dann kann man die Frauenrechte vergessen, denn diese Frauen sterben gerade an Hunger, und ihre Kinder ebenso.

Vor allem wir im Westen haben die moralische Verpflichtung, bei der Lösung dieser Krise zu helfen, und das wäre sehr einfach. Die Vereinten Nationen haben dargelegt, was erforderlich ist, um den Tod von Millionen Menschen in Afghanistan zu verhindern. Es würden dafür nur 5 Milliarden Dollar benötigt – fünf Milliarden Dollar. Denken Sie an die Billionen von Dollar, die in den letzten Jahren zur Rettung des Bankensystems aufgewendet wurden. Denken Sie allein an den 760 Milliarden Dollar schweren Militärhaushalt der Vereinigten Staaten. Da wären fünf Milliarden Dollar die sprichwörtlichen „Peanuts“. Wir müssen weltweit eine Bewegung ins Leben rufen und so viel Druck auf die öffentliche Meinung ausüben, daß sofort ein umfassendes Hilfsprogramm gestartet werden kann.

Wer war Ibn Sina?

Ibn Sina (980–1037) war selbst im Westen bis zum 19. Jahrhundert sehr bekannt und bewundert. In der islamischen Welt ist er dagegen noch heute sehr lebendig – und das nicht nur wegen seiner Leistungen zur Metaphysik, zu den verschiedenen Wissenschaften, sondern insbesondere wegen seiner Beiträge zur Medizin. Er war einer der herausragendsten Ärzte der Weltgeschichte, zusammen mit den griechischen Ärzten Hippokrates und Galen.

Seine Berühmtheit drückt sich u. a. an den 30 verschiedenen Briefmarken aus, die zu seinen Ehren vor allem in der islamischen Welt herausgegeben wurden. Viele von Ihnen kennen vielleicht auch den 1986 erschienenen Roman Der Medicus des amerikanischen Autors Noah Gordon, worin Ibn Sina eine wichtige Rolle spielt. Es gibt auch einen darauf basierenden Hollywood-Film und ein Musical in Deutschland und Spanien.

Eine iranische Briefmarke mit dem Porträt Ibn Sinas und ein Geldschein aus Tadschikistan.

Wir sprechen hier nicht über eine obskure Person. Ibn Sina war ohne jeden Zweifel die zentrale Figur der islamischen Philosophie in der Periode, die als das Goldene Zeitalter des Islam bekannt ist. Es begann in Bagdad unter dem Kalifat der Abbasiden-Dynastie nach dem Zusammenbruch des Römischen Reiches. Europa versank damals in einem dunklen Zeitalter. Alle großen Schätze der griechischen Klassik gingen im wesentlichen verloren, weil die Römer den herausragenden Beiträgen des klassischen Griechenlands keine Aufmerksamkeit schenkten. Rom stieg schnell zu einem Imperium auf, das kein Interesse an den intellektuellen Früchten dieser Epoche hatte.

Im Gegensatz dazu haben die Kalifen von Bagdad – al-Mansur, al-Ma’mun und andere – nach dem Zusammenbruch des Römischen Reiches durch eine unglaubliche Anstrengung das Wissen gerettet, das in Europa völlig in Vergessenheit zu geraten drohte, indem sie Abgesandte in alle europäischen Länder und die Länder rund um das Mittelmeer schickten. Alle wichtigen Texte der ursprünglichen Denker und Entdecker sollten aufgespürt und in Gold aufwogen werden. Bagdad war zu diesem Zeitpunkt – das war etwa 750 nach Christus – weltweit die Stadt mit den meisten Büchern und den meisten Wissenschaftlern. Sie war die Hauptstadt des Fortschritts der Welt.

Vor allem die Texte der klassischen griechischen Philosophie und Wissenschaft wurden übersetzt und waren in der gesamten arabischen Welt und auch in Persien sehr bekannt. Zu dieser Zeit war die islamische Welt viel, viel weiter fortgeschritten als Europa, das sich wirklich in einem schrecklichen Zustand befand.

Ibn Sina, der an der Spitze dieses Prozesses stand und alle griechischen Texte in der Übersetzung in sich aufnahm, soll die Metaphysik des Aristoteles vierzig Mal gelesen haben. Er sagte, daß er sie vierzig Mal nicht verstanden habe – was ich durchaus nachvollziehen kann, weil sie, offen gesagt, nicht viel Sinn ergibt. (Das ist nur meine Anmerkung dazu.) Aber er hat auch 2000 Jahre eurasischer Philosophie in sich aufgesogen, und er hat all dieses Wissen genutzt, um ein völlig unabhängiger Denker zu werden, ein origineller Denker, der Aristoteles und andere Denker wie al-Kindi, al-Farabi und viele andere kommentiert hat. Aber zu behaupten, er sei ein Aristoteliker gewesen, wie es in einigen Schriften heißt, ist völlig falsch. Man kann Friedrich Schiller auch nicht als Kantianer bezeichnen, nur weil er sich in seinen Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen und in anderen Schriften mit Kant beschäftigt hat.

Ein philosophischer Fortschritt

Ibn Sina kannte auch die Schriften der Neuplatoniker seiner Zeit, wie Proclos, der versuchte, Platon und Aristoteles miteinander zu versöhnen. Ibn Sina war also mit fast der gesamten philosophischen Tradition bis zu seiner Zeit vertraut.

Zudem war er ein unglaublich produktiver Schriftsteller. Er verfaßte mindestens 775 bedeutende Werke – viele davon sind nicht erhalten –, und er entwickelte seine Ideen sein ganzes Leben lang weiter, wie alle großen Denker es tun. Am berühmtesten ist sein wirklich revolutionäres Werk, sein Kanon der Medizin. Der Kanon umfaßt fünf Bücher, eine beispiellose, noch nie zuvor bekannte Enzyklopädie der medizinischen Wissenschaft, die viele Komponenten enthielt, auf die ich gleich noch eingehen werde. Aber er befaßte sich auch mit Naturwissenschaften, mit praktisch allen Wissensbereichen – Mathematik, Geometrie, Biologie, Geographie. Und er kannte sich auch in Poesie und Musik aus.

Er war eine Art Wunderkind, das mit nur 10 Jahren bereits den gesamten Koran auswendig kannte. Sein Vater engagierte für ihn einige der besten Lehrer der Rechtswissenschaft, des islamischen Rechts usw., und er lernte schneller als alle seine Lehrer. So wurde er zum Autodidakten, der sich alles selbst beibrachte.

Der Verlauf der Seidenstraße zur Zeit des Ibn Sina im 1. Jahrhundert nach Christus, an deren Route die Stadt Balch liegt.

Sein Vater stammte aus Balkh [dt. Balch] in der Nähe von Masar-e Scharif, das heute im Norden Afghanistans liegt. Nach der Eroberung der gesamten Region machte Alexander der Große den Ort Balkh zur Hauptstadt der Provinz Baktrien. Später zog sein Vater nach Afschana in der Nähe von Buchara, das heute in Usbekistan liegt, woher seine Mutter stammte. In diesem wichtigen kulturellen Zentrum lebten viele Historiker, Dichter und Wissenschaftler. Seine Familie war sehr gebildet, auch seine Mutter, so daß er in einem reichen sozialen Umfeld aufwuchs. Das alles kann man in seiner Autobiographie nachlesen, die Ibn Sina seinem Schüler Abu ‚Ubayd al-Juzjani diktierte.

Heutzutage gelten Afghanistan und Zentralasien als große Krisenregion, aber die Gegend um Baktrien war einst als das „Land der tausend Städte“ bekannt. Sie hat eine unglaublich reiche Geschichte, über die die Menschen im Westen fast nichts wissen.

Über die Genesung der Seele

Ich möchte mit Ibn Sinas wichtigstem Werk, der Metaphysik, beginnen. Er nannte die Metaphysik die Genesung der Seele, denn er stellte sich vor, daß das, was die Philosophie für den Geist die Medizin für den Körper ist – nämlich Heilung. In seiner metaphysischen Abhandlung beschäftigt er sich mit der Unsterblichkeit der Seele, einer Frage, mit der sich praktisch alle Philosophen der Antike befaßten. Was ist die Seele? Haben die Menschen unsterbliche Seelen? Stirbt die Seele zusammen mit dem Körper? Haben die Menschen individuelle Seelen? Haben sie Anteil an einer Weltseele? Das waren sehr grundsätzliche Fragen, und es ist erstaunlich, daß bei den Menschen heutzutage, sowohl alt als auch jung, sehr wenig Interesse daran zu bestehen scheint, sich mit der Seele und der Schönheit der Seele zu befassen. Dabei denke ich, daß die Seele der Ort ist, wo sich unsere Identität befindet.

Vor Ibn Sinas Zeit betrachtete Aristoteles die Seele als Entelechie, was im Grunde bedeutet, daß die Seele der Vervollkommnung des Körpers zum potentiell vollkommensten Seinszustand diene. Aber die Seele ist laut Aristoteles nicht vom Körper getrennt, d. h. wenn der Körper stirbt, verschwindet auch die Seele.

Platon hingegen war der Meinung, daß es nicht nur eine menschliche Seele gibt, sondern daß die Welt insgesamt eine Seele hat, also auch die Tiere und Pflanzen. Das ganze Leben lang schwankt sie zwischen dem Intellekt – denn die Seele strebt danach, immer geistiger zu werden – und den Sinnen, weil die Seele an beidem teilhat. Die Seele ist immer in Bewegung, d. h. sie ist ein sich selbst bewegender Prozeß, und deshalb ist sie unsterblich und unzerstörbar. Und es ist die Seele, die dem Körper Leben einhaucht, und der Tod bedeutet die Trennung der Seele vom Körper.

Im Dialog Phaidon entwickelt Platon die Idee, daß die Seele schon vor der Geburt eines Menschen existiert. Wenn ein Kind geboren wird, heftet sich die Seele an den Körper und existiert dann nach dem Tod weiter. Für Plotin, einen neuplatonischen Philosophen, der 270 nach Christus starb, ist die Geburt der Moment, in dem sich die Seele von der universellen, bereits existierenden Seele trennt und sich in dieser besonderen Person individualisiert. Während des gesamten Lebens muß die Seele darum kämpfen, nicht in den reinen Genuß der Sinnesfreuden abzugleiten, sondern sich auf die Ebene der Philosophie und des Intellekts zu erheben und niemals in die materielle Welt hinabgezogen zu werden.

Ein Gedankenexperiment

Ibn Sina verwendet bei seinen Überlegungen über die Seele und das Selbstbewußtsein des Individuums ein sehr faszinierendes Gedankenexperiment, um sich dieser Idee zu nähern. Man nennt dies das Bild des „schwebenden Menschen“.

Er sagt: Stellen Sie sich einen erwachsenen Mann vor, etwa 30 Jahre alt, der sich plötzlich aus dem Nichts im Erwachsenenalter befindet. Er hat weder eine Erinnerung an seine Vergangenheit noch an seine Kindheit; er ist einfach plötzlich da. Er schwebt in einem leeren Raum in der Luft, ohne den Boden oder die Wände zu berühren. Die Raumtemperatur entspricht in etwa der Temperatur seines Körpers, so daß er keine sinnliche Empfindung über seine Haut hat. Seine Beine und Arme sind ausgestreckt, er hat keinen Tastsinn, er hat kein Gefühl für Berührungen. Seine Augen sind verbunden, seine Ohren sind bedeckt. Er kann weder sehen noch hören, er kann weder riechen noch schmecken. Er schwebt in der Luft in völligem Sinnesentzug.

Dann stellt Ibn Sina die Frage: Ist dieser Mann sich seiner selbst bewußt? Er kommt zu dem Schluß, daß ein solcher erwachsener Mann, der über sein volles geistiges Vermögen verfügt, aber von seinen Sinnen getrennt ist, sich seiner absolut bewußt sei. Und weil der Mensch in diesem Gedankenexperiment von den Sinnen getrennt ist, bedeutet das, daß die Seele nicht von materiellen Bedingungen abhängig ist.

Auf diese Weise versucht Ibn Sina die jahrhundertealte Frage zu lösen, was die Seele ist und ob sie eine vom Körper getrennte Existenz hat. Seine Antwort lautet eindeutig: „Ja“. Dieser Mensch hat ein Gefühl von sich selbst. Er ist nicht von Sinnesempfindungen abhängig. Seine Seele existiert getrennt vom Körper, und natürlich überlebt eine solche Seele, die immateriell ist, nach seinem Tod. Ibn Sina schreibt in der Metaphysik:

„Es ist die erkennende Kraft der Seele, daß sie denkt, und weiter, daß sie über ihr eigenes Denken reflektierend nachdenkt, und daß sie über diese zweite Ordnung des Denkens wiederum reflektierend nachdenkt, und dadurch Beziehungen zu anderen aufbaut. Sie bildet so in einem Gegenstande verschiedene Verhältnisse, nämlich Proportionen, die, ihrer Kraft nach, kein Ende haben. Es ist also notwendig, daß diese geistigen Formen des Erkennens, die aufeinander folgen, kein letztes Glied, buchstäblich keinen Stillstand haben, mit der notwendigen Folge, daß man ohne Ende fortschreitet.“

Bild: Wikipedia/Bertramz
Zentrale Halle des Krankenhauses von Divrigi (Türkei), erbaut im Jahre 1228.

Auf diese Weise entsteht ein Selbstbewußtsein über den eigenen selbstbewußten Denkprozeß. Bei unserer „Operation Ibn Sina“ gehen wir von genau diesem Menschenbild aus: Jeder Mensch hat von sich die Vorstellung eines schöpferischen Menschen und besitzt einen absoluten Wert.

Der Kanon der Medizin

Warum ist Ibn Sina das Vorbild, die großen humanitären Krisen in der Welt zu lösen?

Als in Wuhan Ende 2019 die ersten Fälle von Covid-19 auftraten, hat China die Stadt mit 15 Millionen Einwohnern sowie die gesamte umliegende Provinz abgeriegelt und unter strenge Quarantäne gestellt. Im Gegensatz zu den westlichen Regierungen mit ihren liberalen Werten wurden alle notwendigen Maßnahmen wie Kontaktnachverfolgung und Isolierung ergriffen. Im Westen sieht man die Folgen der Unterlassung: In den Vereinigten Staaten sind 900.000 Menschen, allein in Deutschland sind 115.000 Menschen an COVID-19 gestorben. In China waren es nicht einmal 5000 Tote, bei einer Bevölkerung, die mehr als viermal so groß ist wie die der Vereinigten Staaten und mehr als zwölfmal so groß wie die Deutschlands.

Was war somit die wirksamste Maßnahme gegen die Pandemie? Quarantäne. Wer hat das Konzept der Quarantäne ursprünglich entwickelt? Ibn Sina. Er erkannte, daß eine 40tägige Isolierung die beste Methode ist, um die Ausbreitung von Infektionen wie der Pest zu verhindern.

Der Universalgelehrte al-Biruni, Teil des Gelehrten-Pavilions in der Wiener UNO-City.

Die folgenden Zitate stammen aus einem alten sowjetischen Film von 1956, der jetzt in Usbekistan im Umlauf ist.

„COVID-19 stellt eine der größten Herausforderungen dar, vor denen die Menschheit im 21. Jahrhundert steht. Vor über 10 Jahrhunderten entschlüsselte der Vater der modernen Medizin und Universalgelehrte Ibn Sina das Wesen von Epidemien. Er erörterte dies in seinem bahnbrechenden Kanon der Medizin. Einst besuchte Ibn Sina, der in Buchara geboren wurde, einen anderen Universalgelehrten namens al-Biruni in seiner Urganch-Akademie in Khwarezm.

Ibn Sina: As-salamu alaykum.
Wächter: Wa alaykumu s-salam.
Ibn Sina: Wo ist die Akademie des angesehenen al-Biruni?
Wächter: Der große Gelehrte al-Biruni lebt dort drüben.
Ibn Sina: Ich danke Ihnen.
Al-Biruni: Wer sind Sie?
Ibn Sina: Ich bin Ibn Sina.
Al-Biruni: Ibn Sina! Ich wollte Sie schon lange kennenlernen. Herzlich willkommen!
Ibn Sina: Lieber al-Biruni, als erstes müssen wir unsere Hände mit Essig waschen und unsere Kleidung wechseln.
Al-Biruni: Ist das die neue Praxis? Aus welchem Land kommt das?
Ibn Sina: Wo sich ansteckende Krankheiten ausbreiten und Menschen töten, müssen wir diese Praxis befolgen.
Al-Biruni: Willkommen. Dann laßt es uns tun. Kommt herein. Verehrter Ibn Sina, sagen Sie uns, können wir die Epidemie mit Hilfe der Wissenschaft bekämpfen?
Ibn Sina: Ja, das können wir. Zuallererst müssen wir die Menschen beruhigen. Sie dürfen keine Angst haben.
Akademiker: Panik ist die schlimmste Reaktion.
Ibn Sina: Genau, die Pest ist eine Krankheit, die durch kleine Erreger von Mensch zu Mensch übertragen wird. Sie breitet sich aus, wenn Menschen einander berühren. Diese Krankheit kann sich auch über Haare, Kleidung und Oberflächen verbreiten. Deshalb sollten sich die Menschen nicht in großen Mengen versammeln. Sie müssen sich auch von Kranken fernhalten. Für eine gewisse Zeit müssen wir Basare und Moscheen schließen. Die Gläubigen können eine Zeit lang zu Hause beten.
Akademiker: Die Moscheen schließen? Die Gebete unterbrechen? Einigen Leuten wird das nicht gefallen.

(Die Szene wechselt zu einem Basar im Freien.)

Mann auf einem Pferd: Leute! Haltet Abstand zueinander, die Krankheit breitet sich von Mensch zu Mensch aus. Verlaßt den Basar! Die Lebensmittelverkäufer sollen die Lebensmittel in die Häuser schicken und nicht auf dem Basar verkaufen. Dies ist der Rat von Ibn Sina. Reinigt eure Münzen mit Essig.
Stadtschreier: Leute! Geratet nicht in Panik, bleibt zu Hause. Kümmert euch um die Kranken, wascht eure Hände mit Essig. Kranke Menschen sollten in getrennten Räumen untergebracht werden. Leute! Versammelt euch nicht an einem Ort. Eine kranke Person kann 100 andere anstecken. Versammlungen in Moscheen sollten vermieden werden. Bitte betet zu Hause. Das ist der Rat von Ibn Sina. Wir können die Infektion bekämpfen.“

Bekanntes Wissen nutzen

Die Botschaft Ibn Sinas wurde ernst genommen. Heute dagegen demonstrieren die Anti-Vaxxer auf den Straßen, weigern sich, geimpft oder unter Quarantäne gestellt zu werden, und verbreiten alle möglichen Verschwörungstheorien über die Pandemie. Ich denke, es lohnt sich, an diesem Punkt darüber nachzudenken, was für einen unglaublichen Durchbruch die moderne Medizin gebracht hat. Und Ibn Sina war einer der ersten, der den Unterschied zwischen einer wissenschaftlichen Herangehensweise an die Medizin und den früheren, völlig abergläubischen Vorstellungen über medizinische Behandlungen aufgezeigt hat.

In den fünf Büchern seines Kanons der Medizin, der in Europa das Standardwerk der Medizin noch bis ins 19. Jahrhundert war, wurden die Anatomie des Körpers, die Funktionen der verschiedenen Organe, die Verbindung zwischen Muskeln, Nervensystem und Psyche ausführlich erörtert. Er enthielt eine vollständige Kategorisierung und listete die verschiedenen Krankheiten und Behandlungsmethoden auf. In das Werk floß das Wissen von Hippokrates und Galen ein, aber Ibn Sina fügte noch einige grundlegende neue Erkenntnisse hinzu – die Quarantäne ist nur eine von ihnen.

So erkannte er zum Beispiel, daß sich Infektionen durch winzige, unsichtbare Partikel verbreiten, unter anderem durch verunreinigtes Wasser und Erde. Er behandelte erstmals lebensbedrohliche Krankheiten mit Hilfe der Anästhesie, wie Krebs im Frühstadium, wobei er alle befallenen Gewebe entfernte. Er entwickelte eine Diagnosemethode für Diabetes, indem er die Zuckerkonzentration im Urin maß. Bei seinen Untersuchungen betonte er die Notwendigkeit, bei den Patienten auf das Alter, den Körpertyp, den emotionalen Zustand, die Eßgewohnheiten, den Lebensstil und die Bewegung zu achten. Er berücksichtigte sogar die Auswirkungen der Jahreszeiten auf den Körper und den Einfluß von kalter, trockener, warmer oder feuchter Luft.

Wikipedia
Die erste Seite einer Abschrift von Ibn Sinas Kanon der Medizin aus dem Jahre 1597/98.

Im Kanon der Medizin sind etwa 760 Arzneimittel aufgeführt. Allerdings warnte er davor, niemals ein unbekanntes Medikament zu verwenden, sondern es erst an Tieren und einzelnen Menschen zu testen. Er war sich der Beziehung zwischen Emotionen und dem physischen Zustand des Menschen absolut bewußt. Er prüfte, wie sich Musik auf den physischen und psychischen Zustand des Patienten auswirkt. Der Kanon war also ein sehr reichhaltiges Kompendium, das es in dieser Form noch nie gegeben hatte. Deshalb war es vollkommen berechtigt, daß Ibn Sina schon im Mittelalter als der Vater der modernen Medizin bezeichnet wurde. Er hat die medizinische Wissenschaft sowohl im Orient als auch im Okzident geprägt.

Für Ibn Sina war die Medizin jedoch nur eine der der vielen anderen Wissenschaften, die er betrieb.

Zur Metaphysik

Kommen wir nun zurück zu den tieferen Aspekten seiner Metaphysik. Metaphysik geht auf den griechischen Ursprung des Wortes meta ta physica zurück, was wörtlich bedeutet: das, was nach der Physik kommt, oder das, was über der Physik steht. Metaphysik kann man als die erste Philosophie bezeichnen oder auch als Ontologie, die die Frage nach dem Sein an sich stellt – esse, „Sein“, „Existenz“.

Alle Philosophen von der frühesten Zeit an, vor allem die alten Griechen, beschäftigten sich mit solchen grundlegenden Fragen: Warum gibt es uns? Warum gibt es überhaupt etwas? Wann hat die Existenz begonnen? War sie schon immer da?

Natürlich gaben die verschiedenen Philosophen und Schulen sehr unterschiedliche Antworten, und es war ein ständiger Kampf der Ideen um dieses Thema: Gibt es nur ein einziges Universum? Wann hat es begonnen? Diese metaphysischen Diskussionen waren für die Physik extrem wichtig, um die richtigen Fragen zu stellen und angemessene Hypothesen zu formulieren, die zu grundlegenden wissenschaftlichen Durchbrüchen führen können oder auch nicht.

Der Fortschritt in der Wissenschaft läßt sich tatsächlich auf eine bestimmte philosophische Tradition zurückführen, weil diese geeignet war, weiterführende Hypothesen aufzustellen. Mein verstorbener Ehemann, Lyndon LaRouche, hat mehr als jeder andere in der Geschichte der Philosophie und Wissenschaft dazu beigetragen, diese Frage zu beantworten. Aber das ist ein Thema für ein anderes Mal.

Diese philosophischen Fragestellungen gab es schon, bevor die Naturwissenschaften entwickelt wurden, und Ibn Sina verfolgte eine neue Konzeption, die weder bei Aristoteles und seinen Nachfolgern, den Peripatetikern, noch bei Platon und den Neuplatonikern nach ihm existierte. Dieses Konzept nannte er das notwendig Seiende. Er behauptet, es gebe nur ein einziges Seiendes; alles Seiende sei notwendig, aber dieses besondere Seiende sei das einzige, das aus sich selbst existiert. Alles andere sei auch notwendig, aber es existiere nicht aus sich selbst, sondern werde auf notwendige Weise durch dieses erste Prinzip erzeugt. Diese anderen nicht eigenständigen Existenzen nennt er kontingent. Das notwendig Seiende ist das schöpferische Prinzip, das über aller Schöpfung steht. Es kann kein zweites Seiendes schaffen, das zur gleichen Ebene der Existenz gehört wie es selbst. Es ist die letzte Ursache, die allem vorausgeht, was nur kontingent möglich ist.

Um es etwas konkreter auszudrücken: Sie und ich, wir sind offensichtlich kein notwendig Seiendes, sondern wir sind kontingent, weil wir eine Ursache brauchen. Diese Ursache waren im wesentlichen unsere Eltern, die heirateten und sich liebten, und schließlich wurden wir dadurch verursacht, aber wir sind nicht ohne eine Ursache.

Ibn Sina fragt also, da alles eine Ursache hat, was steht hinter dieser Ursache? Eine andere Ursache. Und hinter dieser Ursache noch eine weitere Ursache, und so weiter und so fort. Hinter diesem scheinbar endlosen Kreislauf von Ursache und Wirkung muß es eine letzte Ursache geben, die die rationale Ordnung im Universum bestimmt. Und wenn es eine Ursache gibt, die alle anderen hervorbringt, dann muß diese Ursache von einer höheren Realität sein als alle ihre Wirkungen.

Über die Schöpfung

Durch seine philosophischen Überlegungen kommt Ibn Sina zu dem Schluß, daß die Schöpfung nie „begonnen“ hat, weil die Welt seit Ewigkeit existiert; denn wenn es ein notwendig Seiendes gibt, das nur durch die Kraft seiner Natur existiert, dann existiert es weder zufällig noch in kontingenter Form. Vielmehr ist die einzige Eigenschaft des notwendig Seienden, daß es vollkommen ist. Es das unbegrenzte Gute. Es ist selbstlose Nächstenliebe. Durch die Erschaffung der Welt strahlt es seine Güte und Liebe aus. Deshalb beginnt diese höchste Seinsform nicht zu einem bestimmten Zeitpunkt mit der Schöpfung, denn sie ist das unendlich Gute. Sie wartet nicht bis zu einem bestimmten Zeitpunkt, an dem sie zu erschaffen beginnt. Sie ist unwandelbar. Sie ist keine Potentialität, die irgendwann beschließt, den Schöpfungsprozeß zu beginnen.

Ibn Sina sagt, es mache keinen Sinn, daß das höchste Seiende zunächst untätig ist und dann plötzlich beschließt, mit seiner schöpferischen Tätigkeit zu beginnen. Für eine solche Möglichkeit gibt es keinen Grund, denn das notwendig Seiende ist die einzige Existenz und ist deshalb auch unveränderlich. Was wäre der Grund dafür, daß es plötzlich seine schöpferische Tätigkeit aufnimmt? Es macht auch keinen Sinn anzunehmen, das notwendig Seiende habe es schon vor der Schöpfung gegeben, denn das würde voraussetzen, daß es nur vorübergehend ist, während es sich doch außerhalb aller Zeit befindet. Seiner Ansicht nach existiert die Welt daher in Ewigkeit als eine ständige Offenbarung der Güte und Barmherzigkeit des Schöpfers, Allahs.

Das notwendig Seiende als das erste Seiende kann nicht eine Vielzahl sein. Es ist einfach und es ist nicht materiell. Es ist wie das Bewegungsprinzip vollkommen geistig-spirituell. Und Allah erschafft nicht alle niederen Seinsformen. Er erschafft die höheren Formen von Intelligenzen, die dann andere Intelligenzen erschaffen, die wiederum weitere Intelligenzen erschaffen, was eine Progression zu niedrigeren Ebenen der Vollständigkeit beschreibt, je weiter sie sich voneinander entfernen. Dennoch ist Gott in allen Formen der Schöpfung präsent, entweder direkt, wie bei der Erschaffung der ersten Intelligenz, oder indirekt, wie bei allen anderen Schöpfungen.

Das Böse existiert zwar, aber es liegt nicht in der Absicht des Schöpfers. Das Böse ist ein Mangel an etwas, und das Individuum hat den freien Willen, verantwortungsvoll zu handeln, um sein eigenes Schicksal und seine Zukunft zu gestalten.

Diese Schöpfungstheorie ist das grundlegend Neue in der Metaphysik von Ibn Sina. Sie unterscheidet sich sehr von Aristoteles und auch von den Neuplatonikern, denn sie impliziert, daß Gott seine Schöpferkraft auf seine Geschöpfe, nämlich die Menschen, übertragen hat. Das ist der Hauptgrund, warum Ibn Sina als islamischer Philosoph bei vielen europäischen Denkern des Mittelalters weitgehend akzeptiert, aber von einigen islamischen Philosophen wie al-Ghazali und Averroes (Ibn Rushd) bekämpft wurde. In Europa wurden seine Werke im 12. Jahrhundert sofort ins Spanische und Lateinische übersetzt. Avicenna, wie Ibn Sina nun in Europa hieß, wurde von Philosophen wie Thomas von Aquin 400mal in seinen Werken zitiert, auch bei Albertus Magnus, in den Übersetzungsschulen von Toledo in Spanien sowie in der Ära Friedrich II. von Hohenstaufen in Sizilien tauchte er regelmäßig auf.

Brücke zwischen Islam und Christentum

Auch die Kirchenväter fanden in seiner Philosophie große Verwandtschaft zu Augustinus. Der französische Philosoph und Historiker Etienne Gilson (1884–1978) prägte sogar den Begriff des l’augustinisme avicennisant. Das ist sehr faszinierend, denn Augustinus, der von 354 bis 430 nach Christus lebte und eine bestimmte christliche Tradition in Europa begründete, bestand darauf, daß es keinen Widerspruch zwischen Glauben und Wissen gibt, im Gegensatz zu jener Auffassung, nach der nur die Offenbarung zählt, also der vom Wissen völlig getrennte Glaube. Als Beweis dafür verwies Augustinus auf Platon (428–384 vor Christus), der bereits fast vier Jahrhunderte vor Christus zu den gleichen Schlußfolgerungen über die Schöpfung des Universums und die Natur des Menschen gekommen war. Deswegen, so Augustinus, könne man sowohl durch die Offenbarung als auch durch Philosophie und Wissen zu dem gleichen Ergebnis gelangen.

Bild: Wikipedia
Augustinus von Hippo, Gemälde von Carlo Crivelli, ca. 1487/88, National Museum of Western Art, Tokio.

Das ist eine sehr wichtige Tradition, denn durch sie wird Vernunftdenken möglich, welches viele große Philosophen und Wissenschaftler auszeichnet – wie Kepler, der ein tief religiöser Mensch war, oder Nikolaus von Kues und viele andere – im Gegensatz zu denjenigen, die darauf bestanden, man müsse ein Materialist sein, um zu dieser Ansicht zu kommen.

Wilhelm von Auxerre, Magister der Theologie in Paris im 13. Jahrhundert, war ein typischer Vertreter dieses augustinischen Avicennismus. Er beschäftigte sich intensiv mit der Idee der göttlichen Offenbarung, wie sie sich in Avicennas Spekulationen über die Rolle des Intellekts im fortgesetzten Schöpfungsprozeß ausdrücken. Mit anderen Worten: Es gibt keinen Gott, der die Welt erschaffen hat und der dann passiv wird, sondern es ist das ständige Eingreifen des aktiven Intellekts, der den Schöpfungsprozeß immer weiter vorantreibt.

Faszinierend ist auch, wie Dante Alighieri (1265–1321), der Begründer der italienischen Sprache, dessen 700. Geburtstag wir im letzten Jahr gefeiert haben, in seiner wunderschönen Schrift Convivio (Festmahl), Avicenna ausführlich zu Wort kommen läßt. In seiner Commedia, so der Dante-Experte Rudolf Palgen, hat Dante dem Kosmos des Avicenna eine poetische Existenz verliehen. Die gesamte Konzeption der Commedia sei eine außergewöhnliche poetische Komposition, die die Faszination mit der Idee einer himmlischen, aktiven Intelligenz widerspiegele, so der Experte. Die Verdammten im Inferno, in der Hölle, sind diejenigen, die il ben del intelletto verloren haben – das Vermögen des Intellekts, das höher ist als der Verstand, so daß Sinne, Verstand und Vernunft voneinander getrennt sind. Die Menschen in der Hölle haben somit dieses höhere Vermögen des Intellekts nicht mehr. Sie mögen noch Verstand haben, denn auch böse Menschen können noch Verstand haben, aber sie sind in der Hölle, weil ihnen genau diese höchste Qualität des schöpferischen Denkens, wie man es heute nennen würde, abhanden gekommen ist.

Die Goldene Renaissance

Ein anderer, der von Avicenna fasziniert war, ist Marsilio Ficino, Lehrer an der Platonischen Akademie in Florenz. Sie hat eine entscheidende Rolle in der italienischen Renaissance gespielt, denn durch sie wurden die Ideen Platons wiederbelebt, die 1.700 Jahre lang in Europa verschollen waren. Nikolaus von Kues und seine Freunde in der griechisch-orthodoxen Kirche brachten Platons Werke nach Italien, als sie zum Konzil von Florenz kamen. Ficino nannte Avicenna „den Göttlichen“. Schon zuvor hatte Nikolaus von Kues Avicenna in seinen Werken wiederholt erwähnt. In einer seiner frühesten Predigten, der Predigt Nummer Zwei, zitiert er Avicenna. Im zweiten Buch seiner Docta ignorantia und auch in der Apologia doctae ignorantiae, der Verteidigung der belehrten Unwissenheit, bezieht er sich immer wieder auf Avicenna.

Bild: Wikipedia/PaulineM
Statue von Marsilio Ficino, Villa Borghese.

Wenn Sie einmal nach Bernkastel-Kues kommen, was ich Ihnen nur empfehlen kann, könnten Sie das Glück haben, daß ich Sie dort durch das Cusanus-Stift führe, wo Sie sehen werden, daß Nikolaus in seiner Bibliothek viele Schriften des von ihm bewunderten Avicenna besaß.
Nikolaus stimmte mit Thomas von Aquin und seinen Überlegungen zu Avicenna darin überein, daß der menschliche Geist den transzendentalen Begriff des Seins vor der Konkretisierung der einzelnen Dinge als solche begreift. Mit anderen Worten, der Verstand verfügt über einen Sinn zum Erfassen des Seins, bevor er die konkreten Dinge als solche begreift.

Nikolaus hat sich auch in De pace fidei (Vom Frieden zwischen den Religionen), einem seiner schönen platonischen Dialoge darüber, wie eine Verständigung zwischen den verschiedenen Religionen möglich sein kann, in einem sehr wichtigen Verweis auf Avicenna bezogen, nämlich daß das Glück, das die Menschen im Paradies erfahren, Spiritualität ist. Das Glück, das man in der Erkenntnis Gottes und der Wahrheit findet – und nicht in den irdischen Freuden –, ist offensichtlich eine viel höhere Vorstellung von Glück, wie es auch einige Kommentatoren des Korans betonen.

Bild: Wikipedia/Sir Gawain
Bernkastel-Kues, Cusanusstift. „Wenn Sie einmal nach Bernkastel-Kues kommen, was ich Ihnen nur empfehlen kann, könnten Sie das Glück haben, daß ich Sie dort durch das Cusanus-Stift führe…“

In Cusas Vorstellung ist der Mensch ein Werkzeugs Gottes, der kraft seiner Kreativität den Schöpfungsprozeß ununterbrochen fortsetzt. Daraus entwickelt Cusa seine Vorstellung von der Imago viva Dei, dem „lebendigen Abbild Gottes“, und der vis creativa, der „schöpferischen Kraft“, die jedem Menschen innewohnt. Diese Vorstellungen stehen in eindeutiger Verwandtschaft mit Avicennas Idee des notwendig Seienden als erster ewiger Ursache und der ständigen Verwirklichung dieses Prinzips durch den aktiven Intellekt.

Gott setzt seine Schöpfung fort

Was für eine fantastische Vorstellung ist es, daß Gott seine Schöpfung durch den Menschen fortsetzt! Und welch ungeheure Verantwortung liegt damit auf den Schultern eines jeden Menschen.

Ibn Sina hatte eine klare Vorstellung von der Ewigkeit der Welt und der Ewigkeit des Schöpfungsprinzips. Das ist keineswegs die oft mißverstandene Vorstellung der christlich-fundamentalistischen Kreationisten, die die moderne Wissenschaft ablehnen, weil sie der Offenbarung zu widersprechen scheint. Für Ibn Sina begann der Schöpfungsprozeß nicht zu einem bestimmten Zeitpunkt, denn das hätte eine plötzliche Veränderung im Wesen Gottes bedeutet. Da aber der Charakter des höchsten Wesens reine Güte ist, ist es Teil des Wesens, ständig andere Seiende zu erschaffen. Wenn das höchste Wesen plötzlich angefangen hätte zu erschaffen, hätte dies eine Veränderung in seinem Wesen bedeutet, und das ist per Definition ausgeschlossen, denn dann wäre es nicht das höchste Wesen.

Interessanterweise war Thomas von Aquin der Meinung, daß die Ewigkeit der Schöpfung mit der göttlichen Freiheit vereinbar sei. Gott könnte beschlossen haben, die Welt aus der Ewigkeit zu erschaffen, was im Grunde das Problem des Widerspruchs zur Offenbarung lösen würde: daß Gott die Welt in sieben Tagen erschaffen hat und daß sie einen Anfang hatte. Denn wenn Gott beschließt, die Welt aus der Ewigkeit zu erschaffen, löst sich der vermeintliche Konflikt auf, daß es einen Anfang der Schöpfung gab.

Vor Ibn Sina gab es im 9. Jahrhundert einen christlichen Philosophen mit dem Namen Johannes Scotus Eriugena, der in seinen Schriften, die zu seinen Lebzeiten leider sehr wenig bekannt waren, einen ähnlichen Ansatz vertrat. Als sich spätere Philosophen auf ihn zu beziehen versuchten, wurde er jedoch von Papst Honorius III. als Ketzer gebrandmarkt, so daß sein Einfluß auf nachfolgende Denker gering blieb.

Es gab somit eine bestimmte Entwicklung in dieselbe Richtung, aber sie hatte keinen starken Einfluß. Um so erstaunlicher ist es, daß Avicenna in gewisser Weise absorbiert wurde, ohne jemals von der Kirche als Ketzer verurteilt worden zu sein. Man kann also mit Sicherheit sagen, daß Avicenna nicht nur die medizinische Wissenschaft in Europa für viele Jahrhunderte revolutioniert hat, sondern auch den Grundstein für eine neue Metaphysik im Westen gelegt hat.

Sehen, was der Mensch noch nie gesehen hat

Aber was hat die Metaphysik in der Entwicklung des menschlichen Wissens, insbesondere im Lichte der modernen Wissenschaft, zum Fortschritt des menschlichen Verständnisses des Universums beigetragen? Welche Bedeutung haben all die Gedanken über das notwendig Seiende für uns heute?

Am 25. Dezember 2021 wurde das James-Webb-Weltraumteleskops erfolgreich gestartet. Es soll im Juni dieses Jahres voll einsatzfähig sein und dann bis zu 13,5 Milliarden Jahre in die Vergangenheit zurückblicken können. Es wird astronomische Phänomene in den am weitesten entfernten Galaxien unseres Universums untersuchen. Wir werden herausfinden, ob die Theorie des Urknalls tatsächlich zutrifft. Ist das Universum wirklich aus dem Nichts entstanden, oder gab es etwas davor?

Es ist klar, daß sich das Universum ausdehnt. Wenn man also in der Zeit zurückgeht, und das wird mit diesem Teleskop möglich sein, wird das Universum immer kleiner und könnte bis zu einem winzigen Punkt zusammenschrumpfen, wie es die Theorie des Urknalls besagt, der angeblich vor 13,8 Milliarden Jahren stattfand. Vielleicht existierte das Universum aber auch schon vorher. Vielleicht hatte sich die Materie nur unvorstellbar dicht komprimiert, bis dann der Urknall kam, wonach es sich wieder auszudehnen begann. All die verschiedenen Theorien, wie das Universum ausgesehen haben könnte, bevor unsere Welt entstand, werden durch die Entdeckungen des Webb-Teleskops großen Auftrieb erhalten. Wir werden Antworten auf Fragen finden, die wir noch gar nicht stellen können. Es wird sich ein fantastisches Fenster zur wirklichen Funktion unseres Universums öffnen.

So kommen wir vielleicht auch dem Verständnis des notwendig Seienden von Ibn Sina näher, wonach der plötzliche Beginn des Universums keinen Sinn ergibt, weil das mit dem Guten des höchsten Schöpfungsprinzips nicht vereinbar ist. Vielleicht müssen wir in ganz anderen Dimensionen zu denken anfangen – sicher nicht in Euklidischem Begriffen von Raum und Zeit. Vielleicht muß man eine völlig neue Relativitätstheorie entwickeln, eine, die zu dem paßt, was Lyndon LaRouche die „Gleichzeitigkeit der Ewigkeit“ genannt hat.

Ich möchte hier folgendes Zitat vorlesen:

„Der extraterrestrische Imperativ ist eine treibende Kraft im natürlichen Wachstum des irdischen Lebens über die Grenzen des Planeten hinaus. Als solcher ist er ein integraler Bestandteil der offensichtlich expansiven und wachstumsorientierten Evolutionsausrichtung des Lebens. Dieser Trieb führte dazu, daß sich das Leben von einem winzigen Anfang zu einer Kraft entwickelte, die den gesamten Planeten durch seine Biosphäre umfaßt und umgestaltet. Noch grundlegender drückt der extraterrestrische Imperativ eine erste Botschaft aus, einen Ur-Imperativ, der im Wesen des Universums angelegt ist und die Evolution der Materie von der einfachsten Form, den Elementarteilchen, bis hin zu hochkomplexen Strukturen, nämlich dem intelligenten Gehirn, vorantreibt. In der Anfangsphase dieses Prozesses, der Umwandlung von Wasserstoff zu Helium und schwereren Elementen, werden die riesigen Mengen kosmischer Energie von der Sternmaterie freigesetzt und in den späteren Phasen bei der Entstehung und Entwicklung lebender Materie gebunden. Aus diesen Ursprüngen ist es möglich, den extraterrestrischen Imperativ als das Grundprinzip zu identifizieren, das sich aus einer einheitlichen Auslegung und Verallgemeinerung dem Evolutionsprozeß gemeinsamer wiederkehrender Phänomene ableiten läßt.“

Diese Sätze hat Krafft Ehricke 1971 geschrieben, der deutsch-amerikanische Visionär und Raketenforscher, der ein enger Freund von uns war und dem Vorstand des Schiller-Instituts angehörte. Er prägte den Begriff des „extraterrestrischen Imperativs“, um die Verpflichtung der Menschheit zu bezeichnen, den Weltraum zu erforschen. Dadurch werde sich der Mensch darüber bewußt, daß die Erde kein geschlossenes System ist, sondern ihm das gesamte Universum offen steht.

Das Titelbild von FUSION 01/2022 mit dem James-Webb-Teleskop.

Das James-Webb-Weltraumteleskop – ein Projekt, an dem mehr als 10.000 Menschen aus über 14 Ländern 25 Jahre lang gearbeitet haben – ist jetzt in den Weltraum gebracht worden, 1 Million Meilen von der Erde entfernt: Ich finde das fantastisch! Wenn die Menschheit dazu in der Lage ist, können wir dann nicht mit der gleichen Entschlossenheit daran gehen, das afghanische Volk mit der „Operation Ibn Sina“ zu retten? Die islamische Welt muß an ihr goldenes Zeitalter anknüpfen und eine Renaissance all der großartigen Philosophen, Künstler und Wissenschaftler aus der Zeit zwischen 750 und dem Beginn des 11. Jahrhunderts in Gang setzen, deren Höhepunkt Ibn Sina war.