In Zeiten großer strategischer Herausforderungen und heraufziehender Krisen bietet der 200. Geburtstag Alexander Sergejewitsch Puschkins, den wir am 26. Mai dieses Jahres feiern, die einzigartige Gelegenheit, eine Brücke des politischen und kulturellen Dialogs zwischen den Nationen, insbesondere zwischen Rußland und Deutschland, zu bauen.
Ibykus will aus diesem Anlaß mit Beiträgen führender Puschkin-Experten aus Rußland und Deutschland dem Leser einen Einblick in die Persönlichkeit und das Werk dieses bedeutendsten russischen Dichters geben. Die vorliegende Ausgabe soll dazu beitragen, das Interesse der Deutschen an den großen kulturellen Errungenschaften eines Landes zu vertiefen, das an vielen Höhepunkten seiner Entwicklung – zur Zeit Peter des Großen, während der Befreiungskriege 1812/13 und zur Zeit Alexander Puschkins – sehr eng mit den Ideen großer deutscher Denker und Dichter (Leibniz, Schiller und Goethe) verbunden war.
In der ersten Ausgabe veröffentlicht Ibykus zunächst die Beiträge der russischen Puschkin-Forscher Prof. V. W. Koschinow und Frau Dr. E. S. Lebedewa. Von deutscher Seite wird der Artikel des Vorsitzenden der Puschkin-Gesellschaft, Prof. Dr. R.-D. Keil, und ein Beitrag von Prof. W. Schmid aus Hamburg veröffentlicht. In den nachfolgenden Ausgaben des Ibykus werden dann weitere Beiträge russischer Puschkin-Experten, darunter Prof. Nepomnyaschtschij, Prof. Bagration-Muchraneli und Frau Prof. Jurjewa folgen.
Puschkin ist der bedeutendste Nationaldichter Rußlands, dem es wie keinem anderen russischen Dichter gelang, die Identität und Persönlichkeit Rußlands zu prägen. Gerade in diesen Tagen werden im russischen Fernsehen viele Sendungen aus Anlaß des 200. Geburtstages Puschkins ausgestrahlt, wo Menschen unterschiedlichster sozialer Herkunft, alte wie junge Menschen, Arbeiter, Landwirte, Lehrer und Kraftfahrer begeistert Verse ihres so vielgeliebten Puschkin zitieren. Die Einzigartigkeit dieses Dichters liegt darin, daß es ihm gelang, die Ideen der klassischen Antike und europäischen Renaissance mit alter russischer Tradition zu verknüpfen und über seine wunderschönen „Sprachschöpfungen“ den Russen eine nationale Identität zu vermitteln.
Puschkin, der so russisch wie kein anderer war, sah seinen Auftrag als Dichter in der Vermittlung universeller Ideen, die Ideen des Wahren, Guten und Schönen, mit denen das Volk spielerisch erhoben und geistig und emotionell erzogen würde. Er hatte eine Mittlerstellung zwischen Rußland und Europa, was deutlich wird, wenn wir die Bewunderung des Dichters für Peter den Großen berücksichtigen, der – wie Puschkin schrieb – das „Fenster zu Europa“ aufgestoßen und das Eindringen moderner Ideen nach Rußland möglich gemacht habe.
In der Novelle Der Mohr Peters des Großen und der Erzählung Der eherne Reiter schuf Puschkin dem großen Erneuerer Rußlands, der Puschkins Großvater, den Mohren Hannibal als Adoptivkind angenommen hatte, ein einzigartiges Denkmal.
Die reformerischen Leistungen, so schrieb Puschkin in Der Mohr Peters des Großen, zeigten sich am augenfälligsten in Petersburg, jene (…) „neugeborene Hauptstadt, die sich auf den Wink des Herrschers hin aus dem Sumpf erhob. Kahle Dämme, Kanäle ohne Ufermauer und hölzerne Brücken wiesen allerorts auf den kürzlichen Sieg des menschlichen Willens über den Widerstand der Naturgewalten hin.“ Ibrahim sah Peter (…) „im Admiralitätskollegium, wie er Rußlands Größe auf dem Meer begründete (…) wie er Übersetzungen ausländischer Publizisten durchsah oder wie er die Fabrik eines Kaufherren, die Werkstatt eines Handwerkers oder das Kabinett eines Gelehrten aufsuchte. Rußland stellte sich Ibrahim als eine riesige Werkstatt dar, in der sich nur Maschinen bewegten und in der jeder Arbeiter, eingefügt in eine bestimmte Ordnung, seiner Tätigkeit nachging.“
Die großartigen Neuerungen Peter des Großen sind eng verknüpft mit dem Einfluß der Ideen Gottfried Wilhelm Leibniz‘, jenem bedeutendsten europäischen Universalgelehrten, der – jahrelang als Berater des Zaren tätig – mit diesem gemeinsam die Grundlagen für die wissenschaftliche Renaissance in Rußland schuf und der vor 300 Jahren das Design einer Eurasischen Landbrücke entwickelte.
Den Schlüssel für die Entwicklung Europas und den Fortschritt der Menschheit sah Leibniz in der Entwicklung Eurasiens, in der Rußland als Mittler zwischen China und Europa fungieren sollte. Es handelt sich um ein Konzept, das angesichts der sich anbahnenden eurasischen Partnerschaft zwischen Rußland, China und Indien und Europa von äußerster Aktualität ist und entscheidend zur Gestaltung des 21. Jahrhunderts beitragen könnte.
„Es scheint Gottes Fügung zu sein, daß die beiden mächtigsten Herrscher der Erde, der Zar und der Kaiser von China, mit großem Eifer bemüht sind, in ihren Ländern die Kenntnis europäischer Wissenschaften und Gebräuche einzuführen“, schrieb Leibniz in einer seiner ersten Denkschriften an den Zaren. „Das Interesse, das Eure Majestät daran hat, sein Land zum Blühen zu bringen und die zivilen, militärischen Angelegenheiten in guten Zustand zu bringen, dies zu verwirklichen bedeutet, daß in einem so großen Lande für eine Vermehrung von Nahrung, Handel und Geldfluß gesorgt wird. Als Folge davon würden sich die Menschen mehr den Wissenschaften und Künsten zuwenden und arbeitsamer werden. Und die immense Folge wäre, daß Eure Majestät seine immense Macht, die Gott ihm, und seinem Land und Leuten verlieh, einsetzen könnte zum Ruhme Gottes und zum Nutzen und Vorteil der gesamten Christenheit. Und dies ist um so wichtiger, weil so nämlich China und Europa – als die beiden
äußersten Enden dieser Welt – aufgrund der Vermittlung des Zaren zusammengebracht würden. Dadurch kämen die chinesischen Waren und Neuigkeiten aus China nach Europa und andererseits würde sich der christliche Glaube nach China und zwar durch Moskau auf dem Wege dieser Kommunikation verbreiten. Voraussetzung dafür wäre, daß wir alle die Einrichtungen, die wir in Europa haben, nach Moskau brächten.“
Leibniz verstand darunter alle vorfindbaren Wissenschaftskompendien, fähige ausländische Berater, die Gründung von Sozietäten, von wissenschaftlichen Akademien und nicht zuletzt die Einrichtung eines Wissenschaftskollegiums, das als Wissenschaftsrat über alle Schulen und Akademien Aufsicht führen würde.
In seiner berühmtesten Denkschrift an den Zaren „Über die Verbesserung der Künste und Wissenschaften im russischen Reich (No 240/1716) forderte Leibniz, zur Beförderung der Wissenschaft und Bildung in Rußland sei es wichtig, Druckereien, Bücherläden und vor allem Bibliotheken einzurichten, (…) „in denen recht viele noch in Europa unbekannte Manuskripta aus Griechenland, Türkey und Persien“ gesammelt würden (…). „Es sollten auch Bücher vorhanden sein in allerhand Sprachen slavonisch, teutsch, lateinisch und in den europäisch lebenden Sprachen als englisch, französisch, welsch, spanisch, auch in griechisch, literal und vulgär hebräisch, arabisch, syrisch, chaldäisch, aethiopisch, coptisch, armenisch und sinesisch selbst. Doch der größte Teil muß sein lateinisch.“
Neben der gut ausgestatteten Bibliothek, in welcher das fortschrittlichste und gesammelte Wissen der Menschheit aufbewahrt würde, sei es auch dringend notwendig, so hatte Leibniz dem Zaren geraten, ein Technologiemuseum (Cabinet) einzurichten, in dem alle „optischen astronomischen architectonischen militärischen, nautischen, mechanischen und andere Inventionen“ vorgeführt werden. „Hierzu rechne ich auch allerhand Instrumenta, die ein Baumeister, Ingenieur, mechanicus, Astronomicus brauchet.“
Dazu gehöre auch ein Teatro artis (…), „darin auch Modelle von allerhand nützlichen Inventionen in ziemlicher Grösse sich finden sollen, sonderlich von allerhand Mühlen, Hebzeugen, Wasserwerken auch vielen Arten der bey den Bergwerken gebräuchlichen Maschinen.“
Von den reformerischen Leistungen Peter des Großen und der geistigen und kulturellen Renaissance, die dieser in Rußland einleitete, zieht sich ein direkter Faden zu Alexander Sergejewitsch Puschkin.
„Die Erziehung, oder besser gesagt die Abwesenheit jeder Erziehung ist die Wurzel jedes Übels,“ hatte Puschkin 1826 in einer „Denkschrift über die Volkserziehung“ an den Kaiser Nikolaus I. geschrieben: „Nicht der Bildung sondern der Müßigkeit des Geistes, die noch schädlicher als die Müßigkeit der körperlichen Kräfte ist, muß diese Eigenwilligkeit der Gedanken zugeschrieben werden, dieser Quell der wilden Leidenschaften, dieser verderbliche Luxus des Halbwissens, dieser Drang nach träumerischen Extremen, deren Anfang Sittenverderbnis und deren Ende Untergang ist (…). Wir sagen noch mehr: Nur die Bildung allein ist imstande, neue Wahnsinnstaten, neues öffentliches Unglück zu verhindern.
Scharf prangerte Puschkin die Oberflächlichkeit des Erziehungswesens an, die anstatt die Menschen an die großen Ideen der Menschheit heranzuführen, in ihnen nur Karrieredenken und nutzlose Ideen befördere: „Die Titel sind zur Sucht des russischen Volkes geworden schreibt Puschkin in seiner Denkschrift. „In anderen Ländern absolviert der junge Mann das Studium mit 25 Jahren etwa; bei uns beeilt er sich, möglichst frühzeitig in den Dienst zu treten, denn mit 30 Jahren muß er unbedingt Oberst oder Kollegienrat sein. Er tritt in die Welt ohne gründliche Kenntnisse, ohne alle positiven Maximen; jeder Gedanke ist ihm neu, jedes Neue übt Einfluß auf ihn aus. Er ist weder imstand zu prüfen, noch zu widersprechen; er wird zum blinden Anhänger oder kläglichen Wiederholer des ersten besten Kameraden, welche ihm seine Überlegenheit zeigen oder ihn zu seinem Werkzeug machen will (…). Man müßte die ganze Jugend in die öffentlichen Erziehungsanstalten, die der Aufsicht der Regierung unterstellt sind, hinüberziehen; man müßte sie dort festhalten, ihr Zeit lassen, durchzugären, sich mit Kenntnissen zu bereichern und in der Stille der Schulen, nicht aber im lärmenden Müßiggang der Kasernen reif zu werden. (…) In Rußland ist die häusliche Erziehung die unzureichendste, die unmoralischste. Das Kind ist nur von Sklaven umgeben, sieht nur niederträchtige Beispiele, ist eigenwillig oder kriecherisch, bekommt gar keine Begriffe von Gerechtigkeit, von den gegenseitigen Beziehungen der Menschen, von der wahren Ehre.“
Puschkin selbst wuchs im Geiste der großen humanistischen klassischen Dichtung der Antike auf. Geprägt von den Ideen der italienischen Renaissance, von Shakespeare, den Ideen der französischen und der deutschen Klassik, insbesondere von Schiller und Goethe, ließ Puschkin nichts unversucht, die ihm nützlich erscheinenden Ausdrucksformen westlichen Geistes für seine Heimat zu erschließen. Er hat die universellen großen Ideen der antiken Klassik, der Renaissance und Aufklärung in die Gedankenwelt seiner Heimat transponiert, und er schuf eine Sprache, die eine neue literarische und geistige Renaissance im Geistesleben Rußlands einleitete.
„Die Beschäftigung mit den Dichtern aller Völker und Zeiten,“ so schrieb Nikolai Gogol über Puschkin, „erweckte in ihm einen Widerhall, und wie treffend ist dieser Widerhall, wie fein ist Puschkins Ohr. Man riecht den Duft, man sieht die Färbung der Erde, der Zeit, des Volkes. In Spanien ist er Spanier – in Kaukasien freier Bergbewohner in vollem Sinne des Wortes. Er atmet mit den Menschen einer vergangenen Zeit den Duft dieser Zeit.“ Und weiter heißt es: „Puschkin ist eine außergewöhnliche und vielleicht einzigartige Manifestation des russischen Geistes; er ist Russe in seiner Vollendung, wie er vielleicht etwa in 200 Jahren wieder einmal erscheinen wird. Die russische Natur, die russische Seele und der russische Charakter spiegeln sich an ihm in einer so geläuterten Schönheit, wie sich die Landschaft in einer konvexen Oberfläche eines optischen Glases spiegelt.“