Thomas Morus und Erasmus von Rotterdam: Wie man das Britische System besiegt

Die griechische Klassik im Einklang mit dem christlichen Menschenbild führten in Europa zu einer Renaissance, an deren Spitze Erasmus von Rotterdam und Thomas Morus standen. Sie waren existentiell mit den Methoden des britisch-imperialen Denkens konfrontiert.


Erasmus von Rotterdam (1466–1536), Porträt von Hans Holbein d. J., 1523.

„Die Menschen tun ja jetzt das gleiche, was sie vor der Sintflut taten: sie schmausen,trinken, feiern, heiraten huren, kaufen, verkaufen, pumpen, wuchern und bauen; Könige führen Krieg, Geistliche sorgen sich um die Mehrung ihrer Einkünfte, Theologen bilden Syllogismen, Mönche schweifen durch die Welt, das Volk ist aufständig und Erasmus schreibt Gespräche; Übel aller Art sind da, Hunger, Durst, Räubereien, Krieg, Pest, Meuterei und Notzeit. Beweist das alles nicht, daß es mit der Menschheit zu Ende geht?“((Erasmus von Rotterdam, „Der Evangeliumsträger“. In: Auswahl aus seinen Schriften, Düsseldorf: Verl. L. Schwann, 1948.))

„Ist das etwa nicht ein ungerechter und undankbarer Staat, der so viel Gunst verschwendet an die sogenannten Edelleute, an Juweliere und sonstige Angehörige dieser Menschenklasse, die aus Tagedieben oder bloßen Schmarotzern und Angehörigen unnützer Luxusgewerbe besteht, dagegen den Bauern, Köhlern, Tagelöhnern, Fuhrleuten und Schmieden, ohne die überhaupt kein Staat bestehen könnte, gar keine Fürsorge zugewendet, sondern zuerst ihre Arbeit während ihrer besten Arbeitsjahre ausnützt und dann, wenn sie endlich, durch Alter und Krankheit gebeugt, an aller Notdurft Mangel leiden … sie in jammervollster Armut sterben läßt? […]

Thomas Morus (1478–1535), Porträt von Hans Holbein d. J., 1527. Frick Collection, New York

So leicht ließe sich beschaffen, was zum Leben nötig ist, wenn nicht unser gesegnetes Geld, das doch dazu erfunden ist, um uns den Zugang zu den lebensnotwendigen Gütern zu eröffnen, in Wirklichkeit uns nur den Weg zu diesen Gütern versperrte! […]

Wenn ich daher alle unsere Staaten, die heute irgendwo in Blüte stehen, im Geiste betrachte, und darüber nachsinne, so stoße ich auf nichts anderes, so wahr mir Gott helfe, als auf eine Art Verschwörung der Reichen, die den Namen und den Rechtstitel des Staates mißbrauchen, um für ihren eigenen Vorteil zu sorgen.“((Thomas Morus, Utopia. Stuttgart: Reclam, 1964.))

Diese Zitate sind keine Schilderung der gegenwärtigen Lage, sondern so sah die Welt Europas im 14. Jahrhundert aus, wie sie Erasmus von Rotterdam (1466–1536) und Thomas Morus (1478–1535) beschrieben – und doch hat sich so wenig an den Prinzipien dieser systemischen Krise bis heute verändert.

Denn die beiden entgegengesetzten Pole einer Weltgestaltung sind damals wie heute dieselben: Es stehen uns alle Tore offen, die Welt nach rechtsstaatlichen Prinzipien zu entwickeln, den Weltraum zu erobern und die Finanzelite des angloamerikanischen Systems zu beseitigen, die dabei ist, durch ihre machtpolitischen Interessen die Menschheit in den Abgrund zu reißen.

Wie wir schon früher dargestellt haben, hatte sich im 13. und 14. Jahrhundert neben dem bestehenden oligarchischen, absolutistischen Regierungssystem in Europa ein verzweigtes Netzwerk der Renaissance entwickelt.((Alexander Hartmann, „Wie die Renaissance nach Deutschland kam“. In: Neue Solidarität, Jg. 38, Nr. 21–23/2011.)) Diese philosophischen und naturwissenschaftlichen Ideen kamen einer Revolution gleich, denn sie billigten dem Menschen, den die Oligarchie zum dumpfen Untertanentum verdammt hatte, unveräußerliche Rechte und eine gottähnliche und unendliche Erkenntnis- und Gestaltungsfähigkeit seiner Person und seiner Umwelt zu.

Albrecht Dürer (1741–1528), Selbstporträt 1493 im Alter von 26 Jahren, 1493. Prado, Madrid.

Ausgangspunkt dieser grundlegenden Auseinandersetzung war natürlich die Philosophie Platons, die, wie Helga Zepp-LaRouche vielfach geschildert hat((Z. B. über die LaRouche Legacy Foundation, in: Neue Solidarität, Jg. 47, Nr. 20/2020.)), durch Nikolaus von Kues 1437–38 nach Italien kam. Diese Reise von Konstantinopel nach Italien (zunächst Venedig, dann Ferrara, Florenz u. a.) war nicht nur in theologischer und kirchenpolitischer Hinsicht ein einmaliger historischer Durchbruch. Die gesamte Delegation umfaßte 700 Personen, auf der Rückfahrt neben dem byzantinischen Kaiser Nikolaus Kaiser Johannes VIII. Palaiologos, der Patriarch von Konstantinopel, zahlreiche Bischöfe der Ostkirche mit den päpstlichen Gesandten, aber auch z. B. der griechische Erzbischof und spätere Kardinal Bessarion und der berühmte Gelehrte Georgios Gemistos Plethon, beide absolute Verfechter und Kenner der platonischen Philosophie. (Bessarion verfügte über die größte Sammlung griechischer Handschriften.) Die Überfahrt nach Italien dauerte vom 27. November 1437 bis zum 8. Februar 1438, und währenddessen wurden die entscheidenden religionswissenschaftlichen und philosophischen Diskussionen geführt, die dann bald in ganz Italien und über alle Grenzen hinaus zu einem paradigmatischen Sprung der gesellschaftlichen Entwicklung Europas führten. Die Menschen mußten es als einen ungeheuren Befreiungsschlag empfunden haben, und so reisten sie nach Italien, studierten die griechische Sprache und die Texte Platons, die Wissenschaft Leonardo da Vincis, die die Kunst Raffaels, dessen Schule von Athen die Gegensätze Platon und Aristoteles zum Thema hat, und natürlich die Architektur und brachten diese Ideen zurück in ihr jeweiliges Land. Erasmus selbst beschreibt, wie er in Italien bei seiner Arbeit an den Adagia durch die Unterstützung zahlreicher Gelehrter u. a. eine griechische Ausgabe der Werke Platons erhalten hatte.((Erasmus von Rotterdam, Adagia. Stuttgart: Reclam 1983, S. 201 ff.))

Hans Holbein d. J. (1497/98–1544), Selbstporträt um 1542. Florenz, Uffizien.

Speerspitze dieser Renaissance-Bewegung waren die beiden engen Freunde, Christen und zugleich Platoniker, Thomas Morus in England und Erasmus von Rotterdam aus Holland.((Ausführlich dazu bei Karel Vereycken, „Wie Erasmus‘ Torheit unsere Zivilisation rettete“. 3 Teile. In: Neue Solidarität, Nr. 24–26/2005.)) Morus selbst spielte eine wichtige politische Rolle in der Regierung König Heinrich VIII. und war dessen bevorzugter Gesprächspartner.

Zu ihrem Freundeskreis zählte neben vielen anderen Humanisten der Theologe John Colet in Oxford, Johannes Morton, Lordkanzler von England und wichtigster Berater von König Heinrich VII., der Gelehrte Petrus Aegidius (Peter Gilles) aus Antwerpen. Einigen von ihnen hat Thomas Morus in seiner Utopia ein ewiges Denkmal gesetzt. Zu erwähnen ist natürlich auch der Künstler Albrecht Dürer (1471–1528) oder Hans Holbein (1497/98–1544), der sich lange Jahre in England und London aufhielt. Ihre Porträts der beiden sind ein unverbrüchlicher Beweis für die gegenseitige Wertschätzung.

Peter Gilles (1486–1533), Porträt von Quinten Massijs. Koninklijk Museum voor Schone Kunsten, Antwerpen.

Morus und Erasmus stellten sich mit größtem Mut, Entschlossenheit und Verantwortung der unüberwindlich scheinenden Aufgabe, das britische System und die mit ihm verbundene Axiomatik, die sie als die größte Bedrohung der Existenz der Menschen und Staaten ansahen, zu beseitigen. Erasmus selbst war insgesamt 14 Jahre in England, kannte also die dortigen verarmten und verelendeten Zustände genau.

Die politische und wirtschaftliche Situation Europas war katastrophal, das im 13./14. Jahrhundert in zahllose Königreiche, Fürsten-, Herzog- und Kurfürstentümer, Grafschaften und Bistümer zersplittert war und von entsprechend vielen Herrschern regiert wurde. Die Habsburger, die Wittelsbacher und vor allem die englischen Königshäuser untereinander kämpften bis aufs Blut und mit allen Mitteln um ihre Vormachtstellung. Die katholische Kirchenführung war verrottet und korrupt, was später Martin Luther und seinen Unterstützern den Boden bereitete.

Die Konsequenz dieser gesellschaftlichen Katastrophe im Bewußtsein gingen die beiden Freunde in die Offensive, auch wenn es sie die eigene Existenz kosten konnte und im Fall von Thomas Morus gekostet hat. Schonungslos, aber auch mit der Methode feiner Ironie und drastischem Spott analysierten sie die Lage, die Thomas Morus als eine Verschwörung der Reichen charakterisiert, die

„den Namen und Rechtstitel des Staates mißbrauchen, […] nicht nur durch privaten Betrug, sondern sogar noch auf Grund öffentlicher Gesetze, […] um für ihren eigenen Vorteil zu sorgen. Sie sinnen und hecken sich alle möglichen Methoden und Kunstgriffe aus, zunächst um ihren Besitz, den sie mit verwerflichen Mitteln zusammengerafft haben, ohne Verlustgefahr festzuhalten, sodann um die Mühe und Arbeit der Armen so billig als möglich sich zu erkaufen und zu mißbrauchen.“((Morus, s. Amn. 2, S. 151.))

Ihr oberstes Ziels war es deshalb, die Bevölkerung zu erziehen, ihre falschen Verhaltensmechnismen aufzuzeigen und ihnen klar zu machen, wie sie damit zu den damaligen gesellschaftlichen Verwerfungen beigetragen haben. In gleicher Absicht waren z. B. auch die zeitgenössischen Maler Hieronymus Bosch (um 1450–1516) und Pieter Bruegel d. Ä. (um 1525–1569) tätig.((Z. B. Bruegels bekanntes Gemälde Die niederländischen Sprichwörter.)) Nur so, schreibt Thomas Morus, könne ein platonischer Staat geschaffen werden, mit „der besten Staatsverfassung“, am Naturrecht orientiert, als Alternative zur Oligarchie. Er versetzt diese Idee nach Utopia, ein doppeltes Mittel der Ironie; aber warum sollte so ein Staat, der seine Existenz dem Gemeinwohl verdankt, eigentlich keine reale Möglichkeit werden oder sein?

Ein solcher politischer Staat sollte von einem weisen Fürsten, einem guten König regiert werden, der nach dem Bilde Gottes handelt.((Erasmus, Anm. 5, S. 83 ff.)) Weiter schreibt Erasmus:

„Nicht von ungefähr schrieb der göttliche Platon, Staaten könnten nicht anders glücklich sein, als wenn die oberste Gewalt entweder Philosophen übertragen würde oder wenn die Herrschenden sich Philosophie zu eigen machten.“((Erasmus, a. a. O., S. 79.))

Und fast wortwörtlich wiederholt Thomas Morus, Platon behaupte, „die Staaten würden erst dann glücklich werden, wenn entweder die Philosophen Herrscher oder die Könige Philosophen seien.((Morus, s. Anm. 2, S. 43.))

Wie sollte ein solcher Herrscher, wenn er nicht dazu geboren, erzogen werden – zur Weisheit, zum Gemeinwohl, zur Gerechtigkeit, zum Frieden und zur Nachsicht? Demgegenüber sei die Politik der Staaten und der Kirche aber nur auf eigene Vorteile und Machterweiterung ausgerichtet, und zum Schluß bleibe nur noch der Krieg.

Erasmus und Morus drücken immer wieder ihre tiefe Abscheu vor dem Krieg aus, dem Grund aller Übel in der Welt, und der höchstens geführt werden dürfte, um den Frieden zu erreichen. Der Krieg verderbe den Sinn für Gut und Schlecht, zerstöre die Seele des Menschen, führe letztlich zur „Vernichtung des Menschengeschlechts“. Diese Feinde der Menschheit sind nur darauf bedacht, die Eintracht der Bürger und das Staatswesen zu zerstören, denn nur durch Willkür, Tyrannei, Anarchie u. ä. können sie ihre Macht erhalten. Ihre grundlegenden Methoden sind bis heute die gleichen geblieben: Ein Heer von „Hofschranzen“ (heute sagt man: Influencer), Berater, „Genossen“ fluten alle Regierungsebenen zum Zweck, durch Korruption, Erpressung, Lügen, Mord, Unfrieden oder Verunsicherung Angst zu schüren, um friedvolle Verhältnisse zu verhindern und eine vernünftige Regierung von ihrem Kurs abzubringen.

Diese „Hofschranzen“, dieses „elende Geschmeiß“, sind „die schlimmste Pest“ innerhalb des Regierungsapparats, sie schleichen sich ein, streuen Gerüchte, erschleichen und mißbrauchen das Vertrauen:

„Sie haben wohl erkannt, daß das besondere Glück des Staates nur mit einem untadeligen, verständigen und wachsamen, d. h. mit einem wirklichen Fürsten sichergestellt ist. Deshalb entwickeln die Berater, Vormünder, Paladine einen erstaunlichen Eifer, um zu verhindern, daß aus dem Mann ein Fürst wird. Die Großen am Hof, also diejenigen, die zum Schaden des Staates gemästet werden, setzen alles daran, daß er ja nichts von dem erfährt, was ein Fürst von allem wissen sollte. Die Dörfer werden gebrandschatzt, die Äcker verwüstet, Kirchen beraubt, harmlose Bürger umgebracht, Geistliches und Weltliches auf den Kopf gestellt, und gleichzeitig ist der Fürst in aller Ruhe beim Würfelspiel, widmet sich Tanzvergnügen, läßt sich von Hofnarren amüsieren, ist auf der Jagd, mit der Geliebten im Bett oder beim Saufgelage… Mittlerweile muß man sie ertragen, damit die Tyrannis nicht in Anarchie umschlägt, ein Übel, das beinahe noch verderblicher ist.“((Morus, s. Anm. 2, S. 63.))

Die Rolle des Geldes

Titelholzschnitt aus Utopia von Thomas Morus. Erstausgabe 1516.

Ein weiteres Thema sprechen Erasmus und Thomas Morus an, und wieder sieht man, wie Gesellschaften abgleiten, wenn die Moral ausgehöhlt und bewährte Wertvorstellungen künstlich in ihr Gegenteil verkehrt werden: Der Irrglaube an die unerschütterliche Rolle des Geldes und das Glück des schnellen Reichtums. Erasmus schreibt:

„Allerdings ist es unnatürlich, wie Aristoteles in seiner Politik schreibt, daß Geld (wieder) Geld hervorbringt… Heutzutage aber beanspruchen die oberen Zehntausend, als ob sie allein Menschen oder vielmehr Götter wären, alles für sich.“((Erasmus, a. a. O., S. 45 ff.))

Das Streben nach Macht und Einfluß, wie rücksichtslos es auch sei, ist gesellschaftlicher Konsens, bis zum heutigen Glauben, Gelddrucken und Verschulden erzeugen Wachstum und wirtschaftlichen Aufschwung, mit waghalsigen Spekulationsgeschäften kann man schnell zum Multimillionär werden. Thomas Morus beschreibt deshalb seinen „utopischen“ Staat als eine Gesellschaft und einen Rechtsstaat, in dem das Geld überhaupt keine solche Rolle spielt, denn

„was ist das für eine Gerechtigkeit, daß jeder beliebige Edelmann oder Goldschmied oder Wucherer oder sonst irgendeiner von der Menschenklasse, die überhaupt nichts leistet…, daß der ein üppiges und glänzendes Leben führen darf aus einem Erwerb, den ihm sein Nichtstun oder sein überflüssiges Geschäft einbringt,… dagegen den Bauern, Köhlern, Tagelöhnern, Fuhrleuten und Schmieden, ohne die überhaupt kein Staat bestehen könnte, gar keine Fürsorge zuwendet… So leicht ließ sich beschaffen, was zum Leben nötig ist, wenn nicht unser gesegnetes Geld, das doch ganz offenbar dazu erfunden ist, um uns den Zugang zu den lebensnotwendigen Gütern zu eröffnen, in Wirklichkeit uns nur den Weg zu diesen Gütern versperrte!“((Morus, s. Anm. 2, S. 150 ff.))

Eine Friedensstrategie

Wie kann Friede und Eintracht unter den Völkern hergestellt werden? Es scheint, als nehme Erasmus die Ideen des Westfälischen Friedens vorweg, der den 30jährigen Krieg beendete. In dem Gespräch Das Fischgericht stellt er für die kriegführenden Kaiser Karl, König Franz I. von Frankreich und Papst Clemens VII. seine Strategie dar:

„Ich würde den Frieden ausrufen lassen und in meinem gesamten Herrschaftsbereich Waffenruhe verkünden, die Truppen entlassen… Ich gebe dir Leben und Freiheit, und statt eines Feindes nehme ich dich als meinen Freund an. Alle vergangenen Übel wollen wir vergessen!… Fortan soll nur dieser Streit unter uns herrschen, wer wohl den andern an Vertrauenswürdigkeit, Verbindlichkeit und Wohlwollen übertrifft.“((Erasmus, Auswahl aus seinen Schriften, S. 353.))

Im Gespräch Von der Ruhmbegier betont Erasmus das cusanische Prinzip des Einen in seinem Vielen, hier gemeint in der „Völker-Gemeinschaft“ und dem dafür notwendigen im Dialog der Kulturen. Ja, es gibt Unterschiede zwischen Spaniern, Italienern, Deutschen, Franzosen und Engländern, aber jedes Volks, sagt er, hat in seiner Art besondere Anlagen und Vorzüge. Wenn man sie kennt, sie beachtet und sich ihnen anpaßt, ohne gegen das Recht zu verstoßen, ist es leicht, sich alle zu Freunden zu machen.((Ebenda, S. 514.))

Erasmus formuliert aber auch konkret, worauf es beim Aufbau eines Staates ankommt, und im Grundsatz hat sich daran bis heute nichts geändert:

„… die zu wenig befestigten (Städte) sind zu befestigen, alles mit öffentlichen Gebäuden zu schmücken, ebenso mit Brücken, Säulenhallen, Tempeln, Uferpromenaden und Wasserleitungen; ungesunde Gegenden müssen entweder durch Verlegung von Gebäuden oder durch Trockenlegung von Sümpfen unschädlich gemacht werden; ungünstig fließende Ströme sind abzuleiten, gegen das Meer sind zum Nutzen der Allgemeinheit Dämme zu bauen, oder es müssen seine Buchten vergrößert werden. Es ist Sorge zu tragen, daß vernachlässigte Äcker bestellt werden, damit mehr für Notzeiten zur Verfügung steht, zu wenig ergiebige muß man anders bebauen lassen.“((Erasmus von Rotterdam, Ausgewählte Schriften. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1995. Bd. 5, S. 333 ff.))

Wille und Mut zur persönlichen Veränderung

Wie einfach wäre es also heutzutage, die Welt zu entwickeln und Wohlstand für alle zu erreichen. Es stellt sich nun aber die Frage, warum dies so schwer gelingt, und aus welchem Grund. Wie alle großen Philosophen, von Platon bis Friedrich Schiller, sind die beiden nicht nur scharfe Analytiker, sie sind auch gute Psychologen und kennen den Menschen. Vielfach und oft sehr humorvoll schildern sie die menschlichen Charakterschwächen und ihre Folgen für die Mitmenschen, wenn die eigene kritische Selbstüberprüfung aussetzt. Sie halten uns den Spiegel vor und fordern uns auf, unser Leben zu ändern.

Und so stellen sie fest, daß die Angst vor künftigem Mangel alle Lebewesen habgierig und räuberisch mache, und nur beim Menschen komme die Hochmut dazu. Diese „Hoffart“, die Überheblichkeit, die Arroganz, sieht Thomas Morus als Hauptgrund und Ursprung alles Unheils an, als geradezu teuflisches Laster:

„Sie wühlt sich, eine höllische Schlange, in die Herzen der Menschen ein, hält sie wie eine Bremse zurück und hindert sie, wenn sie einen besseren Lebensweg einschlagen wollen.“((Morus, s. Anm. 2, S. 153.))

Die Menschen rennen in ihr eigenes Verderben, denn sie sind von Leidenschaften besessen, von falschem Ehrgeiz und Selbstverliebtheit, von der Sucht nach Glanz, Geld, und Ansehen. Falscher Ehrgeiz aber führt zu Eitelkeit und Ruhmsucht, die eigene hedonistische Zurschaustellung zu Neid und Haß. Einmal in diesem emotionalen Kreislauf gefangen, verliert sich das Gefühl für das Schlechte, entwickeln sich die Gefühllosigkeit und Abgestumpftheit, Engherzigkeit und Kleinmut. Das „Empfindungsvermögen“, wie Friedrich Schiller es nannte, verkümmert, im Zustand „geistiger Erschlaffung“ führen viele Menschen ein Leben, wie es Erasmus beschreibt:

„Mal gibt es Würfelspiele, mal Sauflieder, Gelage, Zitherspiel und Herumschwärmen; damit vertut man den besten Teil dieses Alters. Vertreibt man sich die Zeit einmal mit Büchern, liest man schwachsinnige Romane oder noch schädlichere Geschichtserzählungen. Ein Geist, der durch kein Gegengift gefestigt ist, saugt sich daran voll mit Bewunderung und, wie die Griechen sagen: zelotischer Nacheiferung für irgendeinen verruchten politischen Führer.“((Erasmus, a. a. O., S. 93 ff.))

Wo ist der Ausweg und wie ist er möglich? Gemäß der klassischen Philosophie liegt die Lösung zur Veränderung im Menschen selbst, in seinem einzigartigen Potential. Und ähnlich wie Schiller in seiner „Ästhetischen Erziehung“ darstellt, beschreibt auch Erasmus die Bestimmtheit des Menschen: „Wir wissen doch, daß die Affekte, die im Körper ihren Sitz haben, vom Geist gebändigt werden müssen, daß (umgekehrt) der Geist den Körper in Verwirrung bringt, so daß das Auge weniger wahrnimmt als der übrige Körper.“ Deshalb müsse man den Affekten die Zügel der Vernunft anlegen, wobei er auf Platon verweist, der „die menschliche Seele in drei Teile teilt, die Vernunft, den Mut und die Begierde … und er es für die höchste Philosophie hält, wenn die Affekte der Vernunft nicht anders als einem König untergeordnet sind, die er deshalb auch im Gehirn wie in einer Burg angesiedelt sieht“((Erasmus, a. a. O., S. 207.))

Es kommt also darauf an, daß der Mensch „seine Seele umwendet“, wie es Christa Kaiser in ihrem Artikel nennt.((Christa Kaiser, „Das Erhabene in der Tragödie oder über das ,Umwenden der Seele'“, Neue Solidarität, Nr. 19, 13. Mai 2021.)) Erkenntnisfähigkeit und Willensstärke spielen dabei eine Rolle, aber auch das „Empfindungsvermögen“, die emotionale Fähigkeit zum „Mit-leiden“, zur Mitmenschlichkeit, dem Gefühl der „agape“, weil uns das Schicksal unserer Mitmenschen oder anderer Nationen moralisch berührt und bewegt. Das Leiden soll uns aber nicht beherrschen, sondern „ein selbständiges Gemüth hingegen nimmt gerade von diesem Leiden den Übergang zum Gefühl seiner herrlichsten Kraftwirkung und weiß aus jedem Furchtbaren ein Erhabenes zu erzeugen.“((Friedrich Schiller, „Ueber das Pathetische“, in: Nationalausgabe, Bd. 20, S. 210.))

Pieter Bruegel d. Ä. (um 1525–1569), Der Esel in der Schule. Federzeichnung, um 1556. Die Unterschrift lautet: „Auch wenn der Esel zum Lernen in die Schule geht, bleibt er ein Esel und wird niemals ein Pferd.“

Bildung ist entscheidend

Es bleibt noch kurz darzustellen, wie Erziehung und Bildung gestaltet werden sollten, denn dies war Erasmus‘ oberstes Bedürfnis. Unwissenheit hielt er für den Menschen am verderblichsten. Darüber stand er u. a. auch in erbitterter Auseinandersetzung mit Martin Luther, über den er sagte, er (Luther) halte nur sehr wenig von der Bildung, aber sehr viel vom Geiste, der den einfältigen Gemütern bisweilen etwas eingebe, was er jenen Weisen verweigere. Demgegenüber sagen beide, Morus und Erasmus, daß die Seele des Menschen unsterblich ist und dazu berufen, den Ursprung des Guten zu suchen und die Erkenntnis des Wahren zu erreichen. Sie ist zur Glückseligkeit geschaffen, die auf Vernunft und Freiheit des Menschen beruht und darauf, dem Nächsten so viel wie möglich zu nutzen.

Dabei sollen „wir so leben und wachen, wie wenn wir auf der Stelle sterben müßten“, und „uns so vervollkommnen…, wie wenn wir ewig leben würden,“((Erasmus, s. Anm. 15, S. 634.)) und „wir müssen immer lernen, solange wir leben.“((Dieses Zitat und die weiteren Ausführungen aus: Erasmus von Rotterdam, Ausgewählte pädagogische Schriften. Paderborn: Schöningh, 1963.))

Der Schwerpunkt liegt auf einer frühzeitigen allgemeinen Charakter- und Geistesbildung der Kinder. Junge Leute sollen lernen, selbständig urteilen zu können, sie sollen lernen, das Edle zu lieben und das Schlechte zu verabscheuen. Sie sollen das Leben meistern und die Wissenschaften lieben. Sobald der Mensch „angefangen hat zu sprechen, dürfte er zu wissenschaftlicher Unterweisung geeignet sein.“ Auch die Eltern sollen sich mit den Wissenschaften befassen, damit sie ihren Kindern diese mitteilen können.

Erasmus legt großen Wert auf das Erlernen der verschiedenen Sprachen und ihrer Grammatik, insbesondere des Griechischen und Lateinischen, „weil in diesen beiden Sprachen fast alles Wissenswerte überliefert ist… und weil zwischen beiden ein enges Verwandtschaftsverhältnis besteht.“ Sprachfertigkeit erwirbt man sich durch das Lesen guter Schriftsteller, die Anfertigung von Aufsätzen und Übersetzung üben Gedächtnis und Sprachfertigkeit. Dazu kommen die Naturwissenschaften, Geschichte, Musik. „Man muß die Erdbeschreibung kennen, die auch für die Geschichte wichtig ist, insbesondere aber für die Poesie.“ Natur- und Geisteswissenschaften sind also eine Einheit.

Das Erlernen von Gedichten, Fabeln, Sprichwörtern, Aussprüchen berühmter Männer hat Vorrang, aber nicht „Hirngespinste, unsinnige Rätsel, nichtsnutzige Geschichten von Gespenstern, Spuk, bösen Geistern, Nachteulen, Kobolden, Riesen, Waldgeistern und Teufelsgestalten.“

Die Bildung des Menschen definiert also seine Freiheit als Individuum. Auch wenn sich bei solchen Prinzipien den heutigen Pädagogen die Nackenhaare sträuben – ähnliche Ideale dominierten mit Wilhelm v. Humboldt den Unterricht an Schulen und Universitäten in Deutschland und waren Vorbild für die ganze Welt. Heute findet man diese Ansätze z. B. in China, was das Land zu einem unvergleichlichen Erfolg geführt hat. Europa und insbesondere Deutschland hat einen machtvollen Schatz an Dichtern und Denkern – warum nutzen wir ihn nicht endlich?