Der folgende Artikel erschien zuerst am 1. September 1995 in dem amerikanischen Nachrichtenmagazin Executive Intelligence Review. Das Memorandum dient einer internationalen Arbeitsgruppe des Schiller-Instituts als Grundlage für die Erstellung des 2. Bandes desMusikhandbuchs. Im Mittelpunkt des 1. Bandes, der gerade auch auf Deutsch und auf Italienisch erschienen ist, steht die Entdeckung der naturgegebenen Grundsätze der wohltemperierten Stimmung, der Register und des Vibrato der Belcanto-Singstimme.
Der 2. Band wird sich mit der Geschichte und den Registern der Solo- und Orchesterinstrumente beschäftigen, wobei vom Standard in Beethovens Missa Solemnis, Neunter Symphonie und späten Streichquartetten ausgegangen wird.
Die von Haydn und Mozart entdeckte und von Beethoven weiterentwickelte Kompositionstechnik der „Motivführung“ wird beschrieben, und gezeigt, wie sie die Entwicklung der Instrumente beeinflußt.
Wie LaRouche darlegt, reicht es jedoch nicht aus, die Motivführung lediglich mit entsprechenden Beispielen zu schildern. So wie in Band 1 für die vom bel canto abgeleiteten Prinzipien der wohltemperierten Stimmung und Registrierung der Singstimme, muß für die Motivführung der Beweis erbracht werden, daß sieinnerhalb der Entwicklung der Musik notwendig entdeckt werden mußte. Ihr Ursprung, ihre notwendige Entwicklung müsse dem Leser „transparent“ gemacht werden. Wir geben das Memorandum unter Auslassung des Vorwortes ungekürzt wieder.
Der Vorhang hebt sich
Wie jeder gute Musiker aus eigener Erfahrung weiß, beruht die Kunst des musikalischen Vortrags (Aufführung) auf den schöpferischen Fähigkeiten des menschlichen Gedächtnisses.
Damit berühren wir einen Aspekt, den – mit Ausnahme weniger ganz Großer – kein Musiker auch nur annähernd verstanden hat. Wilhelm Furtwänglers Mahnung an die Dirigenten, sie müßten lernen, „zwischen den Noten“ zu spielen, bewies, daß selbst führende Dirigenten jene elementare Prinzipien der Musik, die in der großen Kunst des Gedächtnisses enthalten sind, nicht beherrschen – jene Prinzipien, die hinter der Partitur, „zwischen den Noten“ versteckt liegen. Furtwänglers Kritiker verstanden nicht, daß er sie damit auf Fähigkeiten aufmerksam machen wollte, die im Bereich des Erinnerungsvermögens liegen. Er sprach nicht von Sinnesempfindungen, wie sie etwa eine Melodie aus Tierlauten hervorruft, sondern von etwas Wunderbarem, ausschließlich dem Menschen Eigenes – einer Idee. Er berührt die Frage, mit der auch wir uns im Folgenden auseinandersetzen: Was macht eine musikalische Idee aus?
Auch wenn man die Grundsätze des musikalischen Gedächtnisses noch nicht verstanden hat, kann man eine gute Komposition oder Interpretation genießen – aber man versteht nicht, warum und wie sie bewußt reproduziert werden kann. Offensichtlich geht es hier nicht um das „mechanische Gedächtnis“. Um welche Art Gedächtnis handelt es sich dann? Um diese Frage zu beantworten, betreten wir das Reich des Gedächtnisses selbst und denken an irgendeinen außergewöhnlich schönen musikalischen Vortrag zurück. Denken Sie an eine besonders schöne Erfahrung, die in Ihrem Gedächtnis haften geblieben ist. Vielleicht kann ein Musiker, der Schüler unterrichtet, die unten beschriebenen Prinzipien auch selbst mit einem angemessenen Beispiel demonstrieren.
Erinnern Sie sich an den Augenblick, wo der Solist auf der Bühne erscheint. Klammern Sie den Applaus und ähnliche ablenkende Geräusche aus der Erinnerung aus und hören Sie innerlich nur den musikalischen Vortrag, von dem Moment an, wo der Solist vor Ihren Augen erscheint, bis der letzte Ton in Ihrem Gedächtnis verklungen und Stille eingetreten ist. Vielleicht sind Sie selbst schon einmal öffentlich aufgetreten oder haben für sich allein musiziert; falls ja, vergleichen Sie Ihre Erinnerung an den Vortrag des Solisten bei jener Gelegenheit mit der Erinnerung an Ihre eigene Musiziererfahrung. Reflektieren Sie diese Erinnerungen ganz bewußt und versuchen Sie herauszufinden, wie das Gedächtnis bei diesen Vorgängen arbeitet.
Fügen Sie dann eine andere Erinnerung hinzu, denken Sie statt an einen Solisten an ein Duo. Nennen wir das eine Erinnerung eines zweiten Typs. Erinnern Sie sich an einen Abend mit Schubertliedern, vorgetragen von einem besonders guten Sänger und Pianisten, oder an eine meisterhafte Aufführung einer Violinsonate von Mozart, Beethoven oder Brahms. Wie Sie bald feststellen werden, empfehlen wir aus einem wichtigen Grund, sich zunächst auf diese drei Komponisten zu beschränken.
Dann denke man an einen dritten Typ von Aufführung, ein Streichquartett oder -quintett von Mozart, Haydn oder Beethoven, wobei wir das Beethovensche Spätwerk zunächst einmal davon ausnehmen sollten. Wir können auch an andere Komponisten und andere Musikaufführungen denken doch wir wollen uns zunächst auf diese drei konzentrieren. Man betrachte diese drei Typen musikalischen Vortrags – die ersten Schritte in unsere angestrebte Richtung – als Mannigfaltigkeit. Dabei ist zu beachten, daß wir den Begriff „Mannigfaltigkeit“ in dem Sinne verwenden, wie er in Bernhard Riemanns Habilitationsschrift und bei dem berühmten Paradox des Dialoges Parmenides von Platon verstanden wird. Man beschäftige sich zunächst bewußt mit dieser musikalischen Mannigfaltigkeit; machen Sie dort die Funktion des musikalischen Gedächtnisses aus, welches sich auf die Qualität des Vortrages auswirkt.
Später können wir dann ein höheres Ziel ansteuern, die Prinzipien fortgeschrittener Motivführung in Beethovens späten Streichquartetten.
Beschreiben wir jetzt zunächst die drei deutlich unterscheidbaren Arten von Gedächtnis, die den in Ihrem Gedächtnis spielenden Musiker leiten. Wenn diese definiert sind, vergleichen wir sie mit den konkreten geistigen Prozessen unseres Künstlers auf der Bühne.
An erster Stelle steht die Erinnerung an die Komposition als unteilbare, fortlaufende konzeptionelle Einheit, vom ersten bis zum letzten Ton der Aufführung. Um eine musikalische Katastrophe zu verhindern, muß diese Idee im Geiste des Interpreten von einem Punkt vor der Ausführung des ersten Intervalls bis zur völligen Stille nach Verklingen des Schlußtons konstant bleiben. Dann gibt es Übergänge, die den Prozeß der Entfaltung dieser unteilbaren Konzeption im Verlauf der Gesamtkomposition definieren. Jeder dieser Übergänge existiert wiederum selbst als unteilbare „Einheits-Idee“. Diese Abschnitte ziehen im Verlauf der Aufführung in der notwendigen Folge, die ihnen die Einheits-Idee der Gesamtkomposition vorschreibt, an uns vorüber. Schließlich gibt es die Idee des Entwicklungsprozesses, der die einzelnen Übergänge mit den vorhergegangenen verbindet. Jeder Moment der Entwicklung zwischen den Übergängen wird von zwei Ideen bestimmt, der Idee des Übergangs und, darüber, der Einheits-Idee. Verstößt man gegen diese Regel, so erreicht man bei der Aufführung keine musikalische Kohärenz.
Bei diesen drei Formen geistiger Prozesse geht es keineswegs nur um Beschreibung oder eine pädagogische Vereinfachung. Ihre Bedeutung springt uns bei der Aufführung ins Auge, sobald wir unsere Aufmerksamkeit darauf konzentrieren, daß jede der die Aufführung bestimmenden drei Ideentypen, aus dem Gedächtnis hervorgerufen werden und Produkte des Erinnerungsvermögens sind. Ist die Antwort erst einmal gezeigt, dann ist es wie bei jeder wirklich streng wissenschaftlichen Arbeit: Wir fanden des Rätsels Lösung nicht, weil sie so offensichtlich war. Studieren Sie deshalb die Funktion dieser drei Ideen des Gedächtnisses.
Fassen wir zusammen: Welche entscheidende Tatsache fällt einem modernen Sokrates auf, wenn wir die Erinnerung an die von Ihnen gewählte Aufführung des Solisten wie eben beschrieben studieren? Um einen kohärenten Vortrag zu bieten, der die gesamte Komposition in ihrer Einheit zum Ausdruck bringt, muß der Solist von Anfang an die kumulative Wirkung im Auge haben, die musikalische Idee, die mit dem Schlußton erreicht werden soll.
Damit sind wir implizit gezwungen, die Frage des Gedächtnisses auf einer Zeitleiste zu untersuchen. Sofort entdecken wir, daß es beim Einfluß der musikalischen Idee auf die Aufführung wesentlich um etwas geht, das man nicht als Nebeneffekt der Tonempfindungen erklären kann. Es gibt einen Widerspruch, ein Paradox, das man nur als musikalische Idee hören kann und hört, eine Idee, die nicht den Sinnen per se zugeordnet werden kann.
Worin liegt das Paradox? Machen Sie sich klar, wie die Idee des Vortrags als Ganzem den Vortrag der einzelnen Intervalle im Verlauf der Aufführung formt. Wir bemerken zwei musikalische Ideen, die beide die Komposition als Ganzes repräsentieren.
Davon ist die eine wirksamer als die andere. Die erste ist die Vorstellung von der Idee der Komposition als vollendetes Ganzes, die der Musiker schon vor Beginn gefaßt hat; er sollte sie während der gesamten Aufführung nicht verändern. Diese Idee bringt der Musiker aus seiner bisherigen, relativ vervollkommneten Erfahrung der Aufführung der Gesamtkomposition mit.
Die zweite Idee über die Komposition als Ganzes ist die Vorstellung von der unvollständigen Idee jenes Ganzen während ihrer Entstehung, als noch nicht wieder vollendete Idee: und das an jedem Punkt während des Vortrags. Dieses Prinzip gilt nicht nur für die Aufführung und die sie vorbereitenden Proben; auch der Hörer erfährt es.
Die erstgenannte Idee muß die zweite (mit-)bestimmen. Die Spannung zwischen diesen beiden, axiomatisch unterschiedlichen Qualitäten der Idee der Gesamtkomposition nehmen wir als ein Gefühl von „Spannung“ oder „Aufschub“ wahr, das einer erfolgreichen Aufführung die psychische Intensität, ihre nachvollziehbare „Energie“ vermittelt.
So wird bei jedem erneuten Hören eines Werks unsere Vorstellung von der Komposition als vollendetes Ganzes beeinflußt. Jedes erneute Anhören bzw. jedes neue Arbeiten am Vortrag des Werks in der Öffentlichkeit oder bei Proben verändert die Vorstellung von der Komposition als geschlossener Einheit. Jede Modifizierung der Idee des Werks als geschlossene Einheit (der erstgenannte Ideentyp) findet ihren Niederschlag in der Spannung zwischen dieser Idee und der Idee, die mit der Entfaltung der Komposition während des Vortrages verknüpft ist.
Darin also liegt das Paradox. Die Entfaltung des zweites Ideentyps – sie entspricht der Idee von der Komposition im Entstehungsprozeß, verläuft in zeitlichem Sinne vorwärts, vom ersten Intervall bis zum Schlußton. Die Idee der Komposition als geschlossene Einheit – was dem ersten Ideentyp entspricht – zeigt sich in ihrer Wirkung auf das Gesamte, entsprechend der Wirkung des vollendeten( abgeschlossenen) Vortrags auf den noch nicht abgeschlossenen. Die erste Idee entspricht also einer zeitlich rückwärts gerichteten Ordnung, welche im Gegensatz zu dem naiven sinnlichen Eindruck der Aufführung steht.
Man stelle diesen Standpunkt dem des naiven Beobachters gegenüber, welcher meint, die Idee von der sich entwickelnden Komposition beruhe zu jedem beliebigen Zeitpunkt der Aufführung auf dem „nicht-teleologischen“, kumulativen Effekt des bis dahin musikalisch vorgetragenen. Tatsächlich aber ist es die Zukunft (die Idee des Werks als geschlossene Einheit) und nicht das, was sich bis dahin in der relativen Vergangenheit abspielt, welche zu jedem Zeitpunkt der Aufführung bestimmend ist für die Ausformung jedes einzelnen Intervalls.
Das ist das Paradox, der springende Punkt: Die Idee ist gleichzeitig vorwärts und rückwärts gerichtet. Diese topologische Anomalie ist entscheidend für die Rolle des Gedächtnisses beim Vortrag des Künstlers.
So wird durch den simplen Akt der Vervollkommnung einer musikalischen Interpretation die axiomatische Definition derselben verändert; statt der empirischen Auffassung zu folgen, welche die Musik als Epiphänomen des Gehörsinns betrachtet, wird es möglich, in die tieferen Regionen des menschlichen Geistes, wo große Kunst und Wissenschaft gemeinsam beheimatet sind, vorzudringen. In diesen tieferen Regionen müssen wir die wahren Wurzeln der Musik in ihren ältesten Formen, als Singen klassischer Dichtung, untersuchen. Wenn wir erkennen, was die Musik und Poesie mit der klassischen bildenden Kunst und der Wissenschaft gemeinsam verbindet, so stoßen wir auf den notwendigen und zureichenden Grund, warum das Gedächtnis notwendig die klassische Motivführung als eine ihm angemessene Kompositionsmethode schaffen würde.
Dichtung, Malerei und Wissenschaft
Man vergleiche dieses Paradox mit demselben Paradox bei der Interpretation klassischer Dichtung. Als einfachstes passendes Beispiel wollen wir das bekannte Mailied von Goethe verwenden. Bis zur letzten Strophe ist dies zwar ein Gedicht von der Hand eines im poetischen Handwerk großen Meisters, ansonsten aber ist es trivial. Erst die letzte Strophe macht das Gedicht aus; und dennoch sind alle vorhergehenden Strophen notwendig, um die Wirkung der letzten Strophe zu erzeugen. Ein Künstler, der dieses Gedicht rezitiert, muß im Prozeß des Vortragens von der ersten bis zur letzten Strophe die Schlußstrophe vorausahnen. Betrachtet man Raphaels Schule von Athen, seine Verklärung Christi oder Leonardo da Vincis Felsenmadonna, so erkennt man, daß in allen drei Fällen im Gemälde zwei Standorte dargestellt werden. Bei allen dreien ist der wahre Standort aber weder der eine noch der andere, auch nicht die simple Addition der beiden; das Gemälde – seine Idee – ist Ergebnis des Entwicklungsprozesses, der durch das Erwägen der beiden vordergründigen Standorte in beliebiger Reihenfolge hervorgerufen wird.
Für die klassischen Tragödien Friedrich Schillers gilt das gleiche, wie Schiller selbst beschreibt. Das Drama beginnt mit einem Keim, der alle Elemente der sich entfaltenden Tragödie als Potential in sich trägt. Der Entfaltungsprozeß schreitet voran bis zu einem Punkt der Entscheidung, den Schiller punctum saliens (den springenden Punkt) nennt, an dem die Folgen des moralischen Mangels im Charakter des Helden sichtbar werden. Der dann folgende tragische Ausgang hat auch die Funktion, die Natur dieses Mangels, und damit verbunden, dessen katastrophale Folgen aufzuzeigen. Zum zweiten soll dieser tragische Ausgang demonstrieren, daß er ohne diesen Charakterfehler hätte vermieden werden können. Beide Funktionen dienen aber nur einem höheren Zweck: Sie sollen beim Publikum einen freudigen Optimismus auslösen. Er soll zeigen, daß wir uns dieser Fehler, die zum Untergang führen, bewußt werden können. Die Idee des Ganzen, die aus dem tragischen Ausgang klar wird, ist also die Idee, die der Autor des Dramas ausdrücken will, und sie muß das Verhalten der Schauspieler und des Regisseurs während der Aufführung bestimmen.
In der klassischen Kunst und Wissenschaft sind Ideen keine einfachen Sinneserfahrungen. Die Natur dieser für die klassischen Kunstformen oder die Wissenschaft typischen Ideen entspricht der Lösung eines Paradoxons der Sinneserfahrungen. Bei dieser tieferen Verbindung zwischen künstlerischen und wissenschaftlichen Ideen müssen wir den Begriff der Kausalität betonen, den G. W. Leibniz als „notwendigen und zureichenden Grund“, Johannes Kepler als „Vernunft“ bezeichnet.
Die gleiche Vorstellung von Kausalität bei Leibniz‘ „notwendigem und zureichenden Grund“, drückt sich bei der musikalischen Interpretation in dem oben beschriebenen Paradox aus. Es ist der bestimmende Einfluß der gesamten, vollendeten Komposition auf die gesamte Aufführung, welcher die Kausalität der Musik Haydns, Mozarts, Beethovens, Schuberts und Brahms‘ist. Dies entspricht dem Begriff der Ursache (Vernunft) in Keplers Werk. Es entspricht der Idee der Kausalität bei Nikolaus von Cusa, dem Begründer der modernen Wissenschaft, und mehr noch als bei diesem, bei Plato. Darum haben alle großen Wissenschaftler eine Vorliebe für die Musik von Bach, Mozart, Haydn, Beethoven, Schubert und Brahms: Die Fähigkeit des menschlichen Geistes, die für umwälzende Entdeckungen in den Naturwissenschaften unverzichtbar ist, ist die gleiche geistige Kraft, mittels derer große klassische Musik komponiert und interpretiert wird. Die klassische Kompositionsmethode, die wir hier als Motivführung bezeichnen, ist die Art Komposition, die einem herausragenden wissenschaftlichen Forscher als bestes Modell für seine richtige geistige Verfassung dient.
Das ist der Schlüssel, um zu verstehen, warum die Motivführung notwendig entdeckt und entwickelt wurde.
Daß die Kausalitätsprinzipien bei wissenschaftlichen Entdeckungen und bei der kohärenten musikalischen Komposition identisch sind, ist entscheidend, wenn man aufzeigen will, warum die Motivführungs-Methode, genauso wie die wohltemperierte Belcanto-Polyphonie, als Asymptote des Fortschritts der Formen musikalischer Komposition und Aufführung – einem wesentlichen Element der Universalgeschichte – notwendigerweise auftreten mußte. Das Wesen der Motivführung liegt nicht in den mit ihr verbundenen Formen. Es liegt vielmehr in der Notwendigkeit ihrer Enstehung: dem notwendigen und zureichenden Grund.
Um die Musik zu erfassen, müssen wir verstehen, wie ihre Existenz durch das universale Prinzip der Kausalität, das Leibniz „notwendigen und zureichenden Grund“ nannte, zusammengefaßt wird. Betrachten wir dieses Kausalitätsprinzip, seit es zum ersten Mal im menschlichen Wissen dokumentiert ist – in Platons Dialogen. Suchen Sie die Verbindung dieses Prinzips zur Musik, indem Sie einige der entscheidenden und einfachsten, leider wenig bekannten Grundsätze des Gebrauchs der gesprochenen Sprache betrachten.
Dem später ausgeführten Argument über der Kausalität müssen wir die Feststellung voranstellen, daß der Dialog Parmenides als thematische Einführung für die späteren Dialoge Platons zu verstehen ist. Dort wird die These aller anderen Dialoge als erschütterndes ontologisches Paradox konstatiert.
Wie bei der musikalischen Interpretation auch sollte niemand seine Zeit mit dem dümmlichen akademischen Streit darüber verschwenden, welcher Dialog wann geschrieben wurde. Ideen entstehen nicht zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung; jeder, der in seinem Leben mehr als eine wertvolle Idee entwickelt hat, weiß, daß Ideen zur Veröffentlichung niedergeschrieben werden, wenn es die Umstände erfordern, und nicht, wenn sie zum ersten Mal gedacht werden.
In jedem kohärenten Geist – und Platon war hierfür ein Musterbeispiel – existieren Ideen in der konzeptionellen Reihenfolge „notwendiger Vorgänger“ – „notwendiger Nachfolger“. Die Reihenfolge der Ideen eines kohärenten Denkers ist die, nach der sie nach dem Prinzip „notwendiger Vorgänger“ – „notwendiger Nachfolger“ auftreten müssen. Kein ernsthafter Denker würde je argumentieren, daß die Reihenfolge der Veröffentlichung von Gedanken per se ein überzeugender Beweis dafür sei, daß die Gedanken in dieser Reihenfolge im Geist des Verfassers entstanden.
Wer die für Platons spätere Werke charakteristischen Ideen kennt, muß jede Interpretation ablehnen, die im Parmenides etwas anderes sieht als einen Prolog, den „notwendigen Vorgänger“ der anderen Dialoge. Wer das nicht zugibt, hat in diesen Dialogen nichts Wesentliches verstanden. Wie auch bei allen großen musikalischen Kompositionen der hier untersuchten Mannigfaltigkeit, liegt den Elementen in ihrer Reihenfolge eine Idee zugrunde, welche die Entfaltung der Elemente bestimmt. Genau dieses Prinzip ist das Thema des Parmenides-Dialogs, der Streitpunkt zwischen den Hauptpersonen des Dramas, Sokrates und Parmenides. Der Punkt, um den es hier geht, ist von einer ganz besonderen Art: wir haben es mit einem selbstreflexiven, „isoperimetrie-artigen“ Vorstellung einer Idee zu tun, die sich selbst, ohne vorher festgelegte Begrenzung, wiederspiegelt.
Beim Parmenides geht es vorrangig um die Kausalität. Die Frage stellt sich folgendermaßen.
Wenn ein Vieles (d. h. eine „Mannigfaltigkeit“ im Sinne von Riemanns Habilitationsschrift) gegeben ist, kann dieses Viele dann als einheitliche Idee, als eine einheitliche Konzeption ausgedrückt werden? Können die „Vielen“ Übergänge und die sie verbindenden Entwicklungen alle unter einer leitenden, einheitlichen Idee der Komposition als Ganzer zusammengefaßt werden? Tiefergehend lautet die Frage: Kann die Vielfalt des Universums unter einer unveränderlichen Idee zusammengefaßt werden? Zum Beispiel: „Könnte Gott existieren?“ Für Platon ist Gott der „Komponist“ – ein Begriff, den Platon im Sinne des Komponisten von Dichtung oder Musik (was für ihn das gleiche war) gebraucht.
Parmenides scheitert in dem Dialog wiederholt bei dem Versuch, diese Aufgabe zu meistern. Er scheitert ebenso, wie ein Biologe scheitern würde, der die grundsätzliche Besonderheit lebender Prozesse mit Ähnlichkeiten und Unterschieden zwischen Gattungen zu erklären versuchte. Der Schlüssel zu dieser Selbsterniedrigung des Parmenides wird in dem Dialog nur kurz angesprochen: Parmenides läßt die grundsätzliche Bedeutung der Veränderung außer Betracht. Für Platon ist dieses Prinzip der Veränderung das des häufig zitierten Aphorismus des Heraklit: „Nichts bleibt konstant außer der Veränderung.“ Nicht in den Dingen liegt das Wesen, sondern in der Veränderung. Kehren wir deshalb zu der Spannung zwischen den interagierenden Ideen der musikalischen Komposition als Ganzes zurück.
Für Plato entspricht unsere Idee von der vollständigen Aufführung der Komposition, die sich von Anfang bis Ende nicht ändert der Idee des Guten. Die unvollständige Idee des Ganzen während der Aufführung entspricht Platons Idee des Werden. Es handelt sich ontologisch um jenes Prinzip der Veränderung, welches ein Vieles zusammenfaßt. Die Untersuchung des Guten und des Werden ergibt sich folgerichtig aus dem im Parmenides aufgeworfenen ontologischen Paradox und wird in den Dialogen, denen der Parmenides als „notwendiger Vorgänger“ dient, ausgearbeitet.
Zum Vergleich betrachte man, wie Georg Cantor Platons Begriffe des Guten und des Werden auf die Mathematik anwendet. Für Cantor drückt sich Platons Werden in der Mathematik im Transfiniten aus, das Gute entspricht mathematisch dem Begriff des Absoluten. Platon, Cusa, Kepler, Leibniz u. a. betrachten die Spannung zwischen dem Guten und dem Werden als die Form der Kausalität im Universum als Ganzem: – als seinen „notwendigen und zureichenden Grund“. Man denke sich diese Betrachtungen Platons in musikalischen Begriffen.
Die Stellung des Parmenides unter Platons späten Dialogen ist wichtig, weil der Inhalt dieser späten Dialoge die Grundlage für das rationale Verständnis naturwissenschaftlichen Wissens und musikalischer Prinzipien bildet. Ihre relevanten Aussagen kann man nur richtig verstehen, wenn man sie als Antwort auf das im Parmenides dargelegte Paradox wertet. Deshalb fühlt sich jeder, der Platons Dialoge oder allgemein seine sokratische Methode verfälscht darzustellen versucht, zu einer verlogenen Kritik des Parmenides verpflichtet.
Fassen wir die wichtigsten Elemente von Platons Argumentation für unsere Zwecke zusammen.
Folgen wir Platon in seinem Timaios. Für ihn ist Gott der Komponist des Universums. Diese Komposition entspricht einer Idee, einer Idee, die vom Anfang bis zur Vollendung der Komposition unverändert bleibt. Diese Idee hat die Eigenschaft des „Guten“, wie Platon sagt, oder wie Cantor sagt, des „Absoluten“. In jedem Augenblick der Aufführung ist diese Komposition ein unvollständiges Werden; aber die Richtung dieses Werden ist gestaltet unter dem bestimmenden Einfluß des Guten. Für Platon, Cusa, Kepler oder Leibniz ist dieser musikalische Begriff der Gestaltung des Werdens durch das Gute die Vernunft. Der Begriff des Naturrechts, ob bei Naturprozessen oder in der Gesellschaft, bezeichnet die gleiche Vernunft.
Aristoteles und seine Nachfolger, einschließlich der philosophischen Materialisten wie der modernen Empiristen, Romantiker und Positivisten, gehen Platons Argumentation aus dem Weg. Aristoteles gab den Namen des verstorbenen „Platon“ einer Karikatur, einem Golem, den er erfunden hatte, um Leichtgläubigen Angst zu machen. Die Aristoteliker behaupten nämlich, Platons Idee des „Guten“ sei eine Art Endergebnis, vielleicht „am Ende aller Tage“. Damit schüren diese angeblichen Kritiker einen Aufruhr über irreführende Begriffe wie „letzter Grund“ und „Teleologie“. Auf der Grundlage solcher falschen Argumente graben sie sich in den Treibsand der Sinneseindrücke ein; sie beharren darauf, daß ein Objekt sich heute nur bewegen kann, weil es gestern von irgendetwas angestoßen wurde. Aus diesem unerschütterlichen Glauben an die Sicherheit der Sinneseindrücke heraus schreiben sie jede Veränderung, die nicht in diesem Sinne als perkussiver oder vergleichbarer Vorgang erklärt werden kann, als Epiphänomen Aristoteles‘ Metaphysik zu.
Diese Einbildung illustriert nur die Tatsache, daß das Ziel kein mystisches „Endergebnis“ ist; wie die unveränderliche Idee, die die Ausformung einer gesamten musikalischen Komposition gestaltet, ist das Ziel jetzt und immer. Aristoteles und seine Anhänger bieten im wesentlichen nur ein Echo der Spitzfindigkeit von Parmenides‘ Eleaten vor ihnen. Das Prinzip der Veränderung, das nachweislich die aufeinander folgenden Glieder des Vielen ordnet, impliziert eindeutig die Existenz des Einen, das das Viele zusammenfaßt. Aus der Wirkung, die die Hand des Guten zeigt, weiß man, daß das Gute das Eine ist.
Die hier behandelte musikalisch relevante Frage stimmt mit meiner Darlegung der entscheidenden Implikationen von Bernhard Riemanns Hypothesen-Habilitationsschrift für die Wirtschaftswissenschaft überein. Riemanns Entdeckung ist so wenig bekannt, geschweige denn verstanden, daß es für den Leser sicher keine überflüssige Last bedeutet, deren wesentliche, hier unmittelbar bedeutsamen Züge erneut zu beschreiben. Man versteht Riemann richtig, wenn man seine Arbeit als Bekräftigung eines äußerst wichtigen Teils von Platons Vorstellung auffaßt, ausgedrückt in Begriffen der modernen Physik.
Riemanns „Werden“
Vergessen wir einmal jene verdrehten Mathematiker, die von der „Krümmung der physikalischen Raumzeit“ sprechen. Riemanns oft falsch dargestellte Entdeckung (wie erstmals 1854 in seiner Hypothesen-Habilitationsschrift niedergelegt) hat für den Begriff der Kausalität in der mathematischen Physik und für das Prinzip der Motivführung in der Musik zusammengefaßt folgende Bedeutung.
Die heutige Schulbuchmathematik hat ihren Ursprung in einem Produkt naiver Einbildung, einer Vorstellung der Raumzeit, die der traditionellen Schulbuchinterpretation der Geometrie der alten Griechen entspricht. In dieser naiven Phantasie ist der Raum axiomatisch durch drei elementare Richtungssinne definiert, die als unbegrenzt und mit perfekter Kontinuität verlängerbar angenommen werden: vorwärts-rückwärts, oben-unten und seitwärts in zwei Richtungen. Der Zeit wird ein einfacher Richtungssinn zugeordnet: rückwärts-vorwärts. Die Hauptpostulate dieser Vorstellung einer vierfach verknüpften Raumzeit sind die willkürlichen Annahmen, daß Punkte als unendlich kleine räumliche Regionen existierten, deren Größe absolut Null ist, und daß eine „Gerade“ die kürzeste Entfernung zwischen zwei Punkten im Raum sei. Die Axiome der dreifach verknüpften Mannigfaltigkeit des Raumes machen diese Postulate notwendig.
Weder unsere Sinneseindrücke noch eine solche Mathematik erkennen irgendeine Art von Ursache und Wirkung in unserem Universum an.
Der Versuch, eine dieser naiven, vierfach verknüpften Raumzeit-Mannigfaltigkeit entsprechende mathematische Physik zu entwickeln, läuft daraus hinaus, die Lage von Punkten innerhalb eines Objekts so zu bestimmen, daß sie Punkten im naiv definierten Raum entsprechen. Die Veränderung dieser Definition in der Zeit wird als lineare Bewegung angenommen. Veränderungen, die nicht aus einer einfachen Lageänderung in der Raumzeit bestehen, werden naiv in Begriffen einer einfachen Idee von Bewegung definiert. Ursache und Wirkung sind nicht vorgesehen.
Diese naive mathematische Physik kommt in eine Krise, wenn experimentell Bewegungsarten nachgewiesen werden, die sich nicht in Begriffen der axiomatischen Eigenschaften der naiven Raumzeit erklären lassen. Das haben schon führende Mitarbeiter der Akademie Platons in Athen und deren Nachfolger festgestellt, wie etwa Aristarch, Archimedes und Eratosthenes. Zum Beispiel bewies simple Astronomie, daß man für Messungen auf der Erdoberfläche keine ebene, sondern eine sphärische Geometrie benötigte. Keplers Entdeckung des Prinzips der universellen Gravitation bei seiner Arbeit zu den Umlaufbahnen der Planeten ist ein weiteres Beispiel. Sehr bedeutsam ist die Wirkung von Ole Roemers astrophysischer Messung der „Lichtgeschwindigkeit“ von 1677 bei etwa 3 · 108 Metern pro Sekunde. Diese regte Christiaan Huyghens zu seiner Definition von Grundsätzen der Reflexion und Refraktion des Lichts an, auf die hin wiederum Jean Bernoulli und Gottfried Leibniz nachwiesen, daß die „algebraische“ mathematische Physik Galileos, Descartes‘ und Newtons für den Bereich physikalischer Phänomene unbrauchbar, und statt dessen eine „nichtalgebraische“ Mathematik des transzendenten Bereiches notwendig war.
Wird ein physikalisches Phänomen entdeckt, das eine Bewegung hervorruft, deren Bahnen der Doktrin der existierenden mathematischen Physik widersprechen, so wirkt das jedesmal ähnlich wie Bernoullis Nachweis von dem Gesetz der allgemeinen Lichtbrechnung. Jede dieser neuen Feststellungen nimmt die Form einer Ausdehnung an, so wie auch unsere naiven Vorstellungen von Raum und Zeit von einer allgemeinen Ausdehnung ausgehen. Diese Ansammlung von Ausdehnungen, angefangen mit Vorstellungen wie „Masse“ und „Brechung einer konstanten Rate retardierter Ausbreitung des Lichts“, steht für eine solche Vorstellung der Ausdehnung. Solche Vorstellungen von Ausdehnungen veranlassen uns, die „physikalische Raumzeit“ in Begriffen wie „ausgedehnte Mannigfaltigkeit von n Dimensionen“ zu beschreiben.
Alle diese n-fachen Betrachtungen stehen in Beziehung zu unserer Vorstellung von Messung, dem Messen von Wirkung, von „Veränderung“. Diese von der Vorstellung von Bewegung bzw. Veränderung in der linearen Raumzeit abweichenden Messungen, sehen, bezogen auf unser naives Bild der vierfach ausgedehnten Raumzeit, wie „Krümmung“ aus: Krümmung der relevanten Bewegung oder allgemeiner der relevanten Veränderung.
Riemanns Kommentatoren übersehen gemeinhin, daß uns seine Argumentation direkt in den subjektiven Bereich führt. Eigentlich sollte darüber bei den Forschern des 20. Jahrhunderts kein Zweifel bestehen, denn das in dieser Hinsicht entscheidende, posthum veröffentlichte Werk lag ihnen vor: Metaphysik und Psychologie, auf das in den Hypothesen bei der Erwähnung Herbarts in Verbindung mit Gauß Bezug genommen wird. Die Entwicklung der Idee der n-fachen Mannigfaltigkeit der physikalischen Raumzeit reflektiert eine Folge von Entdeckungen physikalischer Prinzipien: Das Wort „Entdeckung“ müßte jeden aufmerksamen Wissenschaftler überzeugen, daß die Physik sich als ein Zweig der rationalen Psychologie erwiesen hat, ein Feld, das genau wie die Musik im subjektiven Bereich wurzelt. Das macht Riemanns Entdeckung so entscheidend.
Dabei geht es um folgendes. Jede formale (d. h. deduktive) Mathematik hat – so wie die Perversion einer Theorie des Kontrapunkts in der Musik bei einem modernen Positivisten – die Form eines deduktiven Theoremgitters. Das heißt, ein Satz von Behauptungen wird zu Theoremen erhoben, vorausgesetzt, keine steht im Widerspruch zu dem Satz zugrundeliegender, zusammenhängender axiomatischer Annahmen. Eine deduktive Mathematik für eine vierfach ausgedehnte Raumzeit ist ein Beispiel eines solchen Theoremgitters, ebenso jede formale mathematische Darstellung einer n-fachen Mannigfaltigkeit der physikalischen Raumzeit.
Jede Veränderung der Axiome eines solchen Theoremgitters produziert ein neues Theoremgitter, das mit dem auf dem vorhergehenden Axiomensatz beruhenden Gitter formal und grundsätzlich unvereinbar ist. Plato und Riemann bezeichnen einen solchen Satz zusammenhängender Axiome als Hypothese; jede Veränderung des Axiomensatzes steht für eine neue Hypothese.
Liest man Riemanns Hypothesen-Aufsatz oder seine späten Schriften zu mathematisch-physikalischen Themen, so erkennt man die herausragende Bedeutung des Begriffs „Hypothese“ als das durchgehende Thema seiner mathematischen Physik. Auf dieser Grundlage entlarvte er Isaac Newton als stümperhaften Empiristen, als wissenschaftlichen Analphabeten. (Siehe dazu „Why Most Nobel Prize Economists Are Quacks“, EIR, 28. Juli 1995, S. 31, Anmerkung 30.)
Jede gültige Entdeckung eines Prinzips, das die bevorzugte Wahl einer n-fachen Mannigfaltigkeit der physikalischen Raumzeit ändert, steht für eine Veränderung der axiomatischen Annahmen, die der mathematischen Physik zugrunde liegen. Es ist hauptsächlich eine Veränderung der Ontologie der Axiome, nicht der Form der Raumzeit als solcher. Daß die neue Mathematik mehr Gültigkeit hat als die alte, wird bei der Messung von Bewegung oder analoger Wirkung nachgewiesen. Es wird eine Veränderung in den charakteristischen Eigenschaften der Messung dieser Bewegung oder Wirkung geben. Deshalb ist es wünschenswert, aber nicht zwingend notwendig, einen korrekten Wert zu messen; für den Anfang reicht es, wenn man nachweist, daß beim Messen eine bestimmte Qualität von Änderung notwendig ist.
Zwar liegt die Messung scheinbar in dem Bereich, den Pedanten als „wissenschaftliche Objektivität“ bezeichnen; dies trifft jedoch nicht für den Akt der Entdeckung einer neuen Mathematik zu. Wir sollten unsere Aufmerksamkeit nun der Tatsache zuwenden, daß jede wahre Wissenschaft (und auch Kunst) ein Produkt der Fähigkeit ist, solche Entdeckungen zu machen. Die grundsätzlichen Entdeckungen innerhalb des gesamten bisherigen menschlichen Wissens lassen uns auf ein Prinzip schließen: jene einzigartige Fähigkeit, mittels derer gültige, grundsätzliche axiomatisch-revolutionäre Entdeckungen gemacht werden. Diese Fähigkeit nennen wir „kreative Vernunft“, die Fähigkeit, aufgrund derer Moses in der Schöpfungsgeschichte (Genesis 1:26-30) schloß, daß Mann und Frau nach dem Bilde des Schöpfergottes geschaffen sind.
Durch diese Fähigkeit der kreativen Vernunft, und durch nichts anderes, konnte die Menschheit ihren Einfluß auf die Natur von einem den Affen entsprechenden Bevölkerungspotential von weltweit wenigen Millionen auf jene potentiellen relativen Bevölkerungsdichten – und den damit verbundenen demographischen Verbesserungen – erhöhen, die den menschlichen Fortschritt bis Mitte der 60er Jahre dieses Jahrhunderts kennzeichneten. Dieses Prinzip der kreativen Entdeckung, welches das Kind erfährt, wenn es die Entdeckung eines gültigen axiomatisch-revolutionären Prinzips nachvollzieht, ist die Ursache für den Anstieg der Macht des Menschen über die Natur pro Kopf: die psychologische Ursache einer physischen Wirkung. Wie stellen wir dieses Wirkungsprinzip mathematisch dar?
Jetzt wird es interessant; wir sind bei dem Thema angelangt, das für das Verständnis der Motivführung entscheidend ist.
Die Inkonsistenz, die durch den Übergang von einem Theoremgitter zum anderen überbrückt wird, hat eine mathematische und mathematisch-physikalische (d. h. ontologische) Qualität, die wahlweise als (formal absolute) mathematische Diskontinuität oder als Singularität bezeichnet wird. Graphisch könnte man dies als Punkt von unendlicher Kleinheit darstellen, der aber mathematisch nie Null ist, oder als eine Linie, deren Dicke ähnlich unendlich klein, aber nicht Null ist. Die zunehmende Ansammlung von axiomatisch-revolutionären Entdeckungen im Laufe der Menschheitsgeschichte steht also für eine Ansammlung solcher Diskontinuitäten, die implizit abzählbar ist; einem Menschen von heute, auf den diese Kultur übertragen wird, verleiht sie also eine Qualität des Wissens, die in Begriffen der Dichte der Diskontinuitäten pro Wirkungsabschnitt: Wirkung des Denkens ausgedrückt werden kann. Anders gesagt, beschreibbar als n-fache Mannigfaltigkeit der physikalischen Raumzeit. Diese Art Mannigfaltigkeit, die mit Funktionen zunehmender Dichte solcher Diskontinuitäten verbunden ist, ist charakteristisch für nichtentropische Prozesse, wie zum Beispiel lebende Prozesse allgemein, das menschliche Denkvermögen und die typische Handlungsweise erfolgreicher Gesellschaften.
Jede musikalische Komposition, die die Bedingungen der Motivführung erfüllt, hat die gleiche Qualität wie die kreative wissenschaftliche Schaffung eines gültigen neuen Theoremgitters. Diese einzigartige Qualität definiert die Gesamtkomposition als einheitliche, nur dieser Komposition eigene Idee. Die Arten modaler Übergänge, die Wolfgang Mozart durch seine Entwicklung einer an Bach orientierten Methode der Motivführung 1782-86 und danach in der Praxis definierte, sind beispielhaft dafür. Beethovens Revolution von Mozarts motivischer Methode, die sich besonders in seinen späten Streichquartetten zeigt, ist ein weiteres Beispiel. Die modale Besonderheit, die Mozart in Bachs Musikalischem Opfer erkannte, und die Ausweitung des gleichen modalen Prinzips durch Beethoven, was zu einer topologischen Revolution in den Modalitäten führte, sind beispielhaft für die Komposition, die durch einen Akt reiner kohärenter Kreativität entsteht: die Schaffung einer relativ absoluten musikalischen Idee durch eine Folge von Revolutionen in der Behandlung eines ursprünglichen Intervallpaars, das, ähnlich wie die C-Dur/c-Moll-Modalität Bachs/Mozarts, einen modalen Kern bildet.
Gehen wir noch einmal kurz zu Riemann zurück: Man wende seine Vorstellung von der Hypothese auf den axiomatisch-revolutionären Fortschritt der mathematischen Physik an. Zum Zwecke einer ersten Annäherung wollen wir diese Idee des Fortschritts der Physik auf die Untersuchung einer musikalischen Komposition zu irgendeinem Zeitpunkt im Lauf einer Aufführung anwenden. Dafür, daß es Fortschritt gibt, haben wir einen „objektiven“ Maßstab: den Anstieg der potentiellen relativen Bevölkerungsdichte, als Maß für die Wirkung einer Gesellschaft, die eine bestimmte Entwicklung wissenschaftlichen Wissens praktiziert. Wenn wir uns bewußt daran erinnern, wie wir eine gültige, axiomatisch-revolutionäre Entdeckung nachvollzogen haben, kennen wir die Methode – die Vorstellung der Modalität –, mittels derer Fortschritt geschaffen wird. Dann sind wir bereit, an den wissenschaftlichen Fortschritt so heranzugehen, ihn so auszuführen, wie ein großer Musiker eine große Komposition vermittelt. Dann begreifen wir wie Platon und Kepler das Universum als Komposition. Dann verstehen wir mit Leibniz das Prinzip des notwendigen und zureichenden Grundes. Dann haben wir die Bedeutung von Riemanns Entdeckung verstanden und sind in der Lage zu erkennen, warum Mozarts und Beethovens Revolutionen in der Anwendung der Methode der Motivführung so wichtig sind.
Nunmehr wende man sich der gemeinsamen Wurzel der Musik und der Mathematik zu: der Belcanto-Vokalisation des gesprochenen Wortes.
Derridas Kakophonie
Die Kommunikation von Ideen in der Gesellschaft geschieht hauptsächlich mittels des gesprochenen Wortes, der Sprache, deren schwacher Schatten das geschriebene Wort ist. Die vermittelten Ideen sind weder in der gesprochenen noch der geschriebenen Sprache enthalten – obwohl eine gut gesungene Phrase der Realität viel näher kommt als Sprachfibeln wie das New York Times Style Book oder die zur Zeit beliebten Verrücktheiten der politisch korrekten „Dephonisation“ der geschriebenen Sprache à la Jacques Derrida, wie sie die Gesellschaft für moderne Sprache in Amerika verbreitet.
Das gesprochene Wort ist die Vokalisation, wie sie das natürliche Belcanto-Potential des menschlichen Sprechapparats erfordert. Das gesprochene Wort verlangt als wesentliche Komponente eine der Singstimme entsprechende Registrierung. Die gehobene Form des gesprochenen Wortes, etwa im Englischen die Bühnensprache Shakespeares, ist weit mächtiger im Ausdruck als das geschriebene; es sei denn, der Leser und der Verfasser sind sich einig, daß die geschriebene Sprache phonetisch rekonstruiert werden muß, als ob sie in der Art des Belcanto-Gesangs von einem klassisch ausgebildeten Schauspieler, der Shakespeare oder Schiller spielt, mit Registerwechseln gesprochen wäre. Eine gute Zeichensetzung dient, besonders im Englischen, dem Ziel, den Leser dazu anzuleiten, die mit dem geschriebenen Text beabsichtigte klassische (d. h. Schillersche oder Shakespearesche) Form der gesprochenen Äußerung zu rekonstruieren. Große Dichtung, die klassische Tragödie und als höchster Ausdruck der klassischen Poesie, das mit Motivführung komponierte Lied, vermittelt Ideen am besten, am reichsten.
In der gesprochenen oder geschriebenen Sprache erklingen, ähnlich wie in den Aufführungen des großen Dirigenten Wilhelm Furtwängler, die Ideen zwischen den Worten, so wie die musikalische Idee zwischen den Noten der Partitur gesungen wird. Der Schlüssel zum Verständnis dazu ist die Ironie. Wie Riemanns Werk im verwandten Fall der mathematischen Physik illustriert, liegt der Ideeninhalt der Sprache außerhalb der engen Bandbreite des Wortschatzes und der Grammatik der gesprochenen oder geschriebenen Sprache, in dem übergeordneten Bereich der Metapher. Im Gegensatz dazu ist der Symbolismus nur für Brotgelehrte, erotisch Überspannte, Tölpel, oder, um ein unter Musikern gebräuchliches milderes Wort des Tadels zu gebrauchen, Romantiker. Wie bei grundsätzlichen Entdeckungen in der Wissenschaft auch entstehen Ideen als formale Diskontinutiäten, Singularitäten.
Wir haben es also mit drei verschiedenen Vorstellungen gesprochener Kommunikation zu tun: erstens die Ideen selbst, die nicht in der Bandbreite der Sprache als solcher enthalten sein können; zweitens die literarische Form gesprochener Sprache, die höchste Form der Kommunikation; und drittens die Schrift, bzw. den sich in der Schrift reflektierende Schatten des gesprochenen Wortes. Es wird literarisch, wenn der Komponist (Autor) und der die Komposition nachschaffende Leser verstehen, daß der geschriebene Text dazu dient, dem Leser den implizierten, literarischen, gesprochenen Text im Geist hörbar zu machen.
Ein Beispiel. Ein Text ist dann literarisch, wenn er – neben anderen Qualifikationen – von einem literarischen, d. h. klanglichen (phonischen) Standpunkt aus geschrieben und interpunktiert ist: Er muß Registerwechsel der Stimme widerspiegeln, muß Phrasen und Nebensätze, die als Subjekte, Prädikate oder Appositionen dienen, absetzen, und ähnliche Bedürfnisse der Sprechstimme befriedigen. Ungebildet ist ein Text, der den Vortragenden zum „Herunterrasseln“ oder „Leiern“ anleitet, oder einer Art, die beim mündlichen Vortrag geschriebener Texte als „elegant“ gilt und die man in der Schule oder anderen Institutionen lernt.
Interessanterweise findet man die schlechtesten Aufführungen bei technisch versierten Musikern, die – wie am Stil ihrer Aufführung erkennbar wird – den Notentext, einen poetischen oder einen Prosatext so lesen, als gäbe es eine Schriftsprache für sich und die nicht sehen wollen, daß diese vielmehr eine Reflektion (Schatten) gesungener Prosodie ist. Schon lange vor dem kakophonischen doktrinären Geschwätz eines Jacques Derrida gab es den weitverbreiteten, psychosexuell impotenten Glauben an die eigenständige Existenz des geschriebenen Textes (bzw. Notentextes).
Bei den professionellen Musikern nimmt diese fanatische Perversion zumeist die Form des Dogmas der „Instrumentalmusik“ an. Als Ursprung dieser Doktrin wird gewöhnlich die Behauptung des Nazi-ähnlichen Dionysos- und Richard Wagner-Kults aufgeführt, daß sich die Musik nicht von der Vokalisation der Dichtung ableite, sondern vom Tanz. Dies sind die Lügmund Freuds der musikalischen Slums, existentialistische Anhänger von Positivisten wie Ernst Mach, Doktrinäre jenes Gelichters, die jeden ästhetischen Wert nicht nur den sinnlichen Effekten allgemein, sondern am liebsten den sexuell-orgiastischen zuschreiben.
Die Verbreitung des Kults der „Instrumentalmusik“, der den Ursprung der Musik in der polyphonen Vokalisation von Poesie leugnet, ist vor allem das Werk der österreich-ungarischen Geheimpolizei mit ihren Salons, Konservatorien usw., welche die Musikpolitik des KuK-Imperiums unter so berüchtigten „Dogen“ wie Kanzler Wenzel von Kaunitz und Clement Fürst Metternich verwalteten. Ähnlich gingen Metternichs Kreise in Preußen vor; dort waren G. W. F. Hegel und insbesondere Friedrich Savigny, der Vorläufer der Rechtsphilosophie des Hitler-Regimes, die wichtigsten Handlanger der Neokantianer.
Dieser recht offensichtlichen Parallele zwischen der Doktrin des geschriebenen Texts in der Literatur und jener der „Instrumentalmusik“ liegt eine tiefere ursächliche Verbindung zugrunde.
Sobald diese irreführenden Anmaßungen des geschriebenen Textes aus dem Weg geräumt sind, können wir uns auf jene entscheidenden Elemente der Beziehung zwischen literarischen Formen mündlicher Äußerung und der Musik konzentrieren, die uns zum Ursprung der Motivführung bringen.
Weder die Sprache noch ein Notentext in der Musik können Ideen innerhalb des Mediums selbst vermitteln. Wie die klassische Dichtung unterstreicht, sind Metaphern die einzige „Fundgrube“ der echten Ideen. Gerade diese Rolle der Metapher in der Poesie ist es, welche die populäre Schule der symbolischen Interpretation verschütten und leugnen will.
Ironie zur Schaffung von Metaphern ist das wichtigste Element der menschlichen Sprache und Musik, die es dem Geist ermöglicht, die Synthese einer Idee im Geist einer anderen Person hervorzurufen. Alle wichtigen Ideen haben diese Form; sie alle drücken das gleiche Problem und die gleiche Lösung aus, das dadurch entsteht, daß ein ganz neues Theoremgitter von seinem Vorgänger durch eine einzige Singularität (d. h. mathematische Diskontinuität) getrennt wird. Dadurch, daß sie Grenzen des buchstäblichen Verständnisses des vorherrschenden Sprachgebrauchs durchbricht, erlaubt uns die Metapher, in einen Bereich einer relativ höheren Kardinalität einzutreten, wie von einer Mannigfaltigkeit des Grades n zu einer Mannigfaltigkeit des Grades n + 1. Dazu muß die mit der Metapher verbundene Ironie echt sein, um eine falsche Grundannahme im vorherigen Sprachgebrauch zu verdeutlichen.
Daher der inhärent pseudowissenschaftliche Charakter der sogenannten „Informationstheorie“. Weil die mit dem Gebrauch der Metapher eingeführte Veränderung implizit ein ganz neues Theoremgitter höherer Kardinalität definiert, ist der Effekt der betreffenden Kommunikation axiomatisch weit größer als das ableitbare statistische Potential des verwendeten Mediums.
Die zu diesem Zweck verwendete Metapher kann nicht im Kommunikationskanal zwischen Sprechendem und Hörer ausgemacht werden. Der Kanal übermittelt nur die Ironie, die Sprecher wie Hörer mit der Metapher verbinden. Die Metapher selbst existiert nur im Geist der Personen, nicht im Kommunikationsmedium. Das ist der Punkt, auf den wir uns jetzt besonders konzentrieren müssen.
Die meisten gebildeten Leser haben aus zwei Gründen Schwierigkeiten, unserer Argumentationslinie zu folgen. Erstens fehlt fast allen, mit Ausnahme einer verschwindend kleinen und kleiner werdenden Zahl von Personen, das Verständnis einer klassischen humanistischen Erziehungsmethode; aufgrund der Mängel ihrer Erziehung fehlen ihnen die Bezugspunkte, welche dem in der klassischen Erziehungsmethode Ausgebildeten die Vorstellung der kreativen Entdeckung leicht zugänglich machen würden. Zweitens hat die empiristische Methode in den letzten Jahrhunderten im Zuge militärischer Erfolge des britischen Empires auch politisch triumphiert, und das nicht nur in den besiegten europäischen Nationen – zuerst Frankreich, später Deutschland. Nachdem der stärkste Gegner des britischen Imperialismus, die Vereinigten Staaten, sich im Rahmen der sogenannten „Sonderbeziehung“ dem von Präsident Theodore Roosevelt, Woodrow Wilson, Coolidge, Harriman und Bush so heißgeliebten England unterordnete, haben die Svengalis des empiristischen Dogmas nach und nach die Trilbys( es bezieht sich auf eine Person in einem amerikanischen Roman) der vorherrschenden pädagogischen und kulturellen Institutionen auf dem Planeten und auch die populäre Kultur Westeuropas und Amerikas unterworfen.
Um diesen entscheidende Punkt zu verstehen, muß man die Quelle des Problems ausmachen. Bei einer klassischen humanistischen Erziehung, wie etwa Wilhelm von Humboldts Erziehungsprogramm für die höheren Schulen, wird der Schwerpunkt darauf gelegt, daß der Schüler den originalen Akt der Entdeckung der wichtigen grundsätzlichen Entdeckungen in allen Hauptwissensgebieten über die gesamte Geschichte bis heute nachvollzieht. So lernt der Schüler nicht nur die Antwort – er kennt die Antwort, indem er sie selbst entdeckt. Noch bedeutsamer ist, daß man den Schüler, der von einer solchen streng klassischen Erziehung profitiert, sich seiner geistig-kreativen Prozesse bewußt werden läßt, mittels derer er die ursprüngliche Entdeckung in seinem eigenen Geist nacherlebt. Das Ergebnis ist mit der hier behandelten musikalischen Fragestellung vergleichbar.
Jedesmal, wenn ein Schüler den geistigen Vorgang der Entdeckung einer axiomatisch-revolutionären Qualität von Lösungsprinzip nachvollzieht, tut er weit mehr, als nur die Schulbuchantwort auf eine Prüfungsfrage zu lernen. Indem er diesen Vorgang der Entdeckung mittels seiner eigenen geistig-kreativen Fähigkeiten nachvollzieht, kommt er bei einer relativ absoluten Idee in der Form des „Guten“ Platons an. Später leitet diese Idee dann das erneute Nachvollziehen der Entdeckung, so wie die Idee einer geschlossenen musikalischen Komposition das erneute Nachvollziehen des Prozesses kontrolliert, der zur Wiederholung des Abschlusses führt. Die Spannung zwischen der Idee des relativ Absoluten und der des relativen Werden, der Prozeß der Vollendung der Entdeckung, ist in diesem Fall aktiver Ausdruck des Wissens.
Dieser Prozeß kann nur innerhalb der geistig-kreativen Prozesse des Individuums stattfinden; er kann nicht mittels eines Kommunikationsmediums zwischen verschiedenen Personen wörtlich wiedergegeben werden. Die Funktion des Kommunikationsprozesses ist nicht, die Idee der Entdeckung zu kommunizieren, sondern nur, den Geist des Hörers zum Nachvollziehen dieser Entdeckung anzuregen.
Wenn es dem Sprecher gelingt, dieses Nachvollziehen im Hörer hervorzurufen, können wir von einer Einsicht des Sprechers in die geistigen Prozesse des Hörers sprechen. In einem solchen Fall schafft der Sprecher in seinem Geist Raum für die geistigen Vorgänge, die sich analog im Geist des Hörers abspielen. Sein Ziel ist, die passende Kombination von „Signalen“ auszuwählen, die, über ein Kommunikationsmedium ausgedrückt, den Geist des Hörers zur Beschäftigung mit dem gewünschten Prozeß kreativen Nachschaffens anzuregen. Das heißt: es geht um eine klassisch-humanistische Pädagogik, als Gegenpol zur miserablen empiristischen Pädagogik. Der außerordentliche Komponist, ein Bach, Haydn, Mozart, Beethoven oder Brahms, benutzt die gleichen Prinzipien klassisch-humanistischer Pädagogik, um zu komponieren und seine Schüler zu unterrichten, so wie Wilhelm Furtwängler sich seine „Tricks“ aneignete, um bei seinen Orchestern das notwendige, aber nicht in Worten aussprechbare musikalische Resultat hervorzurufen.
Echte Ideen existieren nicht innerhalb der „Bandbreite“ irgendeines Kommunikationsmediums, sei es die gesprochene oder geschriebene Sprache oder auch die formale Mathematik. Sie können auch niemals von einem digitalen Computer nachvollzogen werden. Sie existieren nur im menschlichen Geist. Die Funktion der Kommunikation ist, einen individuellen Geist in die Lage zu versetzen, im Geist anderer Menschen das Nachschaffen eines kreativen Denkprozesses hervorzurufen – weitgehend so, wie Furtwängler die musikalische Einsicht der Musiker in seinen Orchestern formte.
Es ist eine Frage des Maßes. Lebende Prozesse, Entdeckungen gültiger wissenschaftlicher Prinzipien, die Anwendung kreativer Prozesse zur Schaffung oder Nachschaffung künstlerischer Ideen, der wissenschaftliche und technische Fortschritt sind allesamt „nichtentropische“ Prozesse. D.h., das charakteristische Maß der jeweiligen charakteristischen Wirkungsform ist „nichtentropisch“. Sie kann mit keinem der möglichen linearen oder nur „nonlinearen“ Standardmaßen gemessen werden. Nur die souveränen geistig-kreativen Prozesse, die tief im Innern des menschlichen Geistes stattfinden, können eine „nichtentropische“ Vorstellung schaffen oder nachschaffen.
Im relativ entropischen Bereich der formalen Mathematik, der geschriebenen Sprache, der grammatischen Äußerung oder des Notentextes der Musik haben kreative Ideen keinen Platz, außer als Diskontinuitäten. Diese Diskontinuitäten liegen hinter den Worten, den mathematischen Formeln, den Noten der Partitur, aber nicht in ihnen. Sie werden mit Hilfe von Ironien ausgedrückt, deren sichtbarer Effekt die Erzeugung von Diskontinuitäten ist. Die Ideen, denen diese Diskontinutiäten entsprechen – so wie Fußabdrücke der Person, die einen Weg entlang gegangen ist –, existieren für die Sprache, die Mathematik und die Musik nur in jenem himmlischen Konjunktiv, wo alle echten Metaphern wohnen. In der Musik sind sie hörbar für das einsichtige, innere Ohr des Individuums – zwischen den Noten.
In literarischen Formen von Sprache gilt es demnach dreierlei zu beachten: die gesprochene Äußerung, den geschriebenen Schatten dieser Äußerung, und das Objekt, auf das sie sich bezieht, das aber nur der Geist des Sprechers kennt. In allen Fällen solcher Begriffe, die den Namen Wissen verdienen, ist das Wesentliche das relativ Absolute im Sinne des Guten Platons. Die wesentliche Konzeption leitet eine zweite Ebene derselben Vorstellung in der Form des Werden, im Prozeß des Entstehens. Alle anderen Ideen werden von der enormen Spannung zwischen diesen beiden zusammengefaßt.
Daher: Motivführung
Vom Standpunkt des Gedächtnisses ist das gewünschte Ergebnis der Entwicklung musikalischer Kompositionsmethoden eine Steigerung der Kohärenz: daß jeder Schritt in der Aufführung den Prozeß des Werden in Kohärenz mit der unteilbaren Idee der Gesamtkomposition bringt. Dies muß mit der größtmöglichen Kraft oder scheinbaren „Energie“ erreicht werden, die wiederum nur durch das Erhöhen der Dichte an Diskontinuitäten pro Wirkungsintervall erreicht werden kann. Anders gesagt: die Intensität des Entwicklung. Gleichzeitig muß die anspruchsvollste Entwicklung mit dem Ausdruck agapischer Schönheit verbunden werden; der Inbegriff davon ist der dritte Satz von Beethovens Quartett op. 132, der Heilige Dankgesang.
Eine verbreitete Fehlinterpretation der späteren Werke Beethovens, insbesondere der späten Streichquartette, kann als negatives Beispiel dienen. Das irregeleitete Opfer des Hegelianisierens in der modernen Musikwissenschaft versinkt in einer mystischen Täuschung, deren erstes Auftauchen man sich vorgeblich etwa so vorzustellen hat.
Der Legende zufolge waren die Täter die realen Poltergeister der österreich-ungarischen Geheimpolizei, die damals, 1814–15, gerade aus allen Ecken und Winkeln den Wiener Kongreß ausspionierten. In einer mondlosen Nacht – die Delegierten des Kongresses zerstreuten sich wieder einmal auf einer feucht-fröhlichen Feier – tauchten diese teuflischen Erdgeister der mystischen mitteleuropäischen Unterwelt aus ihren Verstecken auf. Sie schlichen im Schutze der Dunkelheit in die Häuser der Musiker; dort nahmen sie allen Kindern in der Wiege die Fähigkeit weg, Musik auf klassische Weise (übrigens in der Stimmung Johann Sebastian Bachs a‘ = 430 praktiziert) zu komponieren und zu hören. Man konnte das teuflische Kichern (natürlich sotto voce) der Monster hören, wenn sie die alte Seele herausnahmen und gegen die neue austauschten: den Hang, in der politisch korrekten romantischen Art zu komponieren und zu hören (in der vom geisteskranken Zar Alexander I. verordneten Stimmung a‘ = 440). Die ganze Austauschaktion war von Fürst Metternich verordnet und mit seinem Großen Staatssiegel beglaubigt. Die Mitglieder der Haushalte erwachten spät und mit leicht getrübtem Auffassungsvermögen, und sie bemerkten keinerlei Veränderung – außer vielleicht, daß die Windeln etwas dreckiger waren als gewöhnlich.
Daher, versichern ergrauende Musikwissenschaftler in ihren Erzählungen den gaffenden leichtgläubigen Zuhörern, markiert das Jahr 1815 den Zeitpunkt, an dem die Klassik bei den Komponisten, den Interpreten und dem Publikum verschwand und an ihrer Stelle die Romantik das Universum durchdrang. Ein Märchen? Vielleicht; aber das von den Musikologen beschriebene Resultat – wenn es denn wahr wäre – könnte nicht viel anders zustande gekommen sein als eben berichtet.
Leider ist das noch nicht das Ende der Geschichte. Zur Jahrhundertwende hin wurde der ganze Streich wiederholt, wieder in Wien. Die gleichen Teufelchen wie 1815 ersetzten die romantischen Austauschseelen durch moderne. Diesmal waren die Windeln am nächsten Morgen furchtbar.
Man fragt sich, ob die Nachricht davon bis zu G. W. F. Hegel durchdrang, in welch niederen Regionen er auch immer residieren mag. Falls ja, hat er sicher zusammen mit seinem alten Genossen Friedrich Savigny teuflisch gegrinst. Bis auf den heutigen Tag scheinen viele Musikwissenschaftler so zu denken.
Der wichtigste scheinbare Beweis für dieses kleine feudale Volksmärchen ist, daß das modernisierte Publikum so tut, als genieße es, wenn die Kompositionen der nachklassischen Zeit ab 1815 und selbst Mozart furchtbar zugerichtet wird, etwa als Parodie des Stils eines Hector Berlioz. Manchmal werden Beethovens Werke gewertet wie irgendein von Stockhausen komponierter Übelklang; jedenfalls wurden die späten Quartette mehr als einmal einer solchen Mißhandlung unterzogen. Für einige ist es eine Sache des Prinzips, daß sie den rauhen Klang ihrer pedantischen Einbildung den Absichten Beethovens überstülpen: die übernatürliche Schönheit des Heiligen Dankgesangs findet in ihr herzloses, indoktriniertes Gehirn keinen Eingang.
Wenn die unveränderliche Idee der vollendeten Komposition die Aufführung regieren muß, kann dann die Idee dieser Beziehung nicht den Komponisten inspirieren, die Kompositionsmethode entsprechend zu verbessern? Sollte die Idee der Komposition als vollendetes Ganzes den Komponisten beim Bau seiner Komposition nicht Schritt für Schritt lenken? Sollten wir nicht, um im Kompositionsprozeß selbst eine weniger unvollkommene Kohärenz zu erreichen, wünschen, daß die Idee der vollendeten Komposition, ähnlich wie bei Schillers Tragödie, eine Folgerung eines einfachen Keims sei, aus dem sich die Gesamtkomposition entfaltet?
Kann nicht die Beziehung zwischen diesem Keim und der beabsichtigten Absoluten Idee der Komposition das generative Prinzip sein, unter dessen Leitung („Spannung“, „Energie“) sich die Komposition entfaltet? Als der Schritt von der formalistischen Modulation zwischen Tonarten hin zur Integration eines Komplexes von Tonarten in einen einzigen Modus getan war (wie Bachs C-Dur/c-Moll-Modus für den von Haydns neuartigen Quartetten op. 33 inspirierten Wolfgang Mozart illustriert), war die benötigte neue Kompositionsidee implizit identifiziert. Indem Mozarts Begriff motivischer Modalität von einem Genie wie dem reifen Beethoven über seine ursprünglichen Grenzen hinaus erweitert wurde, wird die Möglichkeit einer erweiterten Auswahl an Modalitäten innerhalb der Musik geschaffen. Denn dieser verdoppelte gleich von Anfang an die Zahl der scheinbaren Tonarten, auf die wir im wohltemperierten Belcanto-System gefaßt sein müssen.
Diese Revolution innerhalb der Grenzen klassischer Kompositionsmethoden wohltemperierter Polyphonie ist keine clevere, aber mutwillige „Neuerung“ im einfachen Sinne, die wir je nach Lust und Laune annehmen oder ignorieren können. Sie ist die unvermeidliche Lösung eines profunden wissenschaftlichen und moralischen Problems. Nachdem wir auf jene platonische Funktion des Gedächtnisses gestoßen sind, welche die klassische Komposition zu einem Weg macht, die gesetzmäßige Ordnung des Universums darzustellen (entsprechend dem, was Leibniz notwendigen und zureichenden Grund nennt), konnten wir uns nicht zufrieden geben, bis wir die musikalische Komposition der Zukunft vom Charakter der nett anzuhörenden „Nippessammlung“ befreiten, den sie sonst hat. Die Entdeckung der Motivführung erfüllt diese Bedingung.
Eine weitere Bedingung, die wir von jeder Musik in dieser erweiterten, höheren Modalität verlangen müssen, ist, daß sie immer als ein Bereich himmlischer Schönheit im Geist gehört und ebenso vorgetragen wird.
Bevor wir die Bühne räumen, um für die Beschreibung der Motivführung an sich Platz zu machen, müssen wir uns dem Höhepunkt unserer Darstellung zuwenden. Wir müssen zeigen, warum wir die Mannigfaltigkeit gewählt haben, die wir zu Beginn beschrieben. Man betrachte die offenbaren Schwierigkeiten, die die Interpreten zu lösen haben, wenn wir vom Solisten zum Duo und dann zum Quartett/Quintett wechseln. Man definiere das gemeinsame Lösungsprinzip für alle diese Fälle als ein einziges Konzept.
Der Schlüssel zu dieser Mannigfaltigkeit sind die souveränen kreativen Fähigkeiten des individuellen Geistes. Aus den oben genannten Gründen müssen bei der Aufführung großer klassischer Musik der Komponist wie der Interpret die Kraft ihrer Einsicht benutzen, um die Erzeugung der Idee mehr oder weniger gleichzeitig im Geist jedes einzelnen Zuhörers hervorzurufen. Die Musiker müssen auf der Bühne so miteinander interagieren, daß sie das gleiche Resultat als kombinierte Wirkung ihrer gemeinsamen Aufführung erreichen.
Die wesentliche Idee der musikalischen Aufführung beginnt so mit dem Sänger, der seine eigene Komposition singt und sich, wie Platon oder Leonardo da Vinci, auf der Laute selbst begleitet, oder einem Mozart und Beethoven, der auf dem Klavier sein zuvor komponiertes solistisches Werk vorträgt. Wenn ein Musiker die Komposition eines anderen vorträgt, wird eine neue Dimension eingeführt: Der Interpret muß den Geist des Komponisten in seinem eigenen Geist nachschaffen und die Absicht des Komponisten für die Einsicht im Geist des Publikums sorgen lassen. Bei einem Duo, das ein Werk eines verstorbenen Komponisten vorträgt, kommt eine neue Dimension der Herausforderung an die Musiker hinzu. Beim klassischen Quartett oder Quintett wird diese Herausforderung bis an ihre Grenzen erweitert.
Beim Orchester ist das zugrunde liegende Prinzip das gleiche, allerdings liegt das Problem der Ausführung etwas anders. Beim Übergang von durchkomponierten Werken für Duos, Trios, Quartette, Quintette zum Orchester oder großen Chor wird eine neue Mannigfaltigkeit eingeführt. Das Auftreten der spezifischen Rolle des Dirigenten läuft parallel zum Wechsel vom individuellen Vortragenden bei der ersten Mannigfaltigkeit der Aufführung zur Teilnahme des Vortragenden an einer Chor- oder Orchesterstimme. Nicht ein einzelner Musiker trägt eine Stimme vor, sondern mehrere oder viele Musiker sind an der Reproduktion einer Stimme beteiligt; die Funktion ihrer Individualität ist so und in diesem qualitativen Grad verändert. Sonst aber bleibt das beiden Vortragsmannigfaltigkeiten gemeinsame tiefergehende Prinzip gleich. Mit dieser Einschränkung können wir uns ganz auf die Vortragsmannigfaltigkeit im kleineren Maßstab konzentrieren.
Der Schlüssel zur Rolle des einzelnen Interpreten in der kleineren Mannigfaltigkeit zeigt sich schon in den Noten, wenn man die Behandlung der Polyphonie durch den Komponisten sorgfältig studiert. Das dient später auch als Schlüssel zum Übergang von der kleineren zur größeren musikalischen Mannigfaltigkeit. Die Polyphonie ist schon eine Mannigfaltigkeit menschlicher Singstimmen. Diese Polyphonie ist das Drama, welches der Musiker bzw. das Ensemble vortragen muß; sie gibt den Schlüssel zur Einsicht des Komponisten in den Geist des Zuhörers an die Hand, dem die Vortragenden das beabsichtigte Resultat, die beabsichtigte musikalische Idee, liefern müssen.
Man darf diese Dinge nicht als Idiosynkrasie des musikalischen Gebiets ansehen. Es handelt sich um jene charakteristischen Eigenschaften wohltemperierter Komposition, welche die Musik allgemein zur unverzichtbaren geistigen Nahrung der agapischen, kreativen Kräfte der Vernunft machen, denn kreative Arbeit gibt es in jedem ehrlichen Beruf. Diese Charakteristika, in der Ausführung zu dem Grade, den die Motivführung vorgibt, perfektioniert, sind mit der kreativen Fähigkeit zu umwälzenden wissenschaftlichen Entdeckungen identisch. Diese Fragen der Musik sind nicht beliebig, keine Geschmackssache – sie sind eine für den Erhalt und Fortschritt der zivilisierten menschlichen Existenz unverzichtbare Gewohnheit.
Klassische Musik, wie das von Brahms‘ Protegé Antonin Dvorak behandelte afro-amerikanische Spiritual, ist der höchste Ausdruck von himmlischer Schönheit; in der Wissenschaft entspricht dies dem schöpferischen menschlichen Willen, der sich unter ein Prinzip ordnet, das Prinzip, das Leibniz notwendigen und zureichenden Grund nannte. Wie die Entwicklung von J. S. Bachs wohltemperiertem natürlichem Belcanto-Modus ist die Motivführung eine natürliche und notwendige Umsetzung dieses Prinzips.