Es ist ein Symptom für die grundlegende Zerstörung der Allgemeinbildung, daß heute fast niemand mehr weiß, was „romantisch“ bedeutet, oder was die Romantik war und wie sie zerstörerisch in die Kultur unserer Zeit hineinwirkt. Die gängigen Vorstellungen reichen von unbedarften Klischees eines „Abendessens zu zweit bei Kerzenschein“ bis zum „Sonnenuntergang am Meer“, also mehr oder weniger die Idee, daß der Begriff „romantisch“ etwa bedeutungsgleich sei mit „gefühlsbetont“. Einige der sich schon informierter dünkenden Zeitgenossen werden an dieser Stelle empört protestieren und behaupten, die Romantik habe doch über die Klassik hinaus Entscheidendes für die Ausbildung der Individualität geleistet, ebenso wie für die Entwicklung des modernen Nationalstaates. Der Zweck dieses Aufsatzes ist es, mit diesen Mythologien aufzuräumen.
Jeder, dessen Seele nicht völlig verschrumpelt und verdorrt ist, weiß und sieht mit Entsetzen, daß unsere globale Zivilisation am Ende ist. Daß all das, was wir als die Grundpfeiler einer stabilen Weltordnung angenommen hatten, sich als morsch erweist und versinkt: „Globalisierung“, „freie Marktwirtschaft“, „Demokratie und Menschenrechte“ (vor allem in Amerika) usw. Statt dessen erleben wir ein „neues 14. Jahrhundert in Afrika“, wo die Pest durch die AIDS-Seuche ersetzt ist, eine globale Gesundheitskatastrophe, wobei BSE und antibiotikaresistente Infektionen nur die Spitze des Eisbergs darstellen. Die schmerzliche Erkenntnis der „Spaßgesellschaft“, daß der „Neue Markt“ nur eine große Einbildung war, den es in Wirklichkeit niemals gegeben hat, die Tatsache, daß wir am Beginn einer globalen Depression stehen, die in ihren Konsequenzen schlimmer zu werden droht, als die der 30er Jahre, der Alptraum, daß in den Köpfen unserer Kinder und Jugendlichen Prozesse ablaufen, an denen die Erwachsenen nicht den geringsten Anteil mehr haben und der sich in dem beängstigenden Phänomen „Jugendgewalt“ und „Killerkids“ ausdrückt – man könnte diese Liste noch um viele dramatische Elemente verlängern.
Am 16. Dezember schrieb Richard Tomkins in der Financial Times ein für diese Zeitung höchst ungewöhnliches Editorial mit der Botschaft: „Finsteres Zeitalter oder eine Renaissance?“, in dem er feststellte, daß der Individualismus der freien Marktwirtschaft, so wie er sich durch die „Globalisierung“ ausgebreitet habe, zu einer „Erosion der traditionellen Strukturen der Gesellschaft“ geführt und den Sinn für das Gemeinwohl zerstört habe. „Der Triumph des Individuums war schon immer das Ziel der freien Marktwirtschaft“, aber nun sei eine Grenze erreicht: „Wie man es auch immer betrachten mag, wir haben still und leise das Utopia erreicht. Und das wäre wirklich eine ausgezeichnete Neuigkeit, wenn es nicht einen kleinen Haken gäbe: das Gefühl, daß dieses Utopia stinkt… Die hohe (klassische) Kultur liegt in den letzten Zügen, weil niemand mehr über die Autorität verfügt, auf einem künstlerischen Standard zu bestehen.“ Und deshalb heiße die Alternative heute „Finsteres Zeitalter oder Renaissance?“
In der Tat, der Zeitgeist stinkt. Unsere heutige Kultur ist häßlich, in der Kunst ist alles erlaubt. Werkimmanente Aufführungen klassischer Stücke findet man auf keiner deutschen Bühne, und die Provokationen des Regietheaters werden seit über 30 Jahren in ermüdender Monotonie wiederholt. Die allermeisten modernen und postmodernen Gemälde sind absurd und häßlich, die Plastiken sinnlos, die Architektur funktionell und scheußlich, die neueren Kompositionen beleidigend für das Ohr. Kunst hat aufgehört, große Kunst zu sein, auf jeden Fall ist sie nicht mehr schön.
In der sogenannten Gegenkultur sind die morbiden Phantasien der Romantik zum Exzeß gesteigert, ob es sich um die geschmacklose Produktwerbung gewisser Textilienhersteller handelt oder um die nekrophilen Pop-Videospots von Eros Ramazotti. Und daß die Vox Populi nach Big Brother, bei dem die „absoluten Niemande“ in all ihrer exhibitionistischen Blödheit eine riesige Fangemeinde entwickeln, noch an Niveau verlieren kann, ist nur schwer vorstellbar. Die schon jetzt erreichte Banalität und Scheußlichkeit in der zeitgenössischen „Kultur“ bietet auf jeden Fall keinen Schutzschild gegen einen Absturz in ein neues finsteres Zeitalter, das noch brutaler als das 14. Jahrhundert werden könnte.
Was ist hier schiefgelaufen? Wie konnte es passieren, daß der „Kult der Häßlichkeit“ solche Formen annehmen konnte? In diesem Aufsatz möchte ich die These belegen, daß der Angriff der Romantiker auf die Weimarer Klassik mehr zu dem kulturellen Verfall bis heute beigetragen hat als irgend ein anderer Einfluß. Warum? Weil die Romantiker ganz gezielt vorgingen, um die hohen Ideale der Klassik zu zerstören und falsche Ideen in Umlauf brachten, die den politischen Absichten der Oligarchie von der Heiligen Allianz bis zur heutigen Finanzoligarchie bestens entgegenkamen.
Wie hatte Friedrich Schiller in den „Ästhetischen Briefen“ geschrieben? Das Vollkommenste aller Kunstwerke sei der Bau einer wahren politischen Freiheit. Im Vierten Brief schreibt er: „Jeder individuelle Mensch, kann man sagen, trägt, der Anlage und Bestimmung nach, einen reinen idealischen Menschen in sich, mit dessen unveränderlicher Einheit in allen seinen Abwechslungen übereinzustimmen die große Aufgabe seines Daseins ist.“ Um aber diese harmonische Ausbildung des Individuums zu erreichen, die Veredlung seines Charakters, ist die schöne Kunst das wichtigste Mittel, erkannte Schiller. Überhaupt ist das Schöne für die Vollendung des Menschen unerläßlich, und alle Kultur geht vom Schönheitsgefühl aus.
In den Briefen an Gottfried Körner Kallias oder über die Schönheit definiert Schiller die Schönheit als „Freiheit in der Erscheinung“, als die Erkenntnis des Waltens der Naturgesetze – daß etwas frei nach diesen Gesetzen bestehen muß. Dies gilt umso mehr für die charakterliche Schönheit, bei der das „freie Prinzipium im Menschen“ respektiert werden muß. Deshalb lehnt Schiller auch den harten Kantschen Pflichtbegriff ab, weil der Mensch die Freiheit zu sehr liebe, als daß er der Prozedur zusehen möchte, mit der er bei Kant gemäß des kategorischen Imperativs seine widerstrebenden Neigungen unterjochen müsse.
Dem setzt Schiller seinen eigenen Begriff reifer Humanität entgegen und schreibt in Über Anmut und Würde: „Eine schöne Seele nennt man es, wenn sich das sittliche Gefühl aller Empfindungen des Menschen endlich bis zu dem Grad versichert hat, daß es dem Affekte die Leitung des Willens ohne Scheu überlassen darf und nie Gefahr läuft, mit den Entscheidungen desselben im Widerspruch zu stehen. Daher sind bei einer schönen Seele die einzelnen Handlungen nicht sittlich, sondern der ganze Charakter ist es. Die schöne Seele hat kein anderes Verdienst, als daß sie ist.“
Diese bewußte Erziehung des eigenen Empfindungsvermögens, das er an anderer Stelle das wichtigste Bedürfnis seiner Zeit nennt – und um wieviel mehr ist es dasjenige der heutigen Zeit! –, ist dennoch nicht auf sich selbst gerichtet, sondern bezieht sich als agape (Nächstenliebe) auf die Menschheit. In Über Anmut und Würde heißt es dazu:
„Die Liebe allein ist also eine freie Empfindung, denn ihre reine Quelle strömt hervor aus dem Sitz der Freiheit, aus unserer göttlichen Natur. Es ist hier nicht das Kleine und Niedrige, was sich mit dem Großen und Hohen mißt, nicht der Sinn, der nach dem Vernunftgesetz schwindelnd hinaufsieht; es ist das absolut Große selbst, was in der Anmut und Schönheit sich nachahmt und in der Sittlichkeit sich befriedigt findet, es ist der Gesetzgeber selbst, der Gott in uns, der mit seinem eigenen Bilde in der Sinnenwelt spielt.“
Das bedeutet, daß für Schiller der Künstler in dem glücklichen Augenblick des Ideals, in dem er schöne Kunst schafft, als Ebenbild Gottes, als Genie, das die Gesetze auf gesetzmäßige Weise erweitert, selber gewissermaßen die Schöpfung weiterschöpft. Und diese Beförderung der Kreativität durch Schönheit, die der Vervollkommnung des Menschen dient, ist nicht beliebig, denn wie er im 10. der Ästhetischen Briefe sagt:
„Der reine Vernunftbegriff der Schönheit, wenn ein solcher sich aufzeigen ließe, müßte also – weil er aus keinem wirklichen Falle geschöpft werden kann, vielmehr unser Urteil über jeden wirklichen Fall erst berichtigt und leitet – auf dem Wege der Abstraktion gesucht und schon aus der Möglichkeit der sinnlich/vernünftigen Natur gefolgert werden können: mit einem Wort: die Schönheit müßte sich als eine notwendige Bedingung der Menschheit aufzeigen lassen.“
Das ist der entscheidende Punkt. Schiller hatte an den ästhetischen Schriften Moses Mendelssohns und Gotthold Ephraim Lessings angeknüpft, mit denen diese sich gegen das bestialische Menschenbild vor allem der englischen Aufklärer gestellt hatten, die als Quelle der menschlichen Motivation nur das „Eigeninteresse“ und den „Eigennutz“ gesehen hatten. Schiller steigerte die ästhetischen Vorstellungen Mendelssohns und Lessings, daß die klassische Kunst es in der Tat vermag, die Gefühle des Menschen zu veredeln, zu einer universellen Gesetzmäßigkeit. Die Schönheit ist „notwendige Bedingung der Menschheit“, und ihr Fehlen hat die Konsequenz, daß die Menschheit degeneriert und die jeweilige Zivilisation untergeht. Gleichzeitig arbeitete Schiller zusammen mit Goethe und Wilhelm von Humboldt daran, allgemein gültige Gesetze der klassischen Kunst aufzustellen, eben diesen Vernunftbegriff der Schönheit, der auch den ästhetischen Bereich wißbaren und erkennbaren Regeln unterwarf.
Von allen Bereichen,((Nicht nur im Bereich der Dichtung und der Kunsttheorie hatten die Romantiker der Klassik und insbesondere Schiller den Kampf angesagt, sondern vor allem der Übergang von der sogenannten Frühromantik zur „politischen Romantik“ hatte fatale Konsequenzen. Die Ideen von Novalis und später Adam Müller, Savigny und Niebuhr lieferten die Argumentation für eine Neuauflage des Römischen Reichs in der Form eines „christlichen“ Universalkaisertums, in dem die Mitglieder der Ständestaaten die Privilegien des Erbadels über die Grenzen hinweg gegenseitig garantieren und über die weitgehend rechtlosen unteren Stände und Leibeigenen herrschen sollten. In diesen Vorstellungen lag ein direkter Angriff auf die Idee des naturrechtlich begründeten repräsentativen Verfassungsstaates, wie er in der Amerikanischen Revolution zum ersten Mal in der Geschichte verwirklicht wurde.)) in denen die Romantiker die Ideen der Klassik bekämpften, war der sukzessive Angriff auf diesen Vernunftbegriff der Schönheit letztlich der folgenreichste. Einerseits läßt sich eine direkte Linie verfolgen, die von den Frühromantikern zur sogenannten „politischen Romantik“, über Savigny, Niehbuhr zu Nietzsche, Wagner, Carl Schmitt und dem Faschismus führt. Eine ebenso direkte Tradition läßt sich von Immanuel Kant zu Friedrich und August Wilhelm Schlegel, Novalis und Tieck, und E. T. A. Hoffmann über Schopenhauer und Hegel zu Freud, der Frankfurter Schule, der Tiefenpsychologie und dem Kult des Häßlichen in der modernen und postmodernen Kunst verfolgen.
Moses Mendelssohn hatte gemeinsam mit Lessing die haushohe Überlegenheit der Leibnizschen Philosophie gegen die Vertreter der Aufklärung und Newton-Apostel Euler und Maupertuis an der Berliner Akademie der Wissenschaften verteidigt – einer Gruppe von Hofgelehrten, zu denen trotz des räumlichen Abstandes auch der in Königsberg sitzende Kant gehörte. Solange Mendelssohn lebte, hielt sich Kant zurück, weil sich der pedantische Neuaristoteliker nicht der vernichtenden Kritik des „Sokrates des 18. Jahrhunderts“ auszusetzen wagte. Doch sobald Mendelssohn gestorben war, überschwemmte Kant die Welt mit seinen Schriften, in denen er die Vernunft zu einem deduktiven Konstrukt reduzierte und mit solchen Begriffen wie der „Negation der Negation“ und des „Radikal Bösen“ als dem Sitz der menschlichen Freiheit ein Menschenbild vertrat, das wieder direkt bei den Vertretern der Aufklärung, von Pomponazzi und Sarpi bis Locke, Hobbes und Hume anknüpfte.
Friedrich Reichardt, Berliner Hofkapellmeister, miserabler Komponist und Herausgeber der Zeitschriften Deutschland und Frankreich, der die Französische Revolution noch verteidigte, als sich Schiller und seine Freunde nach der Übernahme des Jakobinerterrors längst entsetzt von ihr abgewandt hatten, sah es als seine Aufgabe an, Kant in Deutschland populär zu machen, und verschickte seine Schriften an alle, die sie haben oder nicht haben wollten. Schiller empfand eine ausgesprochene Abneigung gegen den „Spitz von Giebichenstein“.((In der berühmten Kontroverse zwischen Schubert und Beethoven einerseits und Reichardt andererseits über die Frage, ob der Komponist ein Gedicht bei der Vertonung praktisch nur mit Noten „unterlegen“ oder ob der Komponist das Gedicht durch eine eigenständige Neuschöpfung gewissermaßen erhöhen solle, stellte sich Goethe leider auf die musikalisch minderwertige Position Reichardts. Beethoven bemerkte, daß es viel einfacher sei, die Gedichte Goethes zu vertonen als die Schillers, weil jene schon einen so hohen Grad der Vollkommenheit erreicht hätten, daß es für den Komponisten schwierig sei, noch darüber hinauszugehen. Der 4. Satz von Beethovens 9. Sinfonie ist ein gelungenes Beispiel für eine solche Steigerung.)) „Er wird“, so schrieb Schiller, „mit Karnevals Gips-Drageen auf seinen Büffelrock begrüßt werden, daß man ihn für einen Perückenmacher halten soll“.
Schiller war schon zu Beginn der 90er Jahre durch Professor Karl Leonard Reinold auf Kants Schriften aufmerksam gemacht worden, und am meisten empörte ihn die in der Kritik der Urteilskraft dargelegte Ästhetik Kants, nach der ein Kunstwerk weniger Wert haben solle, wenn in ihm der Plan des Künstlers zu erkennen sei, und eine zufällige „Arabesque“ höheren künstlerischen Wert besitze als jenes und schöner sei als die höchste Schönheit des Menschen.
Schiller vermutete, daß Kant eine sehr unglückliche Kindheit gehabt haben mußte und deshalb Schönheit nicht wirklich verstehen konnte. Er wirft ihm vor, er könne sich nicht „von dem Lebensschmutz“ losmachen, und in seiner Schrift Über Anmut und Würde kritisiert er Kants Kategorischen Imperativ mit den Worten: „Womit hatten es aber die Kinder des Hauses verdient, daß er nur für die Knechte sorgte?“ Schiller entwickelte seinen Begriff der „schönen Seele“ bewußt gegen Kant, und schon am 21. Dezember 1792 schrieb er an Körner, er glaube, „den objektiven Begriff des Schönen, …. an welchem Kant verzweifelt, … gefunden zu haben. Ich werde meine Gedanken darüber ordnen und in einem Gespräch: Kallias oder über die Schönheit auf die kommenden Ostern herausgeben.“
In der Tat widerlegte Schiller in all seinen folgenden
ästhetischen Schriften die unfrohen Gedanken Kants auf einer viel höheren Ebene, und Schillers Ästhetik ist und bleibt der Anknüpfungspunkt für jede künftige Renaissance. Aber vom Standpunkt der Geschichte des Kampfes zwischen verschiedenen Ideen ist es doch sehr aufschlußreich, wie sich die Ästhetik-Debatte weiter entwickelte. Kants Schriften erwiesen sich gewissermaßen als der Fluch der bösen Tat, die „immerwährend Böses muß gebären“. Er hat mit seiner Zerstörung des inneren Zusammenhangs des Guten, Wahren und Schönen die abschüssige Bahn bis zu den Tiefen der heutigen kulturellen Katastrophe eröffnet.
Aber Kants trockene, langweilige und völlig blockierte Sprache, die ein gesetzmäßiger Ausdruck seiner pedantischen Denkweise war, hätte es alleine nie vermocht, soviel Unheil anzurichten. Dazu kam die elaborierte Ausarbeitung der These von der Irrationalität der Kunst durch die Romantiker, die Schritt für Schritt Kants These von der Arabesque bis zur Verherrlichung des Krankhaften und Lust am Gräßlichen steigerten.
Auch wenn Novalis, Tieck, August Wilhelm Schlegel, später vor allem Hoffmann und andere ihr Scherflein zum Desaster beitrugen, so kommt Friedrich Schlegel bei der Konterrevolution, die er in der Theorie der Dichtarten herbeiführte, eine Schlüsselrolle zu. Mit seinem 1795 verfaßten Aufsatz Über das Studium der griechischen Poesie begann er die dichterischen Darstellungsformen aus den festumrissenen Gattungen der Klassik herauszulösen und ihnen zahllose Möglichkeiten der Umbildungen zu gestatten, so daß es letztlich „unendlich viele Dichtarten“ geben konnte. Im Studium-Aufsatz wurde auch zum ersten Mal das Problem der Häßlichkeit als Zentralfrage der modernen Literatur aufgeworfen, was Karl Rosenkranz in seiner eigenen Ästhetik des Häßlichen aufgriff, und es sollte nur wenige Jahre dauern, bis Karl Rosenkranz eine eigene Ästhetik des Häßlichen veröffentlichen sollte.
Schiller lernte Friedrich Schlegel im Mai 1792 persönlich kennen und hatte sofort einen ungünstigen Eindruck von ihm, er hielt ihn für einen „unbescheidenen, kalten Witzling“. Schlegel, der durchaus intensive Studien des Altertums betrieb, versuchte dann in der Folgezeit einige Artikel in der von Schiller herausgegebenen Zeitschrift Die Horen unterzubringen. Am 15. März schrieb Schiller an seinen Freund Körner, den Schlegel wiederholt um Vermittlung angegangen hatte, die folgende Charakterisierung: „Vor einiger Zeit las ich im Teutschen Merkur einen Aufsatz von Deinem Schlegel über die Grenzen des Schönen. Welche Verworrenheit des Begriffs und welche Härte der Darstellung herrschte darin. So etwas mußt Du ihm nicht schenken, wenn Du ihm die Wahrheit sagen darfst. Er hat Kenntnisse und er denkt über seinen Gegenstand. Aber er bringt ihn nicht zur Klarheit, und deswegen auch nicht zur Leichtigkeit in der Diktion. Ich fürchte doch, er hat zum Schriftsteller kein Talent.“
Im Januar 1796 erschien mit einmonatiger Verspätung Schillers Schrift Über naive und sentimentalische Dichtung, in der er den Unterschied und Zusammenhang zwischen antiker und moderner Dichtung begründet und dann für beide, den „naiven“ und den „sentimentalischen“ Dichter, eine neue höhere Ebene der Dichtkunst definiert und damit darlegt, daß die klassischen Anforderungen also durchaus in der modernen Dichtung erfüllt werden können. Schiller schreibt:
„Denn endlich müssen wir es doch gestehen, daß weder der naive noch der sentimentalische Charakter, für sich allein betrachtet, das Ideal schöner Menschlichkeit ganz erschöpfen, das nur aus der innigen Verbindung beider hervorgehen kann. Zwar solange man beide Charaktere bis zum dichterischen exaltiert, wie wir sie auch bisher betrachtet haben, verliert sich vieles von den ihnen adhärierenden Schranken, und auch ihr Gegensatz wird immer weniger merklich, in einem je höheren Grade sie poetisch werden; denn die poetische Stimmung ist ein selbständiges Ganze, in welchem alle Unterschiede und alle Mängel verschwinden.“
Friedrich Schlegel arbeitete im gleichen Jahr an seinem Studium-Aufsatz, in dem er zwar vorgab, die griechische als die schöne Kunst gegen die moderne Kunst, die nicht schön, sondern nur „interessant“ sei, zu verteidigen. Scheinbar attackierte er die moderne Kunst als völlige Fehlentwicklung und tat so, als wolle er mit seiner Schrift eine klassische Reform anregen. Ein nicht zu übersehender Grad von Überspanntheit bei der Beschreibung der angeblich so abgelehnten modernen Dichtung reflektiert aber schon hier das innere Chaos und die Zerrissenheit, die Schlegel bei diesem Thema empfand.
Als Schillers Über naive und sentimentalische Dichtung vor der Veröffentlichung seines Aufsatzes erschien, war Schlegel völlig aufgebracht, weil er sehr wohl merkte, daß sein eigenes Produkt damit überholt und widerlegt war, noch ehe es publiziert war. Aufgeregt fügte er eine Vorrede hinzu, die das Problem aber auch nicht löste. Es sollte auch nicht lange dauern, bis Schlegel in den Lyceums-Fragmenten eine völlige Kehrtwende machte, sein Bekenntnis zum Vorrang der antiken Dichtung widerrief und den Alten den „alleinseligmachenden Schönheitsglauben“ und das „Dichtungsmonopol“ absprach. Jetzt behauptete er: „Alle klassischen Dichtarten in ihrer strengen Reinheit sind jetzt lächerlich“, und während des Jahres 1797 begann er allmählich das Wort „modern“ durch „romantisch“ zu ersetzen. Doch schauen wir uns an, was er zwei Jahre früher selbst dazu gesagt hatte.
In der Vorrede schrieb er: „Gibt es reine Gesetze der Schönheit und der Kunst, so müssen sie ohne Ausnahme gelten. Nimmt man aber diese reinen Gesetze ohne nähere Bestimmung und Richtschnur der Anwendung zum Maßstab der Würdigung der modernen Poesie, so kann das Urteil nicht anders ausfallen, als daß die moderne Poesie, die jenen reinen Gesetzen fast durchgängig widerspricht, durchaus gar keinen Wert hat. Sie macht nicht einmal Ansprüche auf Objektivität, welches doch die erste Bedingung des reinen und unbedingten ästhetischen Werts ist, und ihr Ideal ist das Interessante, d. h. subjektive ästhetische Kraft.“
Im eigentlichen Studium-Aufsatz führt er dann vollmundig aus, was er damit meint:
„Der Name der Kunst wird entweiht, wenn man das Poesie nennt: mit abenteuerlichen oder kindischen Bildern spielen, um schlaffe Begierde zu stacheln, stumpfe Sinne zu kitzeln, und rohen Lüsten zu schmeicheln. Aber überall, wo echte Bildung nicht die ganze Volksmasse durchdringt, wird es eine gemeine Kunst geben, die keine anderen Reize kennt, als niedrige Üppigkeit und widerliche Heftigkeit. Bei stetem Wechsel des Stoffs bleibt ihr Geist immer derselbe: verworrene Dürftigkeit… Charakterlosigkeit scheint der einzige Charakter der modernen Poesie, Verwirrung das Gemeinsame ihrer Maße, Gesetzlosigkeit der Geist ihrer Geschichte und Skeptizismus das Resultat ihrer Theorie… Im Grund gleichgültig gegen alle Form, und nur voll unersättlichen Durstes nach Stoff, verlangt auch das feinere Publikum von dem Künstler nichts als interessante Individualität. Wenn nur gewirkt wird, wenn die Wirkung nur stark und neu ist, so ist die Art wie, und der Stoff, worin es geschieht, dem Publikum so gleichgültig, als die Übereinstimmung der einzelnen Wirkungen zu einem vollendeten Ganzen… Durch jeden Genuß werden die Begierden nur heftiger; mit jeder Gewährung steigern die Forderungen immer höher, und die Hoffnung einer endlichen Befriedigung entfernt sich immer weiter. Das Neue wird alt, das Seltene gemein, und die Stachel des Reizenden werden stumpf. Bei schwächerer Selbstkraft und bei geringerem Kunsttriebe sinkt die schlaffe Empfänglichkeit in eine empörende Ohnmacht; der geschwächte Geschmack will endlich keine andere Speise mehr annehmen als ekelhafte Kruditäten, bis er ganz abstirbt und mit einer entschiedenen Nullität endigt.“
Wenn man den weiteren Lebensweg Friedrich Schlegels betrachtet, der sich Metternich und damit der finstersten Reaktion andienerte, dann kann man nur sagen, daß er seine eigene künftige Nullität prophetisch vorausgesehen hat, ebenso wie natürlich die immer weiter gesteigerte Degeneration der modernen Kunst. Schon im Studium-Artikel schien Schlegels gespaltene Dr.-Jekyll-Mr.-Hyde-Persönlichkeit durch, die sich dann gesetzmäßig immer weiter dem Gemeinen annäherte, nachdem er den formalen Bruch mit der Klassik erst vollzogen hatte.
Mit dem Begriff des „Interessanten“, das an die Stelle der Schönheit in der Kunst tritt, hatte er einen der Kernpunkte aller folgenden romantischen und modernen Kunst hervorgehoben, wie im übrigen vor ihm die englischen Empiriker, die von dem „Interesse“ aus Eigenliebe und dem Eigennutz des gemeinen Menschenverstand ausgegangen waren. Es ist auch kein Zufall, daß gewissermaßen parallel zu den englischen Ideen des Freihandels sich in der englischen Dichtung als bewußte Opposition zur Antike die Betonung der novelty herausbildete (der Beginn der Utopie in dem oben zitierten Artikel der Financial Times).
Das Interessante aber muß, um interessant zu bleiben, immer wieder „neu“ sein, d. h. es kann sich prinzipiell ins Unendliche steigern; es kann also nie ein „höchstes Interessantes“ geben, und es kann das Bedürfnis seinen Konsumenten nie befriedigen. So zitiert Schlegel sinnigerweise den Dichter, der von sich selbst sagt:
„So tauml‘ ich von Begierde zu Genuß, Und im Genuß verschmacht‘ ich nach Begierde;“
Für Schlegel ist damit klar, daß das Interessante eine permanente Steigerung braucht, die aber immer unstet und rastlos – und unbefriedigt – bleibt. Die Notwendigkeit, immer „neu“ zu sein, um „interessant“ zu bleiben, bedeutet eine unendliche Steigerung, in der es aber nie einen befriedigenden Abschluß geben kann, und es gibt auch kein „höchstes Neues“ oder „höchstes Interessantes“, und wie wir sehen werden, kein „höchstes Häßliches“.
Aber wie lautet es bei Schiller in der 31. und letzten Strophe seines Gedichtes Die Künstler:
Der freisten Mutter freie Söhne
Schwingt Euch mit festem Angesicht
Zum Strahlensitz der höchsten Schöne,
Um andere Kronen buhlet nicht.
Schiller war sich sicher darüber, daß es sehr wohl ein „höchstes Schönes“ gibt. Er verstand die Schönheit einerseits als „Freiheit in der Erscheinung“, wo der schöne Gegenstand oder das schöne Subjekt sich völlig eigenständig aus innerem Antrieb heraus mit der inhärenten Gesetzmäßigkeit in Übereinstimmung verhält. Das Besondere der Schönheit ist aber auch, daß sie „nach Versöhnung und Harmonie des Sinnlichen und Vernünftigen innerhalb der Sphäre der Sinnlichkeit“ strebt. Die Schönheit ist also etwas Einheitliches, ohne irgendwelche Beimischungen. Genauso wie in der wirklichen „poetischen Stimmung“ alle Mängel und Schwankungen verschwinden und auf einer höheren Ebene gewissermaßen aufgehoben sind, so ist auch das Schöne etwas in sich Harmonisches und Einheitliches.
Solange diese Eindeutigkeit der Schönheit existierte, und damit unausgesprochen auch immer die Eindeutigkeit des Wahren und Guten, waren die Prinzipien der klassischen Kunst unanfechtbar, und damit auch ihre Aufgabe, zur Vervollkommnung des Menschen das wichtigste Mittel zu sein. Genau an diesem Axiom setzte Schlegel an. Er leitete damit eine schrittweise Entwertung der Bestimmung der Kunst ein und bereitete den Boden für die Entstehung völlig anderer Kategorien der modernen Kunst.
Im Studium-Aufsatz setzt er den Hebel gerade bei der Einheitlichkeit des Schönheitsbegriffes an, indem er sagt: „Das Schöne im weitesten Sinne (in welchem es das Erhabene, das Schöne im engeren Sinne, und das Reizende umfaßt) ist die angenehme Erscheinung des Guten.“ Dies ist nun ein ganz gemeiner Trick Schlegels, denn durch die Einführung des Begriffs des „Schönen im weiteren Sinne“ wird gerade die Einheitlichkeit unterlaufen. Gemein insofern, als man auf den ersten Blick versucht sein könnte zu denken: „Warum soll das Erhabene nicht auch im Begriff der Schönheit Platz finden, immerhin ist das Erhabene bei Schiller doch der Zustand, wo der Mensch trotz der Gefährdung seiner physischen Existenz seinen Prinzipien und der Wahrheit treu bleibt?“
Es zeigt sich, daß Schlegel sich zwar einerseits Fichtes Kritik an Kant zueigen machte, aber letztlich doch innerhalb der Kantschen Kategorien argumentiert, die eben eine Trennung der Schönheit von der Vernunft vornahm. Schiller sagte dazu: „Die Kantsche Ästhetik hatte den Begriff der Schönheit allein aus der theoretischen Vernunft deduziert und lediglich der Erhabenheit eine ursprüngliche Beziehung auf Sittlichkeit zugestanden.“ Aber genau da, wo die Schönheit von der Vernunft und dem Guten getrennt wird, beginnt das Dilemma.
Bei Schiller sind die Schönheit und das Erhabene eben nicht von derselben Art, denn das Erhabene reflektiert die „gemischte Natur“ des Menschen, das Erhabene ist nicht harmonisch und einheitlich wie das Schöne, sondern es erfaßt den Widerstreit der sinnlichen und der vernünftigen Natur der Menschen, und es läßt den Menschen nach der Erschütterung und dem Kampf auf höherer Ebene frei sein. Der Mensch, der erhaben handelt, ist frei, „weil der Geist hier handelt, als ob er unter keinen anderen als seinen eigenen Gesetzen stünde“. Bei Schiller ist also der Begriff des Erhabenen auch eigentlich aufgehoben, abgeschlossen.
Bei Schlegel hingegen wird der Begriff der „erhabenen Häßlichkeit“ und des „häßlich Erhabenen“ eingeführt, der gerade diese Abgeschlossenheit nicht besitzt, sondern wirklich eine schlechte Unendlichkeit darstellt. Schlegel schreibt im Studium-Aufsatz:
Das Schöne im engeren Sinne ist die Erscheinung einer endlichen Mannigfaltigkeit in einer bedingten Einheit. Das Erhabene hingegen ist die Erscheinung des Unendlichen, unendlicher Fülle oder unendlicher Disharmonie. Es hat also einen doppelten Gegensatz: unendlichen Mangel und unendliche Disharmonie… Erhabene Schönheit gewährt einen vollständigen Genuß. Das Resultat erhabener Häßlichkeit … hingegen ist Verzweiflung, gleichsam ein absoluter, vollständiger Schmerz… Ja, sogar um das häßliche Erhabene darzustellen und den Schein unendlicher Leerheit und unendlicher Disharmonie zu erregen, wird das größte Maß von Fülle und Kraft erfordert.“
Die Bedeutung dieser Gedanken liegt nicht darin, daß sie besonders einfallsreich oder profund gewesen wären, aber diese „theoretische Begründung“ der romantischen Kunst durch Friedrich Schlegel, die ab 1798 von seinem Bruder Wilhelm August in dessen Vorlesungen inkorporiert wurde, war der Beginn des Prinzips in der Kunst, daß alles und jedes gestattet ist. Wie wir später sehen werden, war für die Klassiker die Beschäftigung mit dem Häßlichen durchaus nicht ausgeschlossen, als Kunstmittel gestattet es sogar sehr starke Effekte, aber das Häßliche wurde als eine untergeordnete Kategorie und als etwas durch bestimmte Stilmittel zu Bändigendes behandelt. Indem Schlegel das Schöne und das Häßliche als Korrelation definierte, wird der fortwährende Abbau der Schönheit als Prinzip der Kunst eingeleitet, das Häßliche wird zum Interessanten und erringt als erhabenes Häßliches schließlich die Schlüsselposition für die moderne Kunst.
Es war nur folgerichtig, daß, nachdem die vorher unanfechtbare Bedeutung der Schönheit für die Kunst nun einmal angegriffen war, auch die Forderung nach universeller Wahrheit in der Kunst nicht länger akzeptabel war. Schiller hatte in der Kritik an Matthissons Gedichten einen sehr klaren Standard für den Dichter oder Künstler definiert. Wegen der großen Wirkung seines Werkes müsse der Dichter, ehe er es überhaupt wagen dürfe, sein Publikum zu rühren, „zuvor das Individuum in sich ausgelöscht und zur Gattung gesteigert haben“, d. h. der Dichter müsse sich zumindest für den Augenblick, in dem er dichtet, zu einem idealischen Menschen veredelt haben. Nur dann, wenn er im Moment der Dichtung als Mensch überhaupt empfindet, „ist er gewiß, daß die ganze Gattung ihm nachempfinden werde“. Und um sich überhaupt Dichter nennen zu dürfen, müsse er sich auch der Wirkung auf sein Publikum gewiß sein, sonst verdiene er diesen Namen nicht. Zugleich aber müsse diese Wirkung im Publikum frei und ohne jeden Zwang erfolgen. Alle diese Bedingungen können aber nur zugleich erfüllt werden, wenn nicht nur der Dichter sich zur Gattung gesteigert hat, sondern wenn auch sein Gegenstand universell wahr ist. Schiller schreibt:
„Von jedem Dichterwerke werden also folgende zwei Eigenschaften unnachläßlich gefordert: erstlich: notwendige Beziehung auf seinen Gegenstand (objektive Wahrheit); zweitens: notwendige Beziehung dieses Gegenstandes, oder doch der Schilderung desselben, auf das Empfindungsvermögen (subjektive Allgemeinheit). In einem Gedicht muß alles wahre Natur sein, denn die Einbildungskraft gehorcht keinem anderen Gesetze und erträgt keinen anderen Zwang, als den die Natur der Dinge ihr vorschreibt; in einem Gedicht darf aber nichts wirkliche (historische) Natur sein, denn alle Wirklichkeit ist mehr oder weniger Beschränkung jener allgemeinen Naturwahrheit. Jeder individuelle Mensch ist gerade um soviel weniger Mensch, als er individuell ist; jede Empfindung ist gerade um soviel weniger notwendig und rein menschlich, als sie einem bestimmten Subjekt eigentümlich ist. Nur im Wegwerfen des Zufälligen und in dem reinen Ausdruck des Notwendigen liegt der große Stil.“ (Herv. d. Verf.)
Eben dieser Forderung nach universeller Wahrheit des Gegenstandes der Dichtung setzten die Romantiker die Theorie des Unbewußten als einer Realität entgegen. Für die Romantiker ist, wie später für Freud, das Genie nur derjenige, der mit „Phantasie“ neue Möglichkeiten schafft, die harte Wirklichkeit mit weichen Schonungen abzufedern und mit gesteigerten Tagträumen zu verdrängen.
Kunst als stimulierende Droge oder milde Narkose: Das ist genau das Gegenteil des klassischen Ideals, das Schiller so großartig im Gedicht Die Künstler ausgedrückt hat: „Nur durch das Morgentor der Schönheit drangst Du in der Erkenntnis Land.“ Hier ist die Kunst der Weg, die kognitiven Fähigkeiten zu entwickeln und das Individuum zu veredeln, bei den Romantikern ist sie das Sich-gehen-lassen wohin auch immer eine mehr oder weniger krankhafte Phantasie den Menschen ziehen mag.
Während es Friedrich Schlegels unrühmlicher Beitrag gewesen war, der Theorie des Häßlichen in der Ästhetik den Boden zu bereiten, ging die Verherrlichung des Unbewußten, des Träumerischen mehr auf das Konto von Novalis und Tieck, zu dem sich dann später das offen Morbide bei E. T. A. Hoffmann gesellen sollte. Die Schriften der Romantiker selbst werden zwar glücklicherweise schon seit langem nicht mehr gelesen – doch leider werden ihre Machwerke in immer neuen Versionen kopiert, ohne daß sich das Publikum jenes Ursprunges noch bewußt wäre. Wer hätte je den völlig mißlungenen Romanversuch Lucinde gelesen, mit dem Friedrich Schlegel vergeblich versuchte, Goethes Wilhelm Meister zu beantworten?
In Novalis‘ unvollendet gebliebenem Roman Heinrich von Ofterdingen, in dem er die Sehnsucht nach der „blauen Blume“ darzustellen versucht, die zum Inbegriff der romantischen Sehnsucht überhaupt werden sollte, vermischen sich Geschehen, Träume, Märchen, Gegenwart, Zukunft und Vergangenheit in einer solchen Weise, daß es nicht mehr wirklich gelingt, die verschiedenen Ebenen der Geschichte deutlich auseinanderzuhalten. Dies ist von Novalis offenbar intendiert. In gewisser Weise erinnert es an die Technik heutiger Pop-Videospots, bei denen sich beständig die Perspektive ändert, Fokus sich in Unschärfe verliert und schon alleine durch diese Aufnahmetechnik ein quasi psychedelischer Effekt erzeugt wird.
Zu Beginn der Erzählung heißt es:
„Der Jüngling lag unruhig auf seinem Lager, und gedachte des Fremden und seiner Erzählungen. Nicht die Schätze sind es, die ein so unaussprechliches Verlangen in mir geweckt haben, sagte er zu sich selbst; fern ab liegt mir alle Habsucht: aber die blaue Blume sehn‘ ich mich zu erblicken. Sie liegt mir unaufhörlich im Sinn, und ich kann nichts anderes dichten und denken. So ist mir noch nie zu Muthe gewesen: es ist, als hätt‘ ich vorhin geträumt, oder ich wäre in eine andere Welt hinübergeschlummert; denn die Welt, in der ich sonst lebte, wer hätte da sich um Blumen bekümmert, und gar von einer so seltsamen Leidenschaft für eine Blume hab‘ ich damals nie gehört. Wo eigentlich nur der Fremde her kam? Keiner von uns hat je einen ähnlichen Menschen gesehen; doch weiß ich nicht, warum nur ich von seinen Reden so ergriffen worden bin; die Anderen haben ja das Nämliche gehört, und Keinem ist so etwas begegnet. Daß ich auch nicht einmal von meinem wunderlichen Zustande reden kann! Es ist mir oft so entzückend wohl, und nur dann, wenn ich die Blume nicht recht gegenwärtig habe, befällt mich ein so tiefes, inniges Treiben: das kann und wird Keiner verstehen. Ich glaubte ich wäre wahnsinnig, und wenn ich nicht so klar und hell sähe und dächte, mir ist alles seitdem viel bekannter.“
Heinrich fällt in den Schlaf, träumt aufregende mit erotischen Phantasien vermischte Dinge, „starb und kam wieder“ und findet sich schließlich bei einem dunkelblauen Felsen mit bunten Adern wieder. „Was ihn aber mit voller Macht anzog, war eine hohe lichtblaue Blume, die zunächst an der Quelle stand, und ihn mit ihren breiten, glänzenden Blättern berührte. Rund um sie her standen unzählige Blumen von allen Farben, und der köstlichste Geruch erfüllte die Luft. Er sah nichts als die blaue Blume, und betrachtete sie lange mit unnennbarer Zärtlichkeit. Endlich wollte er sich ihr nähern, als sie auf einmal sich zu bewegen und zu verändern anfing; die Blätter wurden glänzender und schmiegten sich an den wachsenden Stengel, die Blume neigte sich nach ihm zu, und die Blüthenblätter zeigten einen blauen, ausgebreiteten Kragen, in welchem ein zartes Gesicht schwebte.“
Da weckt ihn seine Mutter, aber er bleibt in seiner verzückten Stimmung.
Nach vielen verschlungenen Etappen der Reise, auf die er sich mit seiner Mutter begeben hat, überkommt ihn nach der Begegnung mit seiner Braut Mathilde die gleiche Stimmung wie in jenem Traum, und er spricht: „Ist mir nicht zu Mute, wie in jenem Traume, beim Anblick der blauen Blume? Welcher sonderbare Zusammenhang ist zwischen Mathilden und dieser Blume? Jenes Gesicht, das aus dem Kelche sich mir entgegenneigte, es war Mathildens himmlisches Gesicht…“ Wie dann aus den nicht ausgeführten Materialien zum Roman hervorgeht, ist auch Mathilde nur eine Metapher, und die Edda ist „die eigentliche blaue Blume.((Die Edda, das Nibelungenlied und andere Dichtungen der nordischen Mythologie spielten eine wichtige Rolle bei dem Versuch der Romantiker, die griechische Mythologie als Bezugspunkt der Klassiker zu ersetzen. Schiller und Goethe lehnten diese Betonung der nordischen Mythologie spontan ab. Schiller empfand sie als zu gegrenzt und lokalistisch im Unterschied zur universellen Bedeutung der griechischen Sagenwelt.
Bekanntermaßen setzte sich die Begeisterung für die nordische Mythologie bei Wagner fort bis zur „Nibelungentreue“ im Dritten Reich.))
Entfaltung verschiedener Traumwelten, Vorausdeutungen und Ahnungen zukünftiger Ereignisse, Märchen, die in die Geschichte als Inseln eingebaut sind, das Auftauchen eines geheimnisvollen Buches im fünften Kapitel, welches Heinrichs zukünftigen Lebensweg enthält – all dies sind Stilmittel, die die Trennung von Sein und Schein, Einbildung und Wahrheit, Traum und Wirklichkeit aufheben. Man könnte den Roman auch einfach nur verworren nennen, doch dieser Wahnsinn hat Methode. Auf jeden Fall gibt es keine Verpflichtung zur Wahrheit, weder beim behandelten Stoff noch beim Dichter.
Daß diese Phantasien nicht nur harmlose Spinnereien sind, wird deutlich an den Reden von Heinrichs späterem Lehrmeister, mit dem seltsamen Namen Klingsohr. Dieser beschreibt die Rolle der Poesie und der Dichter zu Zeiten des Krieges:
„Im Kriege, versetzte Klingsohr, regt sich das Urgewässer. Neue Weltteile sollen entstehen, neue Geschlechter sollen aus der großen Auflösung schießen. Der wahre Krieg ist der Religionskrieg: der geht geradewegs zu auf Untergang, und der Wahnsinn der Menschen erscheint in seiner völligen Gestalt. Viele Kriege, besonders die vom Nationalhaß entspringen, gehören in diese Klasse mit, und sie sind echte Dichtungen. Hier sind die wahren Helden zu Hause, die das edelste Gegenbild der Dichter, nichts anderes, als unwillkürlich von Poesie durchdrungene Weltkräfte sind. Ein Dichter, der zugleich Held wäre, ist schon ein göttlicher Gesandter, aber seiner Darstellung ist unsere Poesie nicht gewachsen.“
Hat Ernst Jünger diese Zeilen gelesen, ehe er sein Stahlgewitter schrieb? Wenn man bedenkt, daß der Dreißigjährige Krieg, der den „Wahnsinn der Menschen“ um Religionsfragen mit all seiner Zerstörungswut hinlänglich demonstriert hatte, erst 150 Jahre vorbei war, muß man sich doch wundern, welche Einblicke Novalis da in sein Verständnis von „Poesie“ gewährt!
Bedenkt man, daß sein Vater Salinendirektor in Weißenfels war und Novalis ab dem 1. Dezember 1797 an der berühmten Bergakademie in Freiberg Geologie, Mineralogie, Bergbaukunde, Chemie und Mathematik studierte, so war sein Verhältnis zur Naturwissenschaft und zur physischen Arbeit merkwürdig. Als Heinrich im fünften Kapitel auf einen Bergmann trifft, geht es bei dessen Erzählungen weniger um eine Beschreibung seiner an sich ja beschwerlichen Arbeit oder der Realität des Bergbaus, sondern der Berg wird zum Synonym für die Erforschung des eigenen Innenlebens.
Man vergleiche damit die liebevolle Sorgfalt, mit der Friedrich Schiller den Prozeß des Glockengießens in seinem berühmten Lied von der Glocke verarbeitet hat, wo er seine vorangegangenen Beobachtungen in Glockengießereien verwendet und diese realistischen Arbeitsvorgänge nicht „wegpoetisiert“. Schillers poetische Idee ist, daß der Prozeß des Glockengießens, der Lauf des Lebens und die Entwicklung des Staates gewisse gemeinsame Gesetzlichkeiten aufweisen, er komponiert diese Idee auf den drei Ebenen durch und findet im Friedensgeläute der Glocke einen genauen, notwendigen Abschluß. Bei Novalis dagegen verschwimmen die Elemente im Nebel; so sagt er im zweiten Teil: „Die Welt wird Traum, der Traum wird Welt.“
An einer weiteren Stelle dieser „unendlichen Geschichte“ des Romans, der in der Tat „irgendwo anfängt und irgendwo aufhört“, also keine notwendige innere Form hat, heißt es dann in dem sogenannten Märchen des späteren Lehrmeisters Klingsohr: „Dort wird aus der Asche der im Flammentod umgekommenen Mutter ein Trank bereitet, den die für die Erlösung der Welt wirkenden Personen zu sich nehmen. Alle kosteten den göttlichen Trank und vernahmen die freundliche Begrüßung der Mutter in ihrem Inneren mit unsäglicher Freude. Sie war jedem gegenwärtig, und ihre geheimnisvolle Anwesenheit schien alle zu verklären.“ In der Literatur der Tiefenpsychologie werden hier bei Novalis die Motive des Kannibalismus und des Inzests vermutet.
Überhaupt bieten die Schauerromane und Phantasiegeburten der Romantiker nicht nur ein gefundenes Fressen für die Psychoanalyse und die Psychiatrie, diese Disziplinen sind gewissermaßen die bewußten Nachschöpfungen der Romantik. So drückt zum Beispiel Freud in seiner Abhandlung über Das Unheimliche sein großes Interesse an Hoffmanns Erzählung Der Sandmann aus und stellt fest, daß die Wirkung des Unheimlichen in dieser Geschichte gerade davon ausgeht, daß Schein und Wirklichkeit nicht zu unterscheiden sind.((In einem Planspiel des Council on Foreign Relations, das im letzten Jahr die Möglichkeit eines globalen Zusammenbruchs des Finanzsystems simulierte, wurde die Idee eines Modells einer dreidimensionalen Brille präsentiert, mit der in zehn Jahren Menschen eine von der Wirklichkeit abweichende virtuelle Realität leben könnten – eine durchaus an ETA Hoffmann und später George Orwell und Aldous Huxley orientierte Horrorvision.)) Bei dieser Erzählung geht es im übrigen um eine abstruse Phantasie, in der der Student Nathanael, geplagt von Alpträumen aus der Kindheit, durch eine besondere Brille die Außenwelt anders wahrnimmt als alle anderen und zu einer schizophrenen Deutung des Geschehens gelangt. In dem Augenblick verwandelt sich seine bezaubernde Geliebte Olimpia in eine häßliche Puppe, das totenbleiche Wachsgesicht hat statt Augen nur schwarze Höhlen, die Gestalt ist zerstückelt und die Augen liegen herausgerissen am Boden.
Mit nur graduellen Unterschieden geht es bei Novalis, Tieck und Hoffmann eigentlich immer um die Dekomposition einer offensichtlich nicht so heilen Welt, Abgründe tun sich auf, die „Nachtseite“ der menschlichen Psyche kommt zum Vorschein. Diese Aspekte der menschlichen Seele gibt es natürlich, das Problematische ist aber, daß sie hier nicht als psychische Defekte behandelt werden, die von der geistigen Gesundheit abweichen, sondern daß umgekehrt die Wirklichkeit als das Irreale und Fragile hingestellt wird. Während die Klassik und vor allem natürlich Schiller verlangt, daß der Mensch „größer als sein Schicksal“ ist, ist bei den Romantikern das Schicksal nichts anderes als ihr eigener sich entfaltender Charakter. Schiller verlangt, daß der Mensch seine nicht vollkommenen Gefühle erzieht, bis er sich völlig darauf verlassen kann, daß sie mit der Vernunft übereinstimmen, d. h. der Mensch kann ist dazu aufgerufen, seine Probleme zu überwinden, anstatt sich darin zu suhlen.
Heinrich Heine befand, die Ähnlichkeit zwischen Novalis und Hoffmann bestehe darin, daß ihre Dichtung eigentlich eine Krankheit sei, die Beurteilung ihrer Schriften sei weniger das Geschäft des Kritikers als das eines Arztes. Goethe schrieb 1827 über Hoffmann, seine Schriften verrieten „krankhafte Verwirrungen seines talentreichen Naturells“, die von den „Verrücktheiten eines Mondsüchtigen“ zeugten und einen „krankhaften Zustand seines zerrütteten Wesens“ verrieten. Und am 2.4.1829 sagte Goethe zu Eckermann, das Klassische sei schlicht das Gesunde und das Romantische das Kranke. In der Tat, wenn man sich die ganze Reihe von Schauerromanen und Gespenstergeschichten der Romantiker vor Augen hält, so hat man es doch eher mit Krankheitsgeschichten zu tun als mit Dichtung.
Heinrich Heine, der der Romantischen Schule in einer längeren Abhandlung in drei Büchern den literarischen Garaus machte, war im übrigen genau zu dieser Einschätzung der romantischen Dichter gelangt. Im ersten Buch schrieb er:
„Will man sich einen Begriff von dem großen Haufen der Poeten machen, die damals in allen möglichen Versarten die Dichtungen des Mittelalters nachschufen, so muß man nach dem Narrenhaus zu Charrenton gehen… Ich habe eben den deutschen Parnaß jener Zeit mit Charrenton verglichen. Ich glaube aber auch, hier habe ich viel zu wenig gesagt. Ein französischer Wahnsinn ist noch lange nicht so wahnsinnig wie ein deutscher, denn in diesem, wie Polonius sagen würde, ist Methode. Mit einer Pedanterie ohne Gleichen, mit einer entsetzlichen Geniehaftigkeit, mit einer Gründlichkeit, wovon sich ein oberflächlicher französischer Narr nicht einmal einen Begriff machen kann, trieb man jene deutsche Tollheit.“
Und spezifisch über Novalis und E. T. A. Hoffmann schrieb Heine im zweiten Buch: „Die große Ähnlichkeit zwischen beiden Dichtern besteht wohl darin, daß ihre Poesie eigentlich eine Krankheit war. In dieser Hinsicht hat man geäußert, daß die Beurteilung ihrer Schriften nicht das Geschäft des Kritikers, sondern des Arztes sei. Der Rosenschein in den Dichtungen des Novalis ist nicht die Farbe der Gesundheit, sondern der Schwindsucht, und die Purpurglut in Hoffmanns ,Phantasiestücken‘ ist nicht die Flamme des Genies, sondern des Fiebers.“
Es ist typisch für Goethe, daß er im Gegensatz zu Schiller, der den Kontakt zu den Romantikern konsequent abbrach, tolerierte, daß sie einen gewissen Kult um seine Person und sein Werk veranstalteten. Immerhin „mehrten sie seinen Ruhm“. Später erkannte allerdings auch Goethe die schlechte Auswirkung der romantischen Phantasiegeburten. So ist es schon erstaunlich, daß er seinen Lesern nachdrücklich die Lektüre eines Berichts in der englischen Zeitschrift The Foreign Quarterly Review (1827)
empfiehlt, der besonders die Arbeiten Hoffmanns als das Werk eines Verrückten charakterisiert. Goethe schreibt: „Wir können den reichen Inhalt dieses Artikels unseren Lesern nicht genugsam empfehlen; denn welcher treue, für Nationalbildung besorgte Teilnehmer hat nicht mit Trauer gesehen, daß die krankhaften Werke des leidenden Mannes lange Jahre in Deutschland wirksam gewesen und solche Verwirrungen als bedeutend fördernde Neuigkeiten gesunden Gemütern eingeimpft worden.“ (Goethe in Schriften zur Literatur.)
Was Goethe und Heine hier beschreiben, ist der katastrophale Effekt, den die Schriften der Romantiker – und was sie über Novalis und Hoffmann sagen, gilt in abgewandelter Form für beinahe alle Vertreter dieser Schule – auf die Entwicklung des Bewußtseins und der geistigen Gesundheit der deutschen Bevölkerung hatten. Daß dies sehr gut in das Kalkül der reaktionären Tendenzen der Heiligen Allianz paßte, war vor allem Heine klar, der einen sehr viel deutlicheren antioligarchischen Standpunkt vertrat als Goethe. In der Romantischen Schule bemerkt er dazu:
„Spaßhaft genug ist es, daß gerade die romantische Schule uns die beste Übersetzung eines Buches geliefert hat, worin ihre eigene Narrheit am ergötzlichsten durchgehechelt wird. Denn diese Schule war ja von demselben Wahnsinn befangen, der auch den edlen Manchaner zu allen seinen Narrheiten begeisterte, auch sie wollte das mittelalterliche Rittertum wieder restaurieren, auch sie wollte eine abgestorbene Vergangenheit wieder ins Leben rufen…
Die romantische Schule ging damals Hand in Hand mit dem Streben der Regierungen und der geheimen Gesellschaften… Die Schule schwamm mit dem Strom der Zeit, nämlich mit dem Strom, der nach seiner Quelle zurückströmte.“
Wie an anderer Stelle ausgeführt,((Helga Zepp-LaRouche, „Wie bewahren wir die Zivilisation vor einem finsteren Zeitalter“, in Neue Solidarität Nr. 51, 16.12.1998, und Helga Zepp-LaRouche, „Imperien zerstören sich immer selbst“, in diesem Heft.)) stimmte die am römischen Kaisertum und am Mittelalter orientierte geschichtsphilosophische Vision der Romantiker, so wie sie zum ersten Mal in Novalis‘ Schrift Die Christenheit oder Europa skizziert ist, mit den reaktionären Absichten der Heiligen Allianz völlig überein. In diesem Sinn schwamm die Schule in der Tat mit dem an seine Quelle zurückströmenden Strom: dem Modell des Römischen Reiches. Was Novalis und die anderen sogenannten Frühromantiker vor allem unter dem Eindruck der imperialen Eroberungen Napoleons als „reines, am Christentum orientiertes Kaisertum“ setzten, paßte später den oligarchischen Intriganten des Wiener Kongresses sehr gut ins Konzept. Die Vorstellung eines an Rom orientierten universellen Kaisertums, bei dem der Kaiser als König der Könige über ein hierarchisches Ständesystem herrscht, war gegen die Idee des souveränen Nationalstaates gerichtet, wie sie sich seit dem 15. Jahrhundert entwickelt hatte.
Für Schiller oder Wilhelm von Humboldt war es kein Widerspruch, zugleich Patriot und Weltbürger, der sich die Sache der Menschheit zueigen macht, zu sein. Für Schiller war das Ziel der Menschheit „Fortschreitung“, wie er es in der Schrift Die Gesetzgebung des Solon und Lykurg definiert. Für die Oligarchie, gleich, ob es sich um Metternich, Castlereigh oder den größten Teil des preußischen Adels handelte, war dagegen die Spaltung in einen mit Privilegien ausgestatteten Erbadel und ebenso angeblich von Geburt „minderwertige“ Leibeigene und niedere Stände die wünschenswerte Gesellschaftsform – de facto eine Form des Rassismus. In dieser Hinsicht bestand kein Unterschied zwischen Napoleon und den Vertretern der Heiligen Allianz, sie alle betrachteten das Römische Reich als Referenzpunkt ihrer politischen Bestrebungen.
Was aber könnte die Affinität zwischen der Oligarchie der Restauration und einer Kunstrichtung sein, die die Häßlichkeit und das psychisch Kranke befördert? Die Antwort ist offensichtlich: Jede imperiale Herrschaftsform ist immer daran interessiert, die Bevölkerung in einem bestialisierten, „verrückten“ Zustand zu halten. Das Rom der Kaiserzeit ist berüchtigt für seine Methode, das Volk durch „Brot und Spiele“ zu kontrollieren, die am besten funktioniert, wenn der deprivierte Volksgeschmack (vox populi) selber den Grad und die Form der Gehirnwäsche bestimmt, mit der die Bevölkerung zu Raubtieren degradiert wird. Medienauswüchse wie der Hollywood-Schinken Der Gladiator und Big Brother sind dafür in unserer Zeit symptomatisch.
Ein vergleichender Blick auf die Behandlung des Häßlichen, Grausigen und Ekelhaften in der griechischen Antike und der römischen Kaiserzeit ist dabei aufschlußreich. Die vorklassische, klassische und nachklassische Periode haben jeweils ein ganz spezifisches Verhältnis zur Häßlichkeit.
Der wesentliche Unterschied besteht darin, daß in der hellenistischen Poesie zwar durchaus Schilderungen grauenhafter Vorkommnisse existieren, diese aber zum Beispiel bei Homer und den Tragikern kaum entbehrliche Elemente der erzählten Geschichte sind. Eine gewisse Ausnahme macht die sogenannte „Aspis“-Erzählung, die Hesiod (6. Jahrhundert vor Christus) zugeschrieben wird. Die Zerreißung des Pentheus in den Bacchen des Euripides gilt als die grauenhafteste Beschreibung in der klassischen griechischen Dichtung und stellt ebenfalls eine gewisse Ausnahme dar. Lessing, der sich intensiv mit der Verwendung des Grauenhaften und Häßlichen in der Antike beschäftigt hat, nennt weiter Passagen aus dem Demeter-Hymnus des Apollonius.
Eine qualitativ völlig andere Stufe erreicht aber die Behandlung des Grausigen und Häßlichen in der Dichtung der römischen Kaiserzeit, in der die Wirklichkeit mit ihren grausigen Szenen, wie zum Beispiel grausamen Gladiatorenkämpfen und Tierhatzen „poetische“ Anregung boten. Es wird die Erzielung äußerster Effekte durch die Vorstellung des Grauenhaften gesucht. So erregt Ovid in seinen Metamorphosen Ekel durch extreme Verletzungen des Körpers, nämlich die ihr eigenes Gedärm zertretenden Zentauren.
Seneca hat das fragwürdige Verdienst, im Botenbericht der Phädra die Greuel noch zu steigern, indem er im Detail schildert, wie Hippolith von durchgehenden Pferden geschleift und seine verschiedenen Körperteile an Klippen, Pfählen und Dornen verteilt werden.
Die ekelerregende Beschreibung in der Pharsalia des Lukanz, in der der Untergang der römischen Republik und der Sieg des Verbrechens über das Recht geschildert wird, stellt vielleicht das krasseste Beispiel in dieser Richtung dar. Diese Form der Darstellung war nicht nur Ausdruck des bestialischen Menschenbildes des imperialen Rom, seine oligarchische Machtelite wußte auch ganz genau, daß die Brutalisierung der Massen auch ein perfektes Mittel der politischen Kontrolle darstellte. Wenn der Mensch degradiert, pornographisch, voyeuristisch denkt, wenn er haßt, neidet und selbstsüchtig ist, dann ist es einfach, ihn zu manipulieren. Wenn er erst einmal auf diese Gefühlsebene reduziert ist, unterscheidet er sich nur noch graduell vom Pawlowschen Hund, dessen Speicheldrüsen zu arbeiten beginnen, wenn ein bestimmtes Lautsignal ertönt, auch wenn gar kein Futter da ist. Man denke nur an die Wirkung von Pornos bei manchen Leuten.
Was könnte also der Grund sein, warum Hollywood Filme wie „Gladiator“ und „Hannibal“ produziert, den die Bild-Zeitung am 3. Februar 2001 als den brutalsten Film des Jahres mit folgender Beschreibung ankündigte:
- „Das Skalpell schneidet wie durch Butter – ruck, zuck, um den Kopf herum. Dann ein Stückchen Hirn abgetrennt, kurz in einer Pfanne angebraten und dem Opfer zu essen gegeben –,Hhm!
schmeckt lecker‘, sagt der Typ, der sein eigenes Gehirn verspeist hat… Bäuche werden aufgeschlitzt. Innereien klatschen auf regennasses Kopfsteinpflaster. Wildschweine fressen Menschen auf. Blut spritzt. Knochen knacken. Denn der Kannibale Hannibal hat Hunger, einen Mordshunger.“
Gegen diese Steigerung des Ekelhaften nimmt sich eine im Februar gesendete Folge von Big Brother fast schon harmlos aus, bei dem die Containerinsassen von lebenden Maden bis zu großen toten Insekten alles verspeisten, nur um im Spiel zu bleiben. Ovid läßt grüßen. Die Verblödung ist das Opium fürs Volk.
Doch wie gehen die Klassiker mit dem Häßlichen und Grausigen um? Ein charakteristisches Beispiel findet sich in Schillers Gedicht Die Kraniche des Ibykus:
Es steigt das Riesenmaß der Leiber
Hoch über menschliches hinaus.
Ein schwarzer Mantel schlägt die Lenden,
Sie schwingen in entfleischten Händen
Der Fackel düsterrote Glut,
In ihren Wangen fließt kein Blut.
Und wo die Haare lieblich flattern,
Um Menschenstirnen freundlich wehn,
Da sieht man Schlangen hier und Nattern
Die giftgeschwollnen Bäuche blähn.
Und schauerlich gedreht im Kreise,
Beginnen sie des Hymnus Weise,
Der durch das Herz zerreißend dringt,
Die Bande um den Frevler schlingt.
Besinnung raubend, herzbetörend
Schallt der Erynnien Gesang,
Er schallt, des Hörers Mark verzehrend,
Und duldet nicht der Leier Klang…
Nun sind Schlangen und Nattern mit giftgeschwollnen Bäuchen statt Haaren durchaus eine ekelhafte Vorstellung, aber trotzdem ist das Grauenhafte nicht außer Kontrolle und uferlos, sondern die Erynnien schreiten „streng und ernst, nach alter Sitte, mit langsam abgemessnem Schritte“, und als sie sich entfernen, entsteht eine Stille, „als ob die Gottheit nahe wär“.
Das Häßliche, Grausige wird also nicht um seiner selbst willen dargestellt, sondern dient nur als ein Mittel, die Anwesenheit des Übernatürlichen zu erzeugen.
Und es ist gerade diese Konfrontation, die unausgesprochen furchtbare Macht, „die richtend im Verborgnen wacht“, heraufbeschwört und damit einen Druck erzeugt, den die Räuber letztlich nicht aushalten können, so daß ihnen dann die selbstentlarvenden Worte über die „Kraniche des Ibykus“ entfahren.
Wie die Alten in den verschiedenen Phasen der griechischen Antike und der Römerzeit mit der Vorstellung des Häßlichen verfahren, war Gegenstand ausführlicher Untersuchungen, die zu den entscheidenden Vorarbeiten der deutschen Klassik gehören. Entscheidend waren vor allem die Schriften Winckelmanns, Lessings weiterführende Kritik an ihnen und sein Dialog mit Moses Mendelssohn über verschiedene ästhetische Probleme.
Lessings Schrift Laokoon oder über die Grenzen der Malerei und der Poesie war die vielleicht einflußreichste Darlegung, die die Voraussetzungen zur Entwicklung klassischer Kunstgesetze zu entwickeln half. Er berichtet, wie das Gesetz der Thebaner zur Nachahmung des Schönen zwang und die Nachahmung ins Häßlichere bei Strafe verbot. Die Künstler waren angehalten, nichts als das Schöne zu schildern, und in ihren Werken sollte „die Vollkommenheit des Gegenstandes selbst“ entzücken, weil es um den Endzweck der Kunst, nämlich um den Effekt auf den Menschen ging. Weil bei den Alten die Schönheit selbst das höchste Gesetz der bildenden Künste war, mußte alles, was sich mit der Schönheit nicht vertrug, ihr gänzlich weichen, und falls es sich mit ihr vertrug, ihr wenigsten untergeordnet sein. Daraus folgen auch ganz bestimmte Regeln für die Darstellung menschlicher Emotionen, wie Lessing schreibt:
„Es gibt Leidenschaften und Grade von Leidenschaften, die sich in dem Gesichte durch die häßlichsten Verzerrungen äußern, und den ganzen Körper in so gewaltsame Stellungen setzen, daß alle die schönen Linien, die ihn in einem ruhigeren Stande umschreiben, verloren gehen. Dieser enthielten sich also die alten Künstler entweder ganz und gar, oder setzten sie auf geringere Grade herunter, in welchem sie eines Maßes von Schönheit fähig sind. Wut und Verzweiflung schändete keines von ihren Werken. Ich darf behaupten, daß sie nie eine Furie gebildet haben.“
Lessing beschreibt die Kunstmittel, die die Bildhauer Hagesandros, Polydoros und Athenadoros von Rhodos bei der Laokoon-Gruppe angewandt hatten, um dieses Argument zu verdeutlichen. Diese späthellenistische Plastik, die im 1.Jahrhundert vor Christus geschaffen wurde, gilt seit ihrer Wiederentdeckung im Jahre 1506 in Rom als Inbegriff der klassischen griechischen Skulptur. Winckelmann rückte sie durch seine begeisterte Darstellung in seinen Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in den Mittelpunkt der Debatte um eine klassische Ästhetik in Deutschland, an der sich in der Folgezeit viele Dichter und Kunsttheoretiker beteiligten. Lessings Schrift, die polemisch an Winckelmann anknüpfte, wurde die fruchtbarste für die Entwicklung der Gesetzmäßigkeit der Klassik. Alles, auch das Häßliche, führt er aus, müsse dem Gesetz der Schönheit unterworfen werden.
- „Und dieses nun auf den Laokoon angewendet, so ist die Ursache klar, die ich suche. Der Meister arbeitete auf die höchste Schönheit, unter den angenommenen Umständen des körperlichen Schmerzes. Dieser, in aller seiner entstellenden Heftigkeit, war mit jener nicht zu verbinden. Er mußte ihn also herabsetzen: er mußte Schreien in Seufzen mildern; nicht weil das Schreien eine unedle Seele verrät, sondern weil es das Gesicht auf eine ekelhafte Weise verstellet. Denn man reiße dem Laokoon in Gedanken nur den Mund auf, und urteile. Man lasse ihn schreien, und sehe. Es war eine Bildung, die Mitleid einflößte, weil sie Schönheit und Schmerz zugleich zeigte; nun ist es eine häßliche, eine abscheuliche Bildung geworden, von der man gern sein Gesicht verwendet, weil der Anblick der Schmerzen Unlust erregt, ohne daß die Schönheit des leidenden Gegenstandes diese Unlust in das süße Gefühl des Mitleides verwandeln kann.
Die bloße weite Öffnung des Mundes, – beiseitegesetzt, wie gewaltsam und ekel auch die übrigen Teile des Gesichts dadurch verzerret und verschoben werden, – ist in der Malerei der Fleck und in der Bildhauerei eine Vertiefung, welche die widrigste Wirkung von der Welt tut.“
Da es für Lessing bei der Kunst letztlich immer um die Veredelung des Menschen ging, war auch in der Dichtkunst das „moralisch Häßliche“ verboten, sofern es das „ästhetische Mitleid“ und damit die letzte Wirkungsabsicht vor allem des Dramas verhindert. Dieses Mitleid soll nicht zu karitativer Handlung führen, sondern durch die innere Identifizierung des Betrachters, durch eine innige Verschmelzung mit der leidenden Person zu einem katharsischen Läuterungseffekt. Genau deshalb sagt Mendelssohn im Kontext dieser Debatte, daß der mitleidigste Mensch der beste sei, eben weil er imstande sei, sein Empfindungsvermögen am weitestgehendsten auszubilden.
Schiller entwickelt in der Vorrede zur Braut von Messina das Argument, daß die große Kunst, vor allem die klassische Tragödie, sehr wohl vermöge, das Empfindungsvermögen des Zuschauers zu veredeln und es dauerhaft zu verändern.
„Die wahre Kunst aber hat es nicht bloß auf ein vorübergehendes Spiel abgesehen, es ist ihr Ernst damit, den Menschen nicht bloß in einen vorübergehenden Traum der Freiheit zu versetzen, sondern ihn wirklich und in der Tat frei zu machen, und dieses dadurch, daß sie eine Kraft in ihm erweckt, übt und ausbildet, die sinnliche Welt, die sonst nur als roher Stoff auf uns lastet, als eine blinde Macht auf uns drückt, in eine objektive Ferne zu rücken, in ein freies Werk unseres Geistes zu verwandeln, und das Materielle durch Ideen zu beherrschen.“
Wenn die große Kunst, die nach dem Prinzip der Klassik schön sein muß und das Häßliche allenfalls in gebändigter Form und als untergeordnete Kategorie behandeln soll, den Menschen frei macht und seine Ideenkraft stärkt – was ist dann der Effekt des zügellosen Häßlichen und Ekelhaften in der „Kunst“ (falls man diese dann noch so nennen sollte)?
Wenn schöne Kunst frei macht und die kognitiven Fähigkeiten stärkt, dann macht häßliche und ekelhafte „Kunst“ den Menschen unfrei, zum Sklaven und zur Bestie. Wie gesagt, ist all dies den römischen imperialen Methoden nachgeahmt.
Schon Lessing wies auf den nachhaltigen Effekt des Greulichen hin. Er schrieb: „Weder das Vergnügen der Nachahmung noch der Freude an der, mit der Abbildung verknüpften, erfüllten Wißbegierde, können die Wirkung der Häßlichkeit mildern oder aufheben. Wir können lediglich von der Häßlichkeit abstrahieren und dennoch an der Kunst des Malers sowie an der Befriedigung unserer Wißbegierde Vergnügen empfinden. Doch dieses Vergnügen ist momentan, und die Häßlichkeit wirkt nachher umso stärker.“
Darin liegt genau das Problem. Genau wie die klassische schöne Kunst eine Kraft erzeugt, die bleibt, so ist die Wirkung des Häßlichen nachhaltig. Lessing stellt dabei im Zusammenhang mit der Untersuchung der Unterschiede der Wirkung des Häßlichen in Poesie und Malerei fest: „Die unschädliche Häßlichkeit wird folgerichtig nicht für lange lächerlich bleiben, die unangenehme Empfindung gewinnt die Oberhand, und was im ersten Moment komisch war, wird in der Folge nur abscheulich. Nicht anders ist es mit der schädlichen Häßlichkeit: Das Furchtbare verliert sich Schritt für Schritt und das Deformierte bleibt allein und unveränderbar zurück.“
Dies ist genau der zerstörerische Effekt des „schädlichen Häßlichen“, vor allem, wenn es in der Form der unaufhörlichen Berieselung mit Gewalt und Häßlichkeit in den Medien verbunden ist: es läßt deformierte Persönlichkeiten und unwiderrufbar zerstörte Charaktere zurück.
Um zu der Frage „Finsteres Zeitalter oder Renaissance“ zurückzukommen, so ist die Antwort offensichtlich: Nur wenn es gelingt, eine wirklich in die Breite wirkende Bewegung aufzubauen, die den Romantizismus in all seinen degenerierten Formen ablehnt und wieder die Kohärenz von Schönheit, Wahrheit und Vernunft akzeptiert, wieder in einer klassischen Weise zu denken lernt, kann eine neue Renaissance eingeleitet werden.
Schönheit ist die notwendige Bedingung der Menschheit. Also lassen Sie uns Schönheit schaffen!