Den folgenden Artikel stellte uns freundlicherweise Dr. Jean-Pierre Voiret zur Verfügung. Dr. Voiret, geboren 1936, ist Naturwissenschaftler, Sinologe und Autor.
In der Zeit von 1975 bis 2003 reiste er in verschiedenen Funktionen alle zwei Jahre nach China, beteiligte sich an zahlreichen Expeditionen und wurde so Augenzeuge der rasanten Entwicklung des Kontinents.
Einleitung
Viele China-Kommentatoren haben Mühe zu verstehen, warum China – das vor vierzig Jahren immer noch ein armes Entwicklungsland war – sich wirtschaftlich so schnell entwickeln, so schnell auf das Niveau der industrialisierten Nationen gelangen und in vielen Fällen diese sogar übertreffen konnte. Ein Blick auf Chinas Technik-, Volkswirtschafts- und Wissenschaftsgeschichte bringt Licht in dieses Problem. Es ist nicht das erste Mal, daß China im Vergleich zur übrigen Welt so schnell wächst. Diese Tatsache ist auch der Hauptgrund, warum Chinas Entwicklung nicht mit anderen Regionen und Ländern der Welt verglichen werden und nicht unbedingt als Modell für andere Entwicklungsländer mit einer anderen Vergangenheit dienen kann.
Warum China nicht ernst genommen wurde
Die schnelle politische und vor allem die gewaltige wirtschaftliche Entwicklung Chinas zeigt es immer klarer: Das Reich der Mitte wird zur Großmacht auf diesem unserem Planeten. Dies beunruhigt manche Zeitgenossen; andere begrüßen, daß ein Gegengewicht zum anglo-amerikanischen Imperium entsteht. Auf jeden Fall wird es immer wichtiger, zuverlässige Prognosen über die Weiterentwicklung dieses neuen Chinas zu bekommen. Will man aber die Zukunft Chinas vorhersehen, so muß man zuerst die Vergangenheit dieses großen Reiches betrachten. Genau das werden wir jetzt tun, damit wir besser begreifen, warum sich China viel schneller und effizienter als die meisten Schwellenländer entwickelt hat.
Die Vorurteile, die sich im 19. Jahrhundert der damals dynamische und imperialistische Westen gegenüber China zurechtgelegt hatte, sind zum Teil verständlich, sahen doch die damaligen Beobachter Chinas ein Land vor sich, das tatsächlich schwach, traumatisiert, müde und verarmt war. Das hatte verschiedene historische Gründe (insbesondere die Wirkung der langen Besetzung Chinas durch die Mongolen im 14. Jahrhundert, die Ausbeutung Chinas durch die Mandschu-Oberschicht im 17. Jahrhundert, der Einfluß der englischen Opiumpolitik und der sogenannten Opiumkriege, die Ausbeutung Chinas durch die Engländer, Japaner, Franzosen, Amerikaner), Gründe, die jedoch vom Westen gar nicht erst im Detail analysiert wurden. Man nahm einfach an, der chinesische Mensch sei von seinem Wesen her träge und wenig schöpferisch, sei zudem dekadent und für eine mögliche Modernisierung sowieso vollkommen ungeeignet. Man nahm den Chinesen höchstens als tüchtigen Bauern ernst, wodurch sich die Vorstellung verstärkte, China sei schon immer bloß ein riesiges, bürokratisch verwaltetes Agrarland, ein Glied in der langen Kette der alten „Asiatischen Despotien“ (Tökei) gewesen. Noch in den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts schrieb Karl A. Wittfogel ein Buch,((K. A. Wittfogel, Wirtschaft und Gesellschaft Chinas, 1931; siehe auch Ferenc Tökei, Zur Frage der asiatischen Produktionsweise, Berlin 1969.)) um auf der Grundlage der marxistischen Kategorie „Asiatische Produktionsweise“((Siehe Marx, 1922, Seite 1, VI.)) zu beweisen, daß China nie etwas anderes als eine landwirtschaftliche und handwerkliche „asiatische Wirtschaft“ gewesen sei.
Im Gegensatz zu dieser sehr verbreiteten Ansicht sind die gegenwärtig in China stattfindenden Prozesse der Industrialisierung und des Übergangs zu den modernsten Methoden der Forschung, der Produktion und des Handels für das Reich der Mitte nicht einmal neu. Um das zu verstehen, werden wir einige archäologische Funde heranziehen, die weniger bekannte Aspekte der Wirtschaftsgeschichte Chinas illustrieren. Wir werden uns auch Gedanken über die Anwendung und den Einsatz von Intelligenz machen.
Ein Gemeinplatz als Theorieersatz
Wie schon angedeutet, wird im allgemeinen die Wirtschaftsgeschichte Chinas in Hunderten von Büchern und in Tausenden von Artikeln immer noch von einem alten Gemeinplatz beherrscht, der besagt, daß China ausschließlich eine große landwirtschaftliche Zivilisation war, welche – sieht man ab von den wenigen englischen Webereien Shanghais des 19. und des 20. Jahrhunderts – weitgehend ohne „industrielle“ Erfahrung in die Moderne gerutscht sei. Das stimmt so nicht. Obwohl die Bronzeherstellung in Sumer und die Eisenherstellung in Hallstatt und in Syrien früher bekannt waren als in China, hat dieses Land ab dem 15. vorchristlichen Jahrhundert im Falle der Bronze und ab dem 6. vorchristlichen Jahrhundert im Falle des Eisens alle anderen Kulturen auf dem Gebiet der Metallurgie sehr schnell überholt. Ich werde später darauf zurückkommen, aber so viel darf ich jetzt schon verraten: In China sind zwischen dem 4. und dem 2. vorchristlichen Jahrhundert die ersten proto-industriellen, extrem arbeitsteiligen metallurgischen Großanlagen entstanden.
Ungefähr tausend Jahre später, in der Song-Dynastie (sie dauerte von 960 bis 1279 unserer Zeitrechnung), ging das Reich der Mitte wieder durch eine besonders innovative Periode seiner geistigen, proto-industriellen, wirtschaftlichen und kommerziellen Entwicklung. Auf der soliden Grundlage einer expandierenden Landwirtschaft und dank der kombinierten Wirkung des Buchdrucks (Verbreitung des Wissens), der Algebra und der Arithmetik (Anwendungen im Hoch- und Tiefbau, in der Buchhaltung usw.), der industriellen Verwendung der Steinkohle,((Der Gebrauch der Steinkohle im Haushalt war in China schon seit der Tang-Zeit bekannt. So erzählt der japanische buddhistische Mönch Ennin, der im Jahre 838 nach Tang-China reiste, in seinem Tagebuch: „Es gibt im ganzen Gebirge [östlich von Taiyuanfu] Kohlen, und die Leute kommen von nah und fern und holen sich Kohlen zum Brennen. Zum Bereiten von Mahlzeiten gibt Kohle viel Hitze.“ (s. Reischauer 1963, Seite 156).)) der Erfindung des Papiergeldes, der Monetarisierung des Fiskus und der Dienstleistungen, konnte sich die damalige chinesische Wirtschaft erstaunlich schnell entwickeln und in zahlreichen Bereichen von der Tributwirtschaftsweise in die moderne monetarisierte Wirtschaft wechseln. Man sieht also, daß sich China in der Song-Zeit auf einem Entwicklungspfad befand, der sowohl mit unserer Renaissance als auch mit den Anfängen der industriellen Revolution gewisse Ähnlichkeiten aufweist – und dies sowohl auf technischem als auch auf kommerziellem und kulturellem Gebiet. Wir werden darauf zurückkommen.
Tecnica sinica antiqua
Es war im Jahre 1974, als uns eine archäologische Jahrhundertentdeckung über das wahre wirtschaftliche und technische Entwicklungsniveau des antiken China die Augen geöffnet hat: In jenem Jahr entdeckte man in der Nähe von Xi‘an eine gewaltige unterirdische Terrakotta-Armee. Diese Armee bestand aus mehr als 7000 Ton-Soldaten von natürlicher Größe, mit einer großen Zahl von Offizieren, Unteroffizieren und Pferden, alle ebenfalls in natürlicher Größe. Sie wurde vor mehr als 2200 Jahren hergestellt mit dem Ziel, den Leichnam des Qin Shihuangdi (d. h. des „Ersten Erhabenen Kaisers von Qin“– so der Name, mit dem sich dieser Kaiser, der in den Jahren 221–206 v. Chr. regierte, im Text einer Marmorstele verewigen ließ) zu „schützen“. Diese Entdeckung war nicht nur eine außerordentliche archäologische Sensation. Sie lieferte gleichzeitig den Beweis dafür, daß China im Altertum eine von der Forschung bisher ungeahnte wirtschaftliche Entwicklungsstufe erreicht hatte. Konnte man die früheren, gewaltigen Bauten Chinas (beispielsweise die Shang-Nekropole von Anyang oder die starken Zhou-Mauern von Chengzhou) noch als Produkte einer „Megamaschine“ betrachten (so hat nämlich der Historiker Lewis Mumford die Organisationsform benannt, die mit Hilfe eines gewaltigen Arbeitskräfteeinsatzes zu enormen Konstruktionen, wie die ägyptischen Pyramiden, in der Bronzezeit geführt hat), so basierte dagegen die „Untergrundarmee“ des Qin Shihuangdi bereits auf einem neuen Modell proto-industrieller Organisation, und zwar auf einem extrem arbeitsteiligen System, das fähig war, eine große Zahl von hochspezialisierten Tätigkeiten einerseits in großem Maßstab und andererseits sehr effizient voranzutreiben und zu koordinieren: Denken wir nur an die Sägewerke, Rohmateriallager, Modellfabrikationswerkstätten, Gußformen-Herstellungsstätten, Tonmischwerke, Brennofenhallen, Montagehallen, Malerwerkstätten, usw., die zur Herstellung dieser „Schattenarmee“ notwendig waren und deren Arbeit koordiniert werden mußte.
Dabei wurden diese Tätigkeiten rationell mit einer eindrücklichen Anzahl von Hilfsbetrieben und Managementvorgängen in Schwung gehalten. Erwähnen muß man in diesem Zusammenhang die Bereitstellung der Werkzeuge, die Gewinnung und die Lieferung der Rohstoffe, das Organisieren eines riesigen Fahrzeugparks, die Logistik der Transportoperationen, die Rekrutierung des Personals, seine Verwaltung und Ernährung, die technische Ausbildung von Spezialisten usw. Vergessen wir bei dieser Gelegenheit nicht, daß damals andere großmaßstäbliche Projekte in Nordchina gleichzeitig vorangetrieben wurden: Die Reichsverwaltung ließ zwischen rund 220 und 210 v. Chr. den Bau der ersten großen Verteidigungsmauer im Norden, das Anlegen eines Netzes von Militär- und Handelsstraßen, das Ausheben von mehreren breiten Kanälen für Bewässerung und Schiffstransport, den Bau einer ausgedehnten Hauptstadt in der Nähe des heutigen Xi’An sowie, neben der Terrakotta-Armee, den Bau der gewaltigen Grabpyramide des Qin Shihuangdi ausführen, deren Ausgrabung der Traum der heutigen Archäologenwelt ist.
Parallel dazu ließ die Reichsverwaltung auch die Maße und Gewichte vereinheitlichen, die Wagen-Radstände und die Straßenbreiten standardisieren und die Verwaltung zentralisieren. Es wurde also damals ein neues Gesellschaftssystem aufgebaut, dessen wirtschaftliches Fundament die Bewässerung sowie die „modernen“ proto-industriellen, hocharbeitsteiligen Betriebe waren, die sich bereits in der vorangehenden Zeit der Streitenden Reiche für das serienmäßige Gießen von Eisenwerkzeugen und von Eisenwaffen bewährt hatten. Während der kurzen Qin-Dynastie fand also die antike chinesische Gesellschaft ihr spezifisches Gesicht, das seine Blüte während der nachfolgenden, dauerhaften Han-Dynastie (206 v. Chr. bis 220 n. Chr.) erreichen würde. Diese Han-Dynastie erbte also eine moderne Staatsform, die auf einer rationalen Verwaltungsstruktur basierte.
Die Grundlagen des Wachstums waren, wie gesagt, die Bewässerung, eine erstaunlich moderne Technik der Eisengießerei, eine ebenfalls „moderne“ und mächtige Textilindustrie (wie die zahlreichen Stoffbahnen aus dem Grab von Mawangdui, Provinz Hunan – rund 150 v. Chr. – beweisen) und ein sehr reger Binnenhandel (Han-Schiffe besaßen schon ein Axialruder, wie ein Han-Zeitmodell aus dem Guangzhou-Provinzmuseum beweist). Die ideologische Grundlage des Han-Reichs war der von einer Prise Konfuzianismus gemilderte Qin-Legalismus, in dessen Rahmen die Bevölkerung von einer nun ziemlich selbständigen Behörde verwaltet wurde. Während der Han-Dynastie, insbesondere während der zweiten Hälfte der Han-Herrschaft, erlaubte die Erfindung des Papiers die Verwendung eines günstigen und leicht herzustellenden Trägers für die Schrift: Dadurch wurden die Kosten der Verwaltung verbilligt, und die Information wurde leichter und schneller verbreitet. Dies umso mehr, als das damalige Postsystem, mit Poststationen alle 30 Li (15 Kilometer), den Austausch von Meldungen und von administrativen Berichten schnell und sicher gewährleistete.((Siehe Chien, 1934, Seite 26–27. Seite 46 präzisiert Chien, die Han-Zeit betreffend: „Im Hsi Han Hui Yau steht: Es gibt einen ,Di‘-Beamten, der die Nachrichten vom Kaiser zu den Untertanen und umgekehrt befördert, und zwar in Form einer Schrift.“)) Dank des Papiers wurde auch die höhere Bildung erleichtert. Seit dem Jahr 124 n. Chr. bestand in der Hauptstadt eine kaiserliche Hochschule, um Gelehrte und Beamte auf die Verwaltungsaufgaben vorzubereiten.((„Throughout two millennia, the conception of an institution of higher education within the framework of the national bureaucracy remained rooted in Chinese culture“, schrieb Joseph Needham in SCC, VI:6, Cambridge, 2000, Seite 98.)) Am Gegenpol des Imperium Romanum war Han-China damals die größte intellektuelle, technologische und wirtschaftliche Macht des Orients.
Erwähnen muß man noch, daß China in der Han-Zeit zwei Texte hervorbrachte, die in der westlichen Geschichte keine Gegenstücke haben: Das Kapitel 24 des Han Shu über die Wirtschaftsgeschichte Chinas von den Anfängen bis zum Jahr 25 n. Chr. Einerseits,((Übersetzt in Swann, 1974.)) sowie das Buch Yan tie lun von 81 v. Chr. über das Pro und Contra von Staatswirtschaft einerseits und Privatwirtschaft andererseits.((Übersetzt in Gale, 1967.)) Diese Texte wurden also vor rund 2000 Jahren geschrieben! China besaß damals bereits ein Wirtschaftsbewußtsein, das im Westen in dieser Form erst sehr viel später entstehen sollte.((Chinas Vorsprung auf Europa in Sachen Wirtschaftsbewußtsein ist noch größer für jeden, der die Hypothese des „langen Mittelalters“ des bekannten französischen Historikers Jacques Le Goff akzeptiert. Für Le Goff reicht in Europa das Mittelalter in ökonomischer Hinsicht bis zum 18. Jahrhundert, entsteht doch erst in jenem Jahrhundert in England die echte Industrie und das erste Buch der modernen Wirtschaftswissenschaft (Adam Smiths The Wealth of Nations, 1776). Ich persönlich habe Mühe, mich mit der Hypothese Le Goffs im ganzen anzufreunden. Es dürfte zum Beispiel schwierig sein, Colbert (1619-1683) ein entwickeltes Wirtschaftsbewußtsein abzusprechen.)) Und diese Texte waren keine Einzelerscheinungen: Das von E. Balasz übersetzte Wirtschaftstraktat (Shihuozhi) aus der Geschichte der Sui-Dynastie (Suishu, 644 n. Chr.) zum Beispiel, mit seinen Kapiteln über landwirtschaftliche Vorschriften und Verordnungen, Fronarbeit, Währung, Handel, Steuerwesen, öffentliche Dienste und öffentliche Arbeiten zeigt eindeutig, daß dieses Wirtschaftsbewußtsein im Reich der Mitte nicht verloren ging und bis zur Mongoleninvasion viel höher entwickelt war als in Europa. Ebenso eindrücklich ist übrigens die im Geographietraktat (Dilizhi) der Geschichte der Sui-Dynastie vorhandene Beschreibung der Volkszählung vom Jahr 609 n. Chr.: Es ist eine für diese Zeit erstaunlich genaue Statistik, die uns zeigt – addiert man die Bevölkerungszahlen aller Provinzen zusammen –, daß China damals 46 Millionen Einwohner hatte.((Übersetzt in Balasz, 1953.))
China wird „modern“: In der Tang- und vor allem in der Song-Dynastie
Wir haben eben gesehen, daß China in der Antike bereits Pionier gewesen war, erstens in der Schaffung von Strukturen und Methoden, die man schon als proto-industriell bezeichnen darf, zweitens in der Entwicklung eines entsprechenden wirtschaftlichen Bewußtseins sowie drittens in der Aufstellung von damals einzigartigen Ausbildungsmöglichkeiten für seine Beamtenschaft. Aber es blieb nicht bei diesem Vorsprung. Etwa vierhundert Jahre nach dem Ende der Han-Dynastie (es waren, wie nach dem Ende des römischen Imperiums im Westen, vier sehr unruhige Jahrhunderte), verstärkte und vervielfältigte die Tang-Dynastie (618–907 n. Chr.) die in der Antike gemachten Fortschritte. Dabei war die größte staatliche Leistung der Tang-Zeit wohl die Systematisierung der Schulungsmöglichkeiten und der Prüfungseinrichtungen für die Staatsbeamten.
Die hauptsächliche technische Innovation der Tang-Zeit war die Erfindung des xylographischen Buchdrucks im 8. Jahrhundert. Erstaunlicherweise wurde diese Technik zunächst verwendet, um religiöse Texte zu vervielfältigen; erst unter der Song-Dynastie wirkte sich der Buchdruck als Multiplikator des technischen Wissens und somit verstärkend auf die wirtschaftliche Entwicklung aus. Die Tang-Chinesen machten auch interessante Fortschritte in der Astronomie, gewaltige Fortschritte im Brückenbau (erste Flachbogen-Brücken der Welt), und wandten schon bekannte Techniken in immer größerem Maßstab an, beispielsweise auf dem Gebiet der schweren Eisengießerei. Sie führten zudem die Verwendung der Kohle ein und entwickelten den internationalen Handel gewaltig. Sehr richtig bemerkt E. O. Reischauer:
„Wir legen den Beginn des modernen Westens mit Recht in der Zeit der von den Völkern Europas im 15. und 16. Jahrhundert erlangten Beherrschung der Weltmeere an, aber von einem umfassenderen weltgeschichtlichen Standpunkt aus betrachtet, kann man die moderne Zeit berechtigterweise auch mit dem wachsenden Welthandel der Tang-Zeit beginnen lassen und in dem Eintritt der Europäer in diesen Welthandel einen bedeutenden, neuen Unterabschnitt innerhalb dieses modernen Zeitalters sehen.“((Siehe Reischauer, 1963, Seite 271.))
Vor allem aber unter den Song-Kaisern (960–1279) wurde China, wie bereits erwähnt, besonders innovativ, vielleicht noch innovativer als das Europa der Renaissance. Es ist sehr bedauerlich, daß die Mongoleninvasionen die volle Entwicklung dieser chinesischen Renaissance im 13. Jahrhundert brutal unterbrochen haben, weil sonst die Geschichte unseres Planeten wahrscheinlich einen anderen Verlauf genommen hätte, hätte China sein damaliges gewaltiges Wirtschaftswachstum ungehindert fortsetzen können.
Unter den Song wird man in China Zeuge einer äußerst eindrücklichen – und sehr modern wirkenden – wirtschaftlichen Entwicklung: Der Buchdruck wird nun, wie gesagt, zur Verbreitung des Wissens eingesetzt. So werden viele technische Enzyklopädien veröffentlicht. Insbesondere landwirtschaftliche Handbücher und der Bauernkalender, dessen Auflagen manchmal die Millionengrenze erreichen, dienen auch zur Verbreitung von Kenntnissen über neue Verfahren oder neue Dienstleistungen, die für die Landwirtschaft wichtig sind. In ihnen wird beispielsweise über die schnell wachsenden Reissorten aus Südostasien berichtet, die damals in China eingeführt wurden, oder über die neu entwickelten Geräte. In der Song-Zeit hat nach Francesca Bray (SCC, Bd. VI:2) eine wahre „grüne Revolution“ in der chinesischen Landwirtschaft stattgefunden, die der „grünen Revolution des 20. Jahrhunderts in nichts nachsteht.“ Die Landwirtschaft wird damals auch zusehends kommerzialisiert. Die ganze Wirtschaft profitiert ja von revolutionären Entwicklungen auf dem Gebiet der Zahlungsmittel: Ich erinnere daran, daß die Chinesen die schriftlichen Geldüberweisungen und sogar die Banknoten in der Song-Zeit erfunden haben, wobei natürlich die Druckkunst ebenfalls die Voraussetzung für das Banknotenwesen gewesen war. Mit besagter Entwicklung ging also eine beschleunigte Monetarisierung der ganzen Wirtschaft einher, wobei frühere Dienste (Tributabgaben, Frondienste) in der Song-Zeit immer mehr durch monetaristische Leistungen ersetzt wurden.
Die ebenfalls neue industrielle Verwendung der Steinkohle auf breiter Ebene hat damals auch der Metallurgie gewaltige Impulse gegeben. Der Engländer R. Hartwell hat ausrechnet, daß die Eisenproduktion in der Song-Zeit im 13. Jahrhundert höher war als die gesamte Eisenproduktion Europas bei der Geburt des Industriezeitalters am Anfang des 19. Jahrhundert (seine Angaben, die mir glaubwürdig scheinen, sind allerdings unter einigen Gelehrten umstritten). Der Kettenantrieb und der Pleuel-Kurbelantrieb wurden auch damals entwickelt und begünstigten, viel früher als bei uns, die Herstellung von neuartigen Maschinen für Landwirtschaft und Industrie. Ebenfalls in der Song-Zeit wies die Textilindustrie eine gewaltige Expansion auf: China besaß nämlich sehr breite, hochentwickelte Webstühle, denen eigentlich nur die Lochkartensteuerung fehlte, um dem perfekten Jacquard-Webstuhl gleichzukommen.
Im 12. und im 13. Jahrhundert wurden deshalb Seidenprodukte – sowie natürlich Porzellan – nach ganz Südostasien exportiert – mit Schiffen, die fünfmal größer waren als die größte Karavelle des Kolumbus. Im Gegensatz zu Kolumbus’ Schiffen waren die chinesischen Frachter zudem bereits mit wasserdichten Schotten ausgerüstet. Diese Schiffe bedienten in Südost- und Südasien unter anderem eine große Gemeinschaft von Überseechinesen: Die heutigen Überseegemeinschaften von Chinesen im Süden Asiens (the „Bamboo network“) sind also kein neues Phänomen. Auch in dieser Hinsicht stützt sich China auf eine jahrtausendealte Tradition und Erfahrung.
Unter den Song wurde auch für den Innenhandel Großartiges geleistet: Während der Song-Dynastie allein wurden so viele Brücken, Kanäle und Straßen gebaut, wie unter allen vorangehenden Dynastien zusammengenommen. Man könnte noch stundenlang von den erstaunlichen wissenschaftlichen, technischen und wirtschaftlichen Fortschritten Chinas in der Song-Zeit sprechen. Man kann mit wenigen Worten sagen, daß China 300 Jahre vor unserer Renaissance bereits einen modernen, wirtschaftlich mächtigen Staat aufbaute, dabei entscheidende soziale Veränderungen auf friedlichem Weg durchmachte (Entstehung einer Industriellen- und Großkaufmannsklasse, die in der zweiten Hälfte der Dynastie anfing, Ansprüche an die politische Macht anzumelden, Zunahme der städtischen Bevölkerung, die in einem halben Jahrhundert von 6 auf 28 Prozent der Gesamtbevölkerung steigt, zunehmende Trennung von Management und Kapitalbesitz, usw.), und das alles noch schneller, als wir es während unserer Renaissance taten.((Siehe Shiba, 1992, Seite 136 u. 194. Man beachte auch, daß unsere Renaissance ohne den Beitrag Chinas (Axialruder, Kompaß, Buchdruck, Bankwesen, usw.) zum Durchbruch viel mehr Zeit gebraucht hätte!))
Jetzt können wir verstehen, wieso China heute fähig ist, wieder einen solch imposanten Prozeß der Modernisierung, der wirtschaftlichen Expansion und der sozialen Veränderung voranzutreiben: Es ist nicht das erste Mal, daß das Volk eine solch gewaltige Transformation durchlebt, zumal es auch in höchstem Maße über die nötigen intellektuellen Voraussetzungen dazu verfügt: So konnte beispielsweise der gelehrte englische Missionar James Legge((James Legge (1814–1897) war einer der ganz tüchtigen Sinologen des 19. Jahrhunderts. Ihm gelang unter anderem die vollständige Übersetzung der konfuzianischen klassischen Texte: Legge, James: The Chinese Classics. „A work remarkable in its own times and still useful today“, wie Barrett 1989 schrieb. Die Gegenwart bestätigt die im Text zitierte Behauptung Legges übrigens in Bezug auf Wissenschaft, Technik und Wirtschaft ganz klar.)) im Jahre 1858 schreiben: „In keinem anderen Land der Welt ist die Bewunderung für Gelehrsamkeit und Wissen so entwickelt wie in China. In keinem anderen Königreich wird Lernen so hochgeschätzt.“
Das führt uns zur interessanten Frage des Einsatzes von Intelligenz in China.
Der Einsatz von Intelligenz
Obwohl es – besonders in Europa und besonders seit der Renaissance, siehe Machiavelli – unzählige Theorien der Macht und ihrer Ausübung gibt, gibt es leider bis heute noch keine ganzheitliche Theorie vom Einsatz von Intelligenz in den Hochkulturen,((Ich habe 1992 in einer Publikation der ETH Lausanne auf dieses Problem aufmerksam gemacht (Siehe Voiret: La mise en oeuvre d’intelligence: moteur de l’histoire et pierre angulaire de notre avenir; in: Bassand, M., Hg., Bern, 1992, Seite 227–246) und Beispiele des Einsatzes von Intelligenz in einigen historisch interessanten Kontexten gegeben. Darin habe ich auch Richtlinien sowie Prioritäten für eine (meiner Meinung nach sehr wünschenswerten) Forschung auf diesem Gebiet vorgeschlagen. Aber obwohl Professor A. Corboz von der ETH Zürich meinen Aufsatz an zahlreiche hochgestellte Politiker und Hochschulautoritäten geschickt hat, hat sich auf diesem Gebiet nichts getan. Leider wird die Forschung, die langfristige Vorteile verspricht, gegenüber der Forschung, die kurzfristige Ergebnisse verheißt, oft vernachlässigt. Ähnlicherweise haben die Ideen des Astrophysikers Fritz Zwicky (1898–1974) über polyfaktorielles und langfristiges Denken (was auch zum Einsatz von Intelligenz gehört) leider wenig Erfolg gehabt.)) obwohl der Einsatz von Intelligenz für den Fortschritt von Staaten und Staatengemeinschaften wahrscheinlich noch viel wichtiger ist als Macht.
Untersucht man nun die Geschichte des Einsatzes von Intelligenz in China, so muß man feststellen, daß in der chinesischen Hochkultur auf diesem Gebiet absolute Pionierarbeit geleistet wurde. Das haben alle großen Geister des 18. Jahrhunderts verstanden oder gespürt, haben doch Denker wie Bouvet (SJ), Leibniz, Voltaire etc. den Wert des chinesischen Bildungssystems und der Beamten-Prüfungen erkannt und in Europa bekannt gemacht: Bei uns wurden sie denn auch zum Gegenstand großer Bewunderung und zum Vorbild des modernen europäischen, englischen und US-amerikanischen „Civil Service“.
Zur Charakterisierung des chinesischen Systems des Einsatzes von Intelligenz – und des einzigen vergleichbaren Systems im Westen, des der katholischen Kirche – kann ich nun nichts Besseres tun, als den entsprechenden Abschnitt meines in der vorangehenden Anmerkung erwähnten Aufsatzes von 1992 auf die uns beschäftigende Problematik anzuwenden und teilweise zu zitieren.
Zwei erstaunliche Fälle
Die Geschichte lehrt uns, daß fast alle soziopolitischen Organisationssysteme, die von der Menschheit entwickelt wurden, eine bloß kurze Lebensdauer von nur einigen Jahrhunderten aufweisen. Lediglich zwei Systeme haben eine entschieden längere Lebensdauer erreicht: die Organisation des Chinesischen Reiches einerseits, und die Organisation der katholischen Kirche andererseits, die beide eine Dauer von mehr als zweitausend Jahren erreicht haben.((Das System „Westliches Römisches Reich“ (eines der länger währenden) hat bloß rund 1200 Jahre gedauert. In Wirklichkeit sind es aber zwei verschiedene Systeme: Das System Römische Republik hat wenig mehr als 700 Jahre überlebt, das System Römisches Kaiserreich, dessen Einsatz von Intelligenz weniger effektiv war, dauerte nur 500 Jahre. Später hat das westeuropäische System „Absolutismus“ (16.–18. Jh.) sogar weniger als 300 Jahre gedauert.)) Warum? Hier einige kurz gefaßte Überlegungen dazu.
Untersucht man die traditionellen Organisationsstrukturen und Reproduktionsmechanismen der katholischen Kirche einerseits und des chinesischen Imperiums andererseits nach Kriterien der Systemdynamik, so stellt man fest, daß diese beiden Systeme eine gemeinsame Charakteristik aufzuweisen hatten: Sie waren relativ offene Systeme in einer Zeit, in welcher praktisch alle anderen soziopolitischen Systeme der Menschheit weitgehend geschlossene Systeme waren.((Über Systemtheorie, siehe beispielsweise Bertalanffy, Ludwig von. General System Theory. New York, 1976.)) Was bedeutet das konkret?
Die Systemtheorie unterscheidet zwischen sog. offenen und geschlossenen Systemen. Eine menschliche Gesellschaft kann von einem systemdynamischen Standpunkt aus als komplexes System betrachtet werden. Offene Systeme sind informationsreicher und informationsdynamischer und weisen zudem eine grundsätzliche Interaktion auf: Ihre informationellen Metabolismen (= Austauschprozesse) beeinflussen die Systemstrukturen dynamisch, während die Strukturen ihrerseits die informationellen Metabolismen ebenfalls dynamisch beeinflussen (Flexibilitätsgesetz). Bei offenen Systemen basiert daher die Erhaltung des Ganzen auf der Änderungsfähigkeit (d. h. der Erneuerungsfähigkeit) der Teile. Meist funktionieren offene Systeme nach der Methode „Versuch und Korrektur“ („Trial and error“). Systeme dagegen, deren Teile (Elemente) unabänderlich bzw. erneuerungsunfähig sind, in welchen der Austausch von Informationen arm und träge ist und deren Strukturen und Metabolismen nicht interagieren, sind sog. geschlossene Systeme (oder in diesem Fall „konservative Systeme“), die sich kaum erneuern können.((Schließlich muß die Information, die Gegenstand des Austauschs (des „Metabolismus“) ist, wahr sein, sonst ist der Metabolismus selbst verfälscht und ergibt nicht die zu erwartenden Ergebnisse. Dies ist in Zeiten von Dekadenz der Fall, als die Lüge auf der Ebene der Regierung und der hohen Institutionen die Regel wird.))
Weil die Organisation „Kirche“ einerseits und die Organisation „Chinesisches Reich“ andererseits offene Systeme waren, war ihr System des Einsatzes von Intelligenz flexibler und effizienter: Das bedeutet unter anderem, daß alle Mitglieder dieser beiden Organisationen systembedingt ziemlich gute Möglichkeiten des Aufstiegs auf die Ebene der führenden Intelligenzschicht hatten. Das bedeutet auch, daß die Korrekturfähigkeit und die Anpassungsfähigkeit der Systemstrukturen an Krisenzustände besser waren als in allen anderen soziopolitischen Systemen des Planeten.
Die katholische Kirche war tatsächlich die einzige Organisation des Abendlandes, die allen ihren Mitgliedern die prinzipielle Möglichkeit gab, ziemlich unabhängig von der Klassenzugehörigkeit zu Bildung und somit zu den höchsten Chargen des Kirchenstaates – und manchmal, wie im Fall Kardinals Mazarin, des weltlichen Staates – zu gelangen, und zwar weitgehend auf der Grundlage von Begabung, Wissen und Tüchtigkeit. Obwohl klar ist, daß Kinder des Adels und der hohen Bourgeoisie einen leichteren Zugang zum Wissen hatten – also bessere Ausgangsbedingungen – als Kinder aus einfachen Bevölkerungsschichten, so kann man doch feststellen, daß manche der begabtesten Kinder aus ärmeren Verhältnissen immer die Möglichkeit gehabt haben, in und durch die Kirche zu Wissen und zu Ämtern zu gelangen. Man denke nur an Geribert von Aurillac, geboren 938 in der Auvergne, in einer Familie von armen Leibeigenen: Er wurde am 2. April 999 unter dem Namen Sylvester II. zum Papst gewählt, nachdem er als Mönch und Wissenschaftler Großes geleistet hatte. Man kann sich da auch eine andere große Figur der Kirche vergegenwärtigen: Nikolaus aus Kues an der Mosel (1401–1464), auch Cusanus genannt, der aus relativ einfachen Verhältnissen den Weg zum Kardinalsrang, zum Gründer der neuzeitlichen wissenschaftlichen Experimentalphysik und zu einem der wichtigsten Renaissance-Denkern (s. a. die Begriffe „coincidentia oppositiorum“ sowie „docta ignorantia“) fand.
Für China kann man im Buch von Johannes L. Kurz, 2003 zahlreiche Biographien von chinesischen Beamten lesen, die, aus einfachen Verhältnissen stammend, es auch zu den höchsten Chargen im chinesischen Kaiserreich gebracht haben.((Johannes L. Kurz, 2003: Das Kompilationsprojekt Song Taizons (reg. 976–997), Peter Lang, Bern.)) Dies war im weltlichen europäischen Staat im Mittelalter oder in der Zeit des Absolutismus praktisch unmöglich.
Ähnliche Bedingungen herrschten also seit zweitausend Jahren in China, nachdem der legalistische Staat dort den Zugang zu Verwaltungsfunktionen von der Zugehörigkeit zum Adel getrennt hatte und nachdem bereits in der Han-Zeit und vor allem ab der Tang-Zeit (608–907 n. Chr.) die – strengen – Prüfungen zum Mandarinat im Prinzip allen Schichten der Bevölkerung offenstanden. Auch in China gelangten natürlich Kinder aus privilegierten Schichten leichter zu höherer Bildung als Kinder aus benachteiligten Schichten. Aber dort (wie bei uns in der Kirche) gelang es begabten Kindern aus einfachen Verhältnissen immer wieder, die höchsten Sprossen der staatlichen Verwaltung zu erklimmen und dem System innovative Impulse zu geben. Wie die katholische Kirche im Westen, so besaß der chinesische Staat im Osten ein hervorragendes Modell von Einsatz von Intelligenz, und man weiß, daß dieses erfolgreiche, offene Karrieresystem in beiden Fällen auf dem jeweils besten Schulsystem der Zeit beruhte.
Die Zäsur der Mongoleninvasionen
Aber im 13. Jahrhundert haben die Mongoleninvasionen den faszinierendsten Teil der historischen Entwicklung Chinas brutal unterbrochen: Während der extrem schwierigen und extrem gewaltsamen Eroberung Chinas durch die Mongolen, die 1214 unter Dschingis Khan begann und erst 1279 unter Qublai Khan abgeschlossen wurde, verlor China fast die Hälfte seiner Bevölkerung. Die Bevölkerung von rund 110 Millionen Einwohnern (letzte Song-Volkszählung) fiel auf nur 60 Millionen Menschen (erste „mongolische“ Volkszählung) zurück. Unter den Mongolen und während des nachfolgenden Befreiungskriegs verbesserte sich die Lage kaum: „Es ist Tatsache, daß das Land bei seiner Befreiung von den nomadischen Eroberern (1368) mindestens 40 Prozent seiner Bevölkerung verloren hatte“ (W. Franke). China hat also damals nicht nur enorme materielle Werte, sondern ungefähr die Hälfte seiner Bauern und Handwerker, Gelehrten, Verwalter, Wissenschaftler, Ärzte, Kaufleute und „Industriellen“ verloren. Traumatisiert durch einen langen Krieg und eine noch längere Besetzung mit Apartheid und extremer Ausbeutung (von 1214 bis 1368!) hat China praktisch bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts auf vielen Gebieten stagniert – selbst unter der chinesischen Folgedynastie der Ming (1368–1644). Trauma und Stagnation wurden noch von der 300 Jahre währenden Besetzung und Ausbeutung durch die Mandschu ab 1644 verstärkt.
Die Untersuchung des prä-mongolischen Song-Reiches (960–1279) zeigt ganz klar, daß die Songgesellschaft eine für damalige Verhältnisse sehr offene und wirtschaftlich stark wachsende Gesellschaft gewesen war. Die unflexiblen Regierungs- und Verwaltungsstrukturen, welche die Mongolen im 13. und 14. Jahrhundert bei abnehmendem Einsatz von Intelligenz eingeführt hatten, wurden leider später vom Ming-Reich, wahrscheinlich aus intellektueller Trägheit, teilweise übernommen und haben aus der chinesischen Gesellschaft eine weniger flexible, weniger anpassungsfähige, also weniger offene Gesellschaft gemacht, die lange Zeit nicht mehr fähig war, ihre Stagnation zu überwinden.((Hill Gates, 1996, zeigt in ihrem Buch China’s motor auf hervorragende Art und Weise, wie die chinesische Wirtschaft unter den Ming- und Qing-Dynastien innerhalb eines Systems stagnierte, das sich vom Verbund „Tributbasierte Produktionsweise“ und „Kleinkapitalismusbasierte Produktionsweise“ nicht mehr befreien konnte. Den Grund dieser Stagnation gibt sie aber nicht an. Er besteht aber offensichtlich in der von der Mongoleninvasion und Mongolen-Willkürherrschaft (1279–1368) hervorgerufenen Zäsur in der sozioökonomischen Entwicklung Chinas: Nur unter Berücksichtigung dieser Zäsur kann man beispielsweise den gewaltigen monetarischen Rückfall verstehen, der von der zunehmenden Verwendung vom Gutschriftenverkehr und vom modernen, papiergeldbasierten Handel im vormongolischen Song-China zur quasi ausschließlichen Verwendung von Kupfermünzen und sog. Silberschiffchen nach der Mongolenzeit unter Ming und Qing zurückführte. Gates‘ Buch ist übrigens die bei weitem beste Studie des Übergangs zur vormodernen chinesischen Wirtschaft, die in den letzten Jahrzehnten geschrieben wurde. Daß ihr Buch so wenig bekannt ist, zeigt, welchen Grad von Dogmatismus die heute im Westen herrschende neoliberale Wirtschaftslehre zum Teil erreicht hat. Ohne Gates‘ Buch zu kennen, kann man meines Erachtens die meisten Aspekte der wirtschaftlichen Entwicklung Chinas und Taiwans seit 1949 nicht verstehen.)) Trotzdem hat diese Gesellschaft – vor allem dank ihrem nach den Mongolen immer noch bestehenden, vergleichsweise relativ effizienten Einsatz von Intelligenz (Verwaltung durch ein gebildetes Mandarinat) – bis 1912 Bestand gehabt und blieb noch bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts für die westliche Gesellschaft Vorbild. Aber eines steht fest: Erst die Katharsis der chinesischen Revolution (1911–1976) mit ihrem „Gang durch die Hölle der Geschichte“ und mit dem endgültigen Sieg über alle fremden Einflüsse hat das lange Trauma und die lange Stagnation Chinas besiegt und die Kräfte wieder freigelegt, die jetzt das Milliardenvolk so ungestüm nach vorne treiben.
Heute holt China auch auf dem Gebiet der Bildung so gewaltig auf, daß seit 2003 immer weniger chinesische Studenten an ausländischen Universitäten studieren: „Im Vergleich zu 2003 studieren 45 Prozent weniger Chinesen an amerikanischen Universitäten. Und nicht, weil sie kein Visum bekommen, sondern weil sie keines wollen.“((Siehe Sieren, 2005, Seite 30 (Frank Sieren war Chinakorrespondent der Zeitschrift Wirtschaftswoche und lebte viele Jahre in China).)) Zudem bildet China bereits viel mehr Ingenieure aus als die USA und Europa. Eindrücklich ist auch, wie seit den achtziger Jahren die chinesische Regierung nach dem System von „trial and error“ die Weiterentwicklung des Landes hochintelligent steuert: Wirtschaftliche Reformen werden zum Beispiel in einigen wenigen Provinzen oder in einigen wenigen Sonderwirtschaftszonen ausprobiert, bevor sie im ganzen Land oder in allen Sonderwirtschaftszonen eingeführt (oder nicht eingeführt, oder in modifizierter Form eingeführt) werden. Auch dies eine alte Song-zeitliche Tradition, die nur in offenen Systemen stattfinden kann, und die heute wieder ihre Effizienz in Form von eindrücklichen Wirtschaftswachstumsraten und geopolitischen Erfolgen beweist. Zudem ist das Reich der Mitte in der Wissenschaft höchst erfolgreich, wie es die Tatsachen beweisen, daß China seinen Anteil an der Entzifferung des menschlichen Genoms mit einem Jahr Vorsprung zu den anderen an dieser Forschung teilnehmenden Wissenschaftsnationen abgeschlossen hat. Seither hat China unabhängig von der übrigen Welt die Sequenzierung und Bestimmung des Genoms der Reispflanze und des Genoms der Seidenraupe erfolgreich durchgeführt.((Siehe Vandermeersch, Léon, 2005, Seite 36.)) Im Herbst 2006 hat die chinesische Regierung sogar mitgeteilt, daß sie als erste Nation der Welt eine „grüne“ Bruttoinlandsprodukt-Rechnung und -Statistik versuchsweise in elf Provinzen ausprobiert und daß sie sich die Bildung einer ökologischen nachindustriellen Gesellschaft als strategisches Ziel gegeben hat.
In einem „Bref essai sur les cycles de civilisation“ (Kurzes Essay über zivilisatorische Zyklen) genannten Anhang zu seinem Buch La révolution industrielle du Moyen Âge (Die industrielle Revolution des Mittelalters) von 1975 schrieb der Wissenschaftshistoriker Jean Gimpel auf der Grundlage seiner historischen Analyse solcher Zyklen folgenden Satz: „Falls sich China am Anfang eines neuen tausendjährigen [zivilisatorischen] Zyklus befindet, bedeutet das auch, daß unsere westliche Zivilisation sich bald am Ende des eigenen tausendjährigen Zyklus befinden wird.“
Wir erleben gegenwärtig die Verwirklichung dieses prophetischen Satzes aus dem Jahr 1975.
Aufgrund der Vorgänge in der Vergangenheit darf man also auch auf die Zukunft Chinas gespannt sein.((Und nicht nur Chinas: Wir dürfen auf die Zukunft ganz Asiens gespannt sein: Man denke nur an die ingenieurmäßige Meisterschaft der Wasserhydraulik, welche Kambodscha zwischen den Königen Jayavarman II. und Jayavarman VII. erreicht hat.))