Klassische Musik und ihre universelle Botschaft reflektieren das cusanische Prinzip des „Zusammenfalls der Gegensätze“ und können helfen, Konflikte zu überwinden. Der Pianist und Dirigent Daniel Barenboim ist dafür ein Beispiel.
Zwar klagen viele über Probleme der jungen Generation, die sich in Konzentrationsmangel, fehlenden Visionen, Bindungsängsten oder Rauschmittelkonsum äußern mögen. Aber diese Klagen bleiben oft an der Oberfläche, ohne die darunterliegenden Werteveränderungen anzusprechen, die uns seit langem auf die abschüssige Bahn brachten. Hier könnte man eine Abkehr von Rationalität und eine Betonung für Gefühlsempfindung nennen, oder die Leugnung von Ursachen, die man lieber durch Computerhochrechnungen ersetzt. Sogar eine Suche nach wahrer Erkenntnis wird als überflüssig vernachlässigt, obwohl dies mit Sokrates und Platon ein Grundstein der westlichen Kultur war.
Um so überraschender heben sich dagegen die Bemühungen des Pianisten und Dirigenten Daniel Barenboim ab, sich für Wahrhaftigkeit sowohl in klassischer Kunst als auch der Nahostkrise einzusetzen, was er auch seinem internationalen Orchester junger Musiker zu vermitteln versucht.
Obwohl sich die Hoffnungen auf einen Nahost-Frieden 1995 mit der Ermordung des israelischen Premierministers Itzak Rabin durch einen Israeli zerschlugen, gründeten Daniel Barenboim und Prof. Edward Said, ein in Jerusalem geborener palästinensischer Literaturprofessor, 1999 ein gemischtes israelisch-arabisches Jugendorchester, das „Orchester des west-östlichen Divan“.
Beide Gründer teilten die Überzeugung, daß es keine militärische Lösung des Nahost-Konfliktes geben könne, sondern ein tieferes universelleres Verständnis vom Menschen geschaffen werden müsse. Die Unwissenheit sollte überwunden werden und klassische Musik sei der Weg zu diesem Ziel.
War aber die Absicht, vor allem klassische Musik aufzuführen und durch sie Verständnis und Respekt zu fördern, nicht ungewöhnlich? Was sollte klassische westeuropäische Musik bewirken, die nicht aus der Region selbst stammte, werden viele gefragt haben, für die die Bedürfnisse der Volksgruppen im Vordergrund standen? Warum begab sich ein berühmter israelischer Pianist und Dirigent überhaupt aus seiner künstlerischen Welt in das Minenfeld des Nahostkonfliktes, woher hatte er den Mut? Die Feindschaft der Extremisten aus beiden Lagern, die ihm entgegenschlug, hätte gestandene Politiker umgeworfen.
Doch Daniel Barenboim spricht deutlich und offen über seine Überzeugung, daß die humanistische klassische Musik eine universelle Botschaft vermittelt, die auch große kulturelle und politische Gräben überwinden kann, wie es vor ihm auch die größten Komponisten sahen.
Ungeachtet aller Hindernisse folgen je zur Hälfte junge israelische und arabische Musiker jährlich der Einladung Barenboims, um sich in Weiterbildung, Proben und weltweiten Aufführungen für diese Idee zu engagieren.
„Orchester des west-östlichen Divan“
Der Name stammt von Johann Wolfgang von Goethes Gedichtsammlung West-östlicher Divan, zu der Goethe vom persischen Dichter Hafis (1315–1390) angeregt wurde. Neben Auftritten in Spanien trat das Orchester international auf, z. B. in Palästina, Marokko, Katar, Abu Dabi und in Berlin. Der Wunsch Barenboims, in allen den Ländern zu gastieren, aus denen die Musiker des Orchesters stammen, konnte bisher nicht verwirklicht werden.
In dem Dokumentarfilm Knowledge is the Beginning (Erkenntnis ist der Anfang) über das Orchester schildern junge Musiker die tiefen Wunden, die sie durch die andauernden Konflikte seit ihrer Kindheit erlitten.
Eine junge Musikerin berichtet: „Wir sind alle voneinander abgeschottet. Keiner weiß etwas vom anderen. Hier lernen wir, die Mauern in unserem Kopf einzureißen.“ Ein junger Jordanier fügt hinzu, er habe als Kind Israelis nur als Militärs und Mörder gekannt und nicht als etwas Menschliches: „Israelis mit den gleichen Interessen zu treffen, änderte meine Sicht vom Menschen.“ Eine Syrerin sagt: „Daniel Barenboim lehrt uns über die Liebe zu unserem Land auch die Menschheit zu lieben.“
Die Wochen der Weiterbildung, Proben und Aufführungen bieten in der Freizeit viele Möglichkeiten für Diskussionen, die frei und ungezwungen sind.
Aber Daniel Barenboim beschränkte seinen Versuch, den Haß abzubauen und zu einer höheren Erkenntnis von Lösungen vorzudringen, nicht auf seine Musiker, sondern dehnte ihn auf die staatliche Ebene aus, was gewiß manchen ärgerte. Schon früh begann er als jüdischer Musiker, ein Orchester in Ramallah, Palästina, aufzubauen, in dem ein Teil der palästinensischen Regierung regiert. 2005 sollte dann das große Orchester dort auftreten.
Die innenpolitischen Wellen in Israel schlugen so hoch, daß er 2004 eine Einladung erhielt, vor dem israelischen Parlament, der Knesset, zu sprechen. Er betonte die kulturelle Bedeutung seiner Arbeit und seine Ansicht, alle Menschen hätten das Recht, sich mit klassischer Musik zu beschäftigen und sie auszuüben. Dann zitierte er die israelische Unabhängigkeitserklärung, die allen Bürgern ohne Unterschied soziale und politische Gleichberechtigung verbürgt. Die Regierung war empört, und es kam zu einem Eklat. Dennoch verhinderte sie nicht den Auftritt des „Orchesters des west-östlichen Divan“ in Ramallah im nächsten Jahr, der ein großer Erfolg wurde.
Zusammenfall der Gegensätze
Woher kommt aber die Kraft zu versuchen, Mauern einzureißen, die über Jahrzehnte mit Waffen und großen Opfern errichtet wurden? Kann jemand eine Wahrheit kennen, verfeindete Lager zu überzeugen, ihr Gegnerschaft aufzugeben? Die meisten Anhänger unseres Zeitgeistes verneinen dies. Aber Barenboims Engagement hat wichtige Vorläufer, die trotz scheinbar unüberbrückbaren Gräben Versöhnung zwischen Religionen und Volksgruppen schufen.
Im 15. Jahrhundert entwickelte der Wegbereiter des Konzils von Florenz (1438–1445), Kardinal Nikolaus von Kues, seine Methode des „Zusammenfalls der Gegensätze“, die er sowohl theologisch-wissenschaftlich ausarbeitete als auch in der heiklen Wiedervereinigung der West- und Ostkirchen erfolgreich anwandte. Sowohl der „Westfälische Frieden“ 1648, der den 30jährigen Krieg beendete, als auch die deutsch-französische Aussöhnung durch Bundeskanzler Adenauer und Präsident De Gaulle können neben anderen Beispielen in dieser Tradition gesehen werden.
Immer wieder zeigte sich nämlich, daß die heftig ausgetragenen Konflikte nicht die einzige Wirklichkeit waren. Was die Gefühle und das Augenfällige bieten, ist nur ein Schimmer einer mächtigeren Realität, die aber nur der Erkenntnis des Geistes zugänglich ist, denn sie ist nur denkbar.
In dieser Tradition arbeitet heute auch Helga Zepp-LaRouche, Gründerin und Vorsitzende des Schiller-Institutes, die die Herausforderung der gegenwärtigen Pandemie mit der Gründung eines „Komitees des Zusammenfalls der Gegensätze“ beantwortete. Dies soll den Weg zu einem weltweiten Gesundheitssystem ebnen, um den Mutationen der Viren und gefährlichen neuen Viren den Nährboden zu entziehen und so das Potential vieler Millionen Menschen zu retten. Doch selbst die offensichtliche Aufgabe eines überfälligen Weltgesundheitssystems trifft wie auch in den oben genannten Beispielen auf großen Widerstand von denjenigen, die den Vorteil der Wenigen über den Fortschritt der gesamten Menschheit stellen.
Kreativität kennt keine Grenzen
Die klassische Kunst sei seine Lehrerin gewesen, Konflikte durch neue und bessere Lösungen zu überwinden, schreibt Daniel Barenboim. Die Voraussetzung seien Denken und Erkenntnis, Fähigkeiten, die heutzutage nicht hoch im Kurs stehen.
„Denken ist das Wertvollste, was der Mensch besitzt. Aber wie wenige benutzen es“, betont er in einem Interview. „Das größte Problem ist nicht der Terrorismus oder die Flüchtlinge, sondern der Mangel an Kultur und Denken. Wenn wir uns kulturell ausgebildet hätten, wüßten wir damit umzugehen.“((Interview mit dem Bayerischen Rundfunk, 2017.))
Jenseits aller Konflikte wurde die universelle Fähigkeit des Menschen, schöpferisch zu sein, der Angelpunkt seines Wirkens. Auch der klassische Komponist leitet den Hörer durch unvereinbar scheinende Widersprüche, Themen, Geschwindigkeiten oder Gefühle, um am Ende zu einer tieferliegenden Gemeinsamkeit zu finden. Deswegen lehnt Barenboim die Mode ab, sich andauernd mit Musik berieseln zu lassen, sei es in der Freizeit, bei der Arbeit oder auch beim Lernen. Denn man versinkt immer mehr in die Gefühlswelt der Musik, was einer Erkenntnis widerspricht. Diese Hintergrundmusik nennt er ein „entmenschlichtes Gegenstück zur Musik.“
„Die eigentliche Gefahr der Hintergrundmusik jeglicher Art besteht darin, daß wir das, was wir hören, nur bruchstückweise wahrnehmen.“ Ähnlich sieht er den Internet- und Fernsehkonsum, „da er uns dazu verführt, Erkenntnis als überflüssig zu betrachten, und wir es mühsam finden, sie zu erlangen. Natürlich spreche ich von Erkenntnis im Sinne Spinozas, vom Verstehen der Essenz der Dinge und nicht von Erkennen aus purer Beobachtung oder empirischer Erfahrung.“
Hat Daniel Barenboim mit diesem schlichten aber wichtigen Satz nicht einen Standpunkt bezogen, der ihn aus dem heutigen Kultur- und Politikbetrieb heraushebt? Das Ringen um die „Essenz der Dinge“ leitet ihn bei seinem Versöhnungsversuch im Nahen Osten wie auch in seiner musikalischen Arbeit. Viele werden seinen Weg als unmöglich abtun, und tatsächlich formuliert er hohe Anforderungen, ihn zu gehen. Aber seit Sokrates haben ihn viele eingeschlagen und die westliche Kultur aus Rückständigkeit und Barbarei hinausgeführt.
Eine Voraussetzung sei ein „Reinigungsprozeß“ der Musiker selbst, „die Angst vor dem Unbekannten zu überwinden und alles zu vermeiden, was überflüssig, selbstbeweihräuchernd oder manipulativ ist… Große Künstler müssen sich mit der Gabe wappnen, die eigenen Schwachpunkte herauszufinden und sich zu verbessern… Es ist einfach und mag Vergnügen bereiten, spontan zu sein, ohne tiefere Erkenntnis der Partitur und ohne Wissen um die eigenen Vorliebe, doch das Ergebnis hat kaum etwas mit authentischem Musizieren zu tun.“
Ein solcher „Reinigungsprozeß“ verlangt viel Mut, die Wahrheit über sich zu erfahren oder Entdeckungen zu machen, die den Lehrmeinungen widersprechen und den Entdecker in Gegensatz zum allgemeinen Trend und den Kunstkritikern bringt. Nur so könne sich aber der Interpret in den Geist des Komponisten hineinversetzen und bei jedem Durchgang fragen, warum dieser jene Lösung fand und keine andere.
Geschmack, Tempo, Akrobatik und Eitelkeit müßten dem Versuch weichen, die Kreativität des Komponisten dem Publikum wahrhaft zu vermitteln.
Klassische Komposition und Wissenschaft
Vielen Freunden klassischer Musik scheinen die Teile eines Stückes oder deren verschiedene Motive willkürlich und zufällig zu sein. Manchmal scheint ihnen der Ablauf einer Komposition wie ein langer Güterzug, dessen verschiedene Waggons an einem vorbeifahren und keiner weiß, warum er irgendwann stehen bleibt. Für die großen Meister haben aber alle Elemente einer Komposition eine notwendige Ursache. Diese werden heute ja oft geleugnet und auch in der Wissenschaft wie in Ökonomie oder Astronomie durch Zufall und Computerhochrechnungen ersetzt.
Albert Einstein verglich z. B. unser Verständnis von Ursachen mit dem von Kindern: „Unsere ungefähre Anwendung des Kausalitätsprinzips ist sehr oberflächlich. Wir sind wie ein junger Anfänger am Klavier, der sich damit begnügt, eine Note mit der vorherigen oder der nächsten zu verknüpfen. Für die Interpretation einer Bachschen Fuge reicht das aber nicht aus.“((In: Max Planck, Wohin geht die Wissenschaft. Epilog.))
Dieser Verfall unserer Kultur vom Niveau eines Johann Sebastian Bach, Beethoven oder Einstein verhindert zu verstehen, eine unübersehbare Zahl von Einzelheiten und Veränderungen einer klassischen Komposition könnten aus einem Guß sein.
Desto ungewöhnlicher scheint es, daß Daniel Barenboim die große Bedeutung der Einheit von Kompositionen hervorhebt, deren Erkenntnis und Wiedergabe das höchste Ziel des Musikers sei:
„Von der Musik habe ich gelernt, wie wichtig es ist, verschiedene Ideen und Bereiche des Denkens zusammenzubringen. Ein Musikstück ist ein organisches Ganzes, in dem sich jeder Aspekt auf den anderen bezieht. … Das eigentliche Wesen der Musik ist der Kontrapunkt. Ein Thema spricht mit seinem Gegenstück und wird gleichzeitig kommentiert. Wenn sich ein Element vom anderen löst, verkümmert automatisch die Idee des Ganzen und man kann ein Stück nicht mehr als Musik im eigentlichen Sinn betrachten.“
Besonders anschaulich wird diese Idee, wenn er von dem großen Dirigenten Wilhelm Furtwängler berichtet, beim Spielen des ersten Akkordes müsse man immer den letzten schon hören. Das Ziel sei es, langfristig eine Verbindung zwischen Anfang und Ende herzustellen. Ein sensibler Hörer sei in der Lage, ein Stück rückwärts wieder zu hören, wenn es geendet hätte.((Zitate, wenn nicht anders angegeben, aus: Daniel Barenboim, Musik ist alles, und alles ist Musik. Piper, 2015.))
Norbert Brainin, der verstorbene Primarius des Amadeus-Quartetts, entdeckte erneut eine revolutionäre Kompositionsmethode, die diesen Zusammenhang erklärt. Er hatte sich Zeit seines Lebens in die Streichquartette der wichtigsten Komponisten vertieft und dabei das Prinzip der „Motivführung“ wiedererkannt: die Idee, das „Motiv“ eines Themas führt mit nur sehr wenigen Intervallen durch alle Sätze einer Sonate oder eines Quartetts und schafft dadurch eine Einheit.
Joseph Haydn habe erstmals von Motivführung gesprochen, so Brainin, und sie wurde u. a. von Wolfgang A. Mozart, Ludwig van Beethoven, Franz Schubert und Johannes Brahms aufgegriffen. Norbert Brainin betonte die wissenschaftliche Qualität dieser Kompositionsmethode, weil sie von jedem überall überprüft und bestätigt werden kann.((Video mit Norbert Brainin und Demonstration der Motivführung auf YouTube (Min. 9–14): https://youtu.be/pyRwmWRMin2NQI. S. a. Renée Sigerson, „Das Prinzip der Motivführung“. In: Ibykus 1/2021, S. 42 ff.))
Lyndon LaRouche unterstützte seinen Freund Brainin in diesem Urteil und unterstrich die Einheitlichkeit als besondere Qualität klassischer Komposition, die sie über andere musikalische Stile grundsätzlich erhebe. Eine große Freude gehe von dem Erlebnis aus, die Entfaltung der Einheit einer Komposition mitzuerleben. Er erkannte darin die „Metapher im wissenschaftlichen Sinn“, die er auch in Dichtung und naturwissenschaftlichen Entdeckungen wiederfand.((Lyndon H. LaRouche, „Das Geheimnis des Ludwig van Beethoven“. In: Ibykus 1/2021.))
Im Alltag kennen wir alle Metaphern in Witzen, Aphorismen oder Gedichten: Der Geist schafft aus sich widersprechenden Elementen eine neue Idee, eine neue Einheit, die nicht im wörtlichen Text bzw. den hörbaren Tönen vorkommt. Selten denken wir aber über diese Fähigkeit nach, schätzen kaum ihren kreativen Wert oder kommen nicht auf den Gedanken, sie gar willentlich zu beherrschen.
Weiter eröffnen Metaphern auch einen einzigartigen Weg, in das schöpferische Ringen großer Entdecker oder Künstler verschiedener Epochen einzudringen und zu lernen, wie sie die Widersprüche überwanden, die vor ihren Durchbrüchen unlösbar schienen.
Wer die Krise der jungen Generation überwinden will, kann helfen, die Geheimnisse der klassischen Musik und Dichtung zu vermitteln und gerade Jugendliche durch die Freude an ihrer Kreativität für ein erfülltes Leben zu begeistern.