Helga Zepp-LaRouche eröffnete mit ihrer Rede bei der Jahreskonferenz des Schiller-Instituts am 27. Mai in Bad Schwalbach die Debatte über ein hochbrisantes Thema.
In vielen seiner Aufsätze und Reden hat Lyndon LaRouche die Forderung aufgestellt, daß wir die sich derzeit rasch zuspitzende zivilisatorische Katastrophe nur abwenden könnten, wenn der mehrheitliche Teil der Bevölkerung in ihrem Denken zu klassischen Prinzipien zurückkehre. Wie soll das möglich sein, wo doch die „öffentliche Meinung“ sich so vollständig von den Idealen der Klassik entfernt und sich statt dessen fast ebenso umfassend einer vox populi angeglichen hat, die der des alten Römischen Reiches erschreckend ähnlich ist. Und ist dieses Römische Reich nicht gerade deswegen untergegangen und in ein dunkles Zeitalter kollabiert, weil die Raubtiermentalität der römischen Elite wie der Volksmassen letztendlich dazu führte, daß das Imperium seine moralische Überlebensfähigkeit verlor?
Darin liegt genau das Problem, vor dem wir heute stehen. Für die Verdummung und Verrohung der Massen setzte Rom auf „Brot und Spiele“; heute läßt sich die Bevölkerung durch die Unterhaltungsindustrie gehirnwaschen. Dafür gibt es keinen besseren Beweis als das Affentheater, das in mehreren europäischen Staaten um das „Big Brother“-Experiment gemacht wurde. Die Tatsache, daß das Publikum seine eigene Verhohnepipelung durch das Ausleben von George Orwells „1984“ in dieser Form schluckt, fügt dem Schaden noch die Schmach hinzu. Über den Hollywood-Schinken „Gladiator“ schrieb die Londoner Times unverhohlen, daß zu allen Zeiten ein gewisses Maß an Gewalt in der öffentlichen Kultur notwendig sei, um die Bevölkerung unter Kontrolle zu halten.
Wenn man die unglaubliche Banalität, Perversion und Brutalität der Hollywoodfilme im allgemeinen und der aggressiven Videospiele im besonderen in Betracht zieht, dann wird offensichtlich, daß eine Bevölkerung, die längst alle inneren Wertmaßstäbe verloren hat und sich nur noch in der Phantasiewelt von „Wellness“ und Spaßgesellschaft bewegt, in der Tat eine leichte Beute für die hemmungslose Unterhaltungsindustrie darstellt. Und aus der Beute werden zugleich die Raubtiere – genau wie im alten Rom die Besucher der Amphitheater!
Unser finsteres Zeitalter
Tatsächlich befinden wir uns bereits in einem finsteren Zeitalter. Wir erleben nicht nur eine globale Finanzkrise, sondern eine ganze Geschichtsepoche ist an ihr Ende gekommen, und nur ein plötzlicher Schock, ein neuer Pearl-Harbor-Effekt und ein beherztes koordiniertes Handeln auf internationaler Ebene für die Verwirklichung einer neuen gerechten Weltwirtschaftsordnung kann globales Chaos und einen neuen Faschismus verhindern.
Die Gefahr, daß sich aus einem unkontrollierten Kollaps des Finanzsystems mit all seinen wirtschaftlichen und sozialen Folgen neue faschistische Diktaturen entwickeln – und zwar in schlimmerer Form als in den 30er Jahren –, sollte uns in höchstem Maße beunruhigen. Solche neuen Faschismen können viele Formen annehmen, von „Rebellenführern“, die für die „Unabhängigkeit“ ihres ethnischen Gebietes kämpfen, über „Pinochet-Diktatoren“, die neoliberale Wirtschaftspolitik durchsetzen, bis zu Polizeistaaten, die jeden Aspekt des Lebens ihrer Bürger überwachen, die privat geführte Gefängnisse zur Ausbeutung billiger Arbeitskräfte bauen, die auf vielfältige Weise ihrer Meinung nach „lebensunwertes“ Leben eliminieren, sei es durch Massenvollzug der Todesstrafe, sogenannte Patiententestamente, Verweigerung von Gesundheitsmaßnahmen oder Obdachlosigkeit.
Dieser neue Faschismus hat viele Bestandteile des alten Faschismus, die sehr einfach wiederzuerkennen sind, aber es gibt auch neue Phänomene dabei, die noch nicht auf adäquate Weise auf den Begriff gebracht worden sind. Es ist deshalb notwendig, eine Art klinische Untersuchung vorzunehmen, um herauszufinden, was diese subjektive Disposition für den neuen Faschismus ausmacht und was im Denken geändert werden muß, wenn der Sieg eines solchen Faschismus verhindert werden soll. Dabei werde ich aufzeigen, daß die vox populi von heute dem klinischen Wahnsinn erstaunlich nahe kommt.
Der Bereich, in dem es am einfachsten sein sollte, die Identität zwischen altem und neuem Faschismus zu erkennen, ist das Gesundheitswesen. In den USA entscheiden bereits medizinfremde Manager und Buchhalter der sogenannten HMOs (Health Maintenance Organizations), die ausschließlich den Zielen des „Shareholder value“ und der hirnlosen Gier von Spekulanten verpflichtet sind, darüber, wer ein „nutzloser Esser“ und wessen Leben „lebensunwert“ ist.
In die gleiche Richtung marschiert leider auch Andrea Fischer, die sicherlich inkompetenteste Bundesgesundheitsministerin aller Zeiten, und uns drohen die gleichen Zustände wie in Holland mit seinen 50.000 unfreiwilligen Euthanasie-Fällen pro Jahr. Inzwischen ist auch jeder Zweifel ausgeräumt, daß wir mehr als recht hatten, als wir dem IWF des Genozids beschuldigten, weil die Entwicklungsländer gezwungen wurden, ihre Ausgaben für Gesundheit und andere soziale Bereiche zu kürzen.
Im Januar diesen Jahres wurde ein Bericht der CIA veröffentlicht, worin die AIDS-Pandemie als nationale Sicherheitsbedrohung für die USA dargestellt wird. Nichts anderes hat Lyndon LaRouche bereits 1985 betont (eigentlich schon 1973 in allgemeiner Form, was alte und neue Pandemien betraf, ehe AIDS als solches entdeckt wurde). Er wurde deswegen damals verleumdet und verfolgt.
Die globale Verbreitung von AIDS bedeutet nicht nur für die USA eine Sicherheitsbedrohung, sondern für die ganze Welt. Allein dieses Problem verdeutlicht, daß wir uns schon in einem finsteren Zeitalter befinden. Bereits vor einem Jahr veröffentlichte die Weltgesundheitsorganisation eine Studie, aus der hervorging, daß die von Bakterien und Viren ausgehende Bedrohung für nationale Sicherheit und wirtschaftliches Wachstum auf gefährliche Weise unterschätzt worden sei und daß bald die Chance vertan sein würde, die Bevölkerung vor den Risiken zu schützen.
Die Studie betont in ungewöhnlich eindringlichen Worten, daß nur eine ganz kurze Zeitspanne bleibe, um dramatische Fortschritte bei der Bekämpfung der sechs führenden Infektionskrankheiten zu erzielen und die Bevölkerung vor neuen Epidemien und Krankheiten zu schützen. In dem Report heißt es:
„Die Kosten für ein Scheitern dieser Aufgabe werden hoch sein; zunehmende Resistenz gegen Medikamente und die Entstehung neuer Bakterien und Viren könnten die Kontrolle ansteckender Krankheiten bald wissenschaftlich und ökonomisch unwahrscheinlich machen.
Es ist daher im ureigensten Interesse aller Nationen, globale Initiativen für die Kontrolle dieser ansteckenden Krankheiten zu unterstützen. Jede Gesellschaft, die die Verbreitung von Infektionen bei ihren Nachbarn ignoriert, tut dies zu ihrem eigenen Schaden. Wenn ein Land zum schwachen Glied in der Kette wird, was globale Überwachung und Krankheitsbekämpfung betrifft, betrifft das jedermann.
Die Pocken sind ein schlagendes Beispiel hierfür. Wenn die Pocken 1977 nicht in den letzten verbliebenen Ländern ausgerottet worden wären, würde die Welt heute einen gewaltigen Preis zahlen. Niemand sah damals das drohende Auftreten von AIDS voraus. Die Immunisierung mit einem abgeschwächten Lebendimpfstoff gegen Pocken wäre heute für viele Personen tödlich, deren Immunsystem durch HIV geschwächt ist.
Nur ein paar Jahre Verzögerung und die globale Ausrottung der Pocken wäre ohne die Entwicklung eines völlig neuen Impfstoffes unmöglich geworden. Wären die Pocken nicht eliminiert worden, was insgesamt 300 Millionen Dollar gekostet hat, wären sie heute unter den sechs führenden tödlichen Krankheiten in der Welt. Ohne diese gemeinsamen Anstrengungen in der Vergangenheit, diese Krankheit zu besiegen, würden die Pocken jährlich Millionen Tote kosten und den Regierungen Milliarden von Dollar an Gesundheitskosten aufbürden. Die Lehre aus diesem Beispiel ist übersehen worden. Der Fortschritt, den die Welt heute gegen infektiöse Krankheiten machen kann, könnte in einem Jahrzehnt unmöglich sein. Verstärkte Resistenz gegen Medikamente und die unvorhersehbare Entstehung neuer Mikroben könnte ,das kleine Fenster der Gelegenheit‘ für die Kontrolle der Infektionskrankheiten schließen.“
Dabei sind diese Formulierungen immer noch untertrieben. Krankheiten, die gegen verschiedene Medikamente resistent sind, sind bereits zunehmend unbehandelbar – gleich, in welchem Land sie auftreten und ungeachtet der finanziellen Mittel, die zur Verfügung stehen. Es wird zunehmend schwieriger, neue Antibiotika schnell genug zu entwickeln, um diejenigen zu ersetzen, welche unwirksam geworden sind.
Hat es ein Crash-Programm gegeben, um neue wissenschaftliche Durchbrüche zu erzielen? Offensichtlich nicht! Hat eine Gesellschaft, die auf solche existentiellen Bedrohungen nicht mehr reagiert, die moralische Überlebensfähigkeit verloren? Die Antwort heißt leider Ja.
Bewußte Brutalisierung
Videospiele, für die Pokémon gewissermaßen die Einstiegsdroge darstellt, haben eine unglaublich brutalisierende Wirkung auf den Geist wehrloser Kinder von drei Jahren an. Kürzlich sprang ein Vierjähriger in Rom aus dem 6. Stock eines Wohnhauses zu Tode, weil er glaubte, er könne fliegen wie ein Pokémon. Ein sechsjähriger Junge erschoß ein gleichaltriges Mädchen, nachdem er geradezu süchtig nach Videospielen geworden war. Den Kindern überall auf der Welt wird die Kindheit gestohlen!
Die American Medical Association konstatierte bereits 1972 einen direkten Zusammenhang zwischen Gewalt in den Medien und einem aktuellen Anstieg der Morde weltweit. Hat eine Gesellschaft eine Zukunft, in der die Kinder keine Jugend haben und in der die Idee von der Heiligkeit des menschlichen Lebens unbekannt ist?
Dazu kommt das, was LaRouche als „Generationenkrise“ bezeichnet: Die ökofaschistischen Ideen der grünen Bewegung und die Antiwerte der 68er Generation werden inzwischen noch vom ungezügelten Raubtierdenken der Neuen Ökonomie und vom Sozialdarwinismus der Millionäre der Generation X übertroffen, denen es völlig gleichgültig ist, wenn ihre kurzbemessenen Reichtümer auf einem wachsenden Rassismus (gegenüber den Billigproduktionsländern zum Beispiel) oder einer steigenden Marginalisierung der Armen weltweit gründen. Wer nicht sehen kann, daß wir vor der Gefahr eines neuen Faschismus stehen, der potentiell noch übler als der Hitlers werden könnte, ist entweder blind oder böse.
Gefahr der Nazis unterschätzt
Es sehr instruktiv, die heute weit verbreitete Selbsttäuschung mit den Illusionen und Fehleinschätzungen in der Zeit unmittelbar vor Hitlers Machtübernahme zu vergleichen. Nach dem sensationellen Wahlerfolg der Nazis am 14. September 1930 war man zunächst schockiert und suchte nach Gründen für dieses Ergebnis. Das Programm oder die Qualität der Führung der NSDAP könnten es wohl nicht sein, und man fragte sich verwundert: Warum sollte Hitler etwas so Besonderes sein? Es gab rund vierhundert Gruppierungen im Spektrum der Konservativen Revolution. Generell war die Verachtung für die „intellektuelle Dürftigkeit“ der Nazis groß. Die Berliner Presse charakterisierte ihre Tiraden als äußerst banale, hohle Scharlatanerie, die nichts beinhalte, was andere Agitatoren der Konservativen Revolution nicht auch schon gesagt hätten.
Nach den signifikanten Wahlverlusten der Nazis bei der Reichstagswahl vom 6. November 1932 und nach der Krise um Strasser im Dezember herrschte die allgemeine Einschätzung, daß es sich bei den Nazis nur um eine kurzfristige Erscheinung handelte und die NSDAP an ihren inneren Widersprüchen zerbrechen werde. Das war bekanntermaßen ideologisch motiviertes Wunschdenken. Es lagen zwar alle Informationen darüber vor, was die Intentionen der Nazis waren, aber den Institutionen wie der breiten Bevölkerung fehlte die Fähigkeit, diesem neuen Phänomen auf den Grund zu gehen. Anders sah es in dieser Hinsicht bei den anglo-amerikanischen Geldgebern Hitlers von Montague Norman bis zu Averill Harriman aus, die in Hitler das perfekte Instrument für ihre eugenischen und geopolitischen Ziele sahen.
Aber noch am 15. Januar 1933 befand Reichskanzler Kurt von Schleicher: „Herr Hitler stellt kein Problem mehr dar. Seine Bewegung hat aufgehört, eine politische Gefahr zu sein. Die ganze Angelegenheit ist erledigt und eine Sorge der Vergangenheit.“
Nur sehr wenige Personen nahmen Mein Kampf und Hitlers Reden ernst. Dabei hatten die verschiedenen politischen Gruppierungen sehr unterschiedliche Gründe für ihr Fehlurteil. So glaubten die Kommunisten, die sehr stark von Georg Lukacs beeinflußt waren, die eigentliche Gefahr sei der „Sozialfaschismus“ der Sozialdemokraten, die bei der „Vorbereitung und Durchführung der faschistischen Diktatur der Finanzoligarchie“ zuverlässiger und brutaler seien. Die Sozialdemokraten ihrerseits glaubten, sie hätten immerhin Bismarck und Kaiser Wilhelm überlebt, und schlimmer könne es ja wohl nicht werden.
Eine seltene Ausnahme stellte die Haltung Ewald von Kleist-Schmenzins dar, der die christlich-konservativen Kreise vor der Illusion warnte, die NSDAP sei grundsätzlich doch eine nationale Partei, die Deutschland retten werde. Aus einer anderen Ecke kam die Warnung Erich Ludendorffs, des Putschgenossen Hitlers aus den 20er Jahren, der am 30. Januar 1933 erklärte, Reichspräsident Hindenburg habe Deutschland nunmehr dem größten Demagogen aller Zeiten ausgeliefert. „Ich prophezeie Ihnen feierlich, daß dieser unselige Mann unser Reich in den Abgrund stürzen und unsere Nation in unfaßbares Elend bringen wird.“
Aber selbst nachdem Hitler an der Macht war, wurde, von wenigen Ausnahmen abgesehen, kein besonderer Alarm ausgelöst, und auch das Ausland reagierte gelassen. Dabei hatte Hitler sehr klar über seine Utopie der Macht-„Globalisierung“ gesprochen. Sein Rassismus und die Glorifizierung einer angeblichen germanischen Herrenrasse lagen offen auf dem Tisch, ebenso seine sozialdarwinistischen Ziele der Ausrottung der „Untüchtigen“ und der Vernichtung „unwerten Lebens“.
Wie konnte es zu dieser unfaßbaren „Theorie“ kommen?
Was war die Bedeutung der Rundfunkrede von Joseph Goebbels am 1. April 1933, in der er verkündete: „Damit wird das Jahr 1789 aus der Geschichte gestrichen.“ „Die Ideen von 1789“ – so hieß das Feindbild der Konservativen Revolution, und damit war weniger die Französische Revolution als gescheiterte Version der Amerikanischen Revolution gemeint, sondern die Amerikanische Revolution als Modell einer souveränen nationalen Republik. Diese Ideen fanden ihren schönsten kulturellen und poetischen Ausdruck in der Weimarer Klassik.
Der romantische Kulturpessimismus
Um wirklich zu verstehen, wie Deutschland von dieser höchsten Höhe, welche die deutsche Klassik vom Standpunkt der Universalgeschichte darstellte, in die Tiefe des Nazismus hinabstürzen konnte, muß man die ganze Ideenevolution der Konservativen Revolution betrachten. Dazu gehören die Mythen der romantischen Bewegung und ihre fundamentalen Angriffe auf die Klassik ebenso wie die Vorstellungen von Nietzsche und Wagner und der „romantische“ Protest der Jugendbewegung vor dem Ersten Weltkrieg. Der romantische Kulturpessimismus wurde durch die schreckliche Erfahrung des Ersten Weltkrieges noch verstärkt und fand schließlich Ausdruck in dem „heroischen Nihilismus“ von solchen konservativen Revolutionären wie Ernst Jünger, Oswald Spengler, Moeller van den Bruck u. a., die das ideologische Umfeld der Nazis bestimmten. Genau diese Ideen, die in neuer Form in die Gegenwart hineinwirken, stellen heute eine tödliche Gefahr für die menschliche Zivilisation dar.
Die romantische Bewegung, wie sie in Deutschland als ganz bewußte Gegenbewegung zur Weimarer Klassik auftrat, in anderen europäischen Nationen hingegen in etwas andere Erscheinungsformen auftrat, bedeutete einen dramatischen Bruch, weil sie die Grundlagen und die Identität dessen zu zersetzen suchte, was man gemeinhin unter „europäischer Kultur“ versteht.
Der Beginn dieser Kultur liegt in der Herauskristallisierung des griechischen klassischen Denkens von Homer über die großen Tragödiendichter, bis mit Plato endlich das wissenschaftliche Denken etabliert wurde. Erst dann herrschte Gewißheit, daß die Welt nicht durch von Magie und Dämonen beherrscht ist, auf die der Mensch nur durch Aberglauben und Manipulation irrationaler Mächte reagieren kann, sondern daß der Mensch fähig ist, gültige Ideen über das physische Universum zu entwickeln, daß dieses Universum auf gesetzmäßige Weise, nach dem Logos organisiert ist und daß sich diese das Universum beherrschende Vernunft in Schönheit widerspiegelt. In diesem Sinne stellte die Entwicklung der europäischen Kultur einen gewaltigen Fortschritt über die Barbarei Mesopotamiens, Babylons und anderer Imperien dar. Die griechische Klassik war die Geburtsstunde der Menschenwürde und der Menschenrechte.
Nachdem Leibniz die platonisch-christliche Tradition nach dem Dreißigjährigen Krieg neu belebt und deren wissenschaftliche Methode auf ein neues Niveau gehoben hatte und nachdem vor allem Lessing und Mendelssohn den üblen Einfluß der englischen und französischen Aufklärung bekämpft und so den Boden für die Weimarer Klassik bereitet hatten, war es vor allem die Zusammenarbeit zwischen Schiller, Goethe, Wilhelm von Humboldt und ihren Freunden, welche die Entwicklung der klassischen Kultur auf eine bis dahin unerreichte Höhe führte.
Es hat niemals ein höheres Ideal des Menschen, eine noblere Idee der Freiheit gegeben, die es jedem Menschen potentiell ermöglicht, eine schöne Seele und ein Genie zu werden, als es in den Werken dieser Männer zelebriert wurde. Und niemals wurde das Prinzip der klassischen Komposition bei Dramen und Gedichten und in der Musik weiter und tiefer entwickelt als hier.
Der größere historische Kontext dieser Periode war durch die Amerikanische Revolution bestimmt, mit der erstmals ein souveräner republikanischer Nationalstaat errichtet wurde. Das war eine so große Niederlage für das Britische Empire und George III., daß dieser darüber buchstäblich den Verstand verlor. Aber das amerikanische Modell sollte nicht nur auf Amerika beschränkt bleiben. Es war die Absicht der späteren Präsidenten John Adams, John Quincy Adams und James Monroe, daß sich das Konzept eines souveränen Nationalstaates und einer Regierung, die dem Allgemeinwohl und den unveräußerlichen Rechten aller seiner Bürger verpflichtet ist, auf dem ganzen Globus verbreiten sollte. Auf diese Weise könnten dann völlig souveräne Staaten in einer Prinzipiengemeinschaft im Interesse der ganzen Menschheit zusammenarbeiten. Das waren die politischen Ideen, die Schiller und alle republikanischen Kräfte in Europa inspirierten.
Als die Repräsentanten der Weimarer Klassik und die klassischen Komponisten, allen voran Ludwig van Beethoven, diese noblen Ideen mit ihren Dichtungen und Kompositionen („Alle Menschen werden Brüder“) in die Herzen der Bevölkerung trugen und als darüber hinaus Wilhelm von Humboldt und die Humanisten seiner Zeit diese Prinzipien zur Grundlage eines universellen Erziehungssystems zu machen begannen, entwickelte sich daraus die größte Herausforderung für das oligarchische System überhaupt. Die Verbreitung wirklicher Republiken und Zugang zum klassischen Denken im ganzen Volke!? Das hätte das Ende der Oligarchie bedeutet!
Ich bin zu dem Schluß gekommen, daß die Romantiker eigentlich gar keine Romantiker waren, sondern in Wirklichkeit Agenten der Heiligen Allianz und der Oligarchie ihrer Zeit. Sicherlich hatten sie alle ihre ach so tief empfundenen romantischen Gefühle, dennoch kann kein Zweifel daran bestehen, daß die Romantiker, wenn sie nicht von Anfang an Agenten waren, doch zumindest sehr schnell von der politischen Restauration aufgelesen und für deren Zwecke benutzt wurden. Friedrich Schlegel zum Beispiel arbeitete später offen für Metternich und Gentz; de la Motte Fouqué formulierte ungeniert das politische Programm der Restauration und propagierte die Überlegenheit des Geburtsadels als Rechtfertigung für die Wiedereinführung des Ständestaates; und Voß hatte wahrscheinlich recht mit seinem Vorwurf, daß Fritz von Stolberg von der Oligarchie und reaktionären Elementen der Kirche vereinnahmt wurde.
Vergegenwärtigen wir uns, daß die Weimarer Klassik und vor allem Schillers Werke die höchste Ebene der Vernunft verkörperten und die profundesten platonischen Ideen mit der größten poetischen Schönheit auszudrücken vermochten, und daß damit das Bewußtsein und Denkvermögen der Bevölkerung auf ein sehr hohes Niveau gehoben wurde. Man denke nur daran, welche stürmische Begeisterung die Aufführung von Schillers Dramen bei einem an heute gemessen sehr großen Publikum auslöste und welche Bedeutung seine Ideen und Werke für die Offiziere und Soldaten in den Freiheitskriegen besaß! Die Hoffnung der Menschen bestand darin, die großen Ideen der Amerikanischen Revolution in Europa zu verwirklichen und das „größte aller Kunstwerke“ – so Schiller in den Ästhetischen Briefen – zu schaffen: den Bau der wahren politischen Freiheit.
Und was setzen die Romantiker dagegen? Sie verherrlichten, was eigentlich ein finsteres Zeitalter gewesen war. Ein historisch völlig verfälschtes Bild des Mittelalters und Rittertums, mißbrauchte nordische Mythologien, unerklärliche mystische Begebenheiten, eine unendliche Todessehnsucht, das uneingeschränkte Ausleben psychologischer Konflikte – das sind nur ein paar Elemente ihrer irrationalen Mixtur.
Heine fragt in seiner Schrift Die Romantische Schule, die eine sarkastische Polemik gegen deren Vertreter ist, was dies für eine sonderbar schauerliche Neugier sei, die oft die Menschen antreibe, in die Gräber der Vergangenheit hinabzuschauen. „Es geschieht dies zu außerordentlichen Perioden, nach dem Abschluß einer Zeit oder kurz vor einer Katastrophe“, schreibt er einsichtsvoll. Heine kommt zu dem Schluß, daß der Effekt, den die Romantiker in Deutschland auf die Masse der Bevölkerung hatten, die Freiheit und die Zukunft seines Vaterlandes bedrohten.
Ich möchte nun einige Schlüsselpersonen unter den Romantikern vorstellen, das Wirken einiger ihrer Werke in die Gegenwart hinein aufzeigen, und dann ihrer Denkmethode die klassischen Prinzipien gegenüberstellen.
Der Kreis in Jena
In der zweiten Hälfte der 90er Jahre des 18. Jahrhunderts, als die fruchtbare Dekade der Zusammenarbeit zwischen Schiller und Goethe begann, versammelte sich in Jena eine Gruppe junger Autoren und Dichter, die zunächst mit den beiden in Kontakt stand. August Wilhelm Schlegel – ein Schüler Gottfried Bürgers, dessen poetischen Populismus Schiller so scharf angegriffen hatte – arbeitete für eine kurze Zeit an Schillers Publikationen Musenalmanach und Die Horen mit. Er heiratete Caroline Böhmer, die ihn später verließ, um den Naturphilosophen Schelling zu heiraten. Bald darauf kam auch Friedrich Schlegel, der jüngere der Brüder, mit seiner Geliebten und späteren Frau Dorothea Veit – einer Tochter Moses Mendelssohns, die leider nicht in die Fußstapfen ihres Vaters trat – nach Jena.
Nach einer relativ kurzen Bekanntschaft brach Schiller abrupt jeglichen Kontakt zu den Schlegels ab, weil er ihr ausschweifendes, unverschämtes und überhebliches Benehmen nicht ausstehen konnte. Schiller nannte Friedrich Schlegel einen „kalten unbescheidenen Witzling“. Als Schlegel ihn in einer Publikation des königlichen Kapellmeisters zu Berlin Reichardt angriff, entfachten Schiller und Goethe den „Xenienstreit“, der sich gegen die Hohlheit und Mittelmäßigkeit vieler zeitgenössischer Dichter und Denker, nicht zuletzt aber auch gegen die Romantiker richtete.
—–
BILD
—–
Freiherr Georg Philipp Friedrich Leopold von Hardenberg, gen. Novalis (1772–1801)
Die Schlegels gründeten alsbald eine direkte Gegenpublikation zu den Horen: das Athenaeum, das von 1798 bis 1800 erschien und das Flaggschiff ihrer Schule wurde. Darin schrieben auch Schleiermacher, Novalis (Friedrich Freiherr von Hardenberg), Fouqués Lehrer A. L. Hüsen und die Schwester Ludwig Tiecks, der neben den Schlegels und Novalis zur Kerngruppe der sogenannten Frühromantik gehörte.
Vor allem die Feindseligkeiten und Intrigen Carolines – die Schiller „Dame Luzifer“ nannte – waren daran schuld, daß sich die Mehrheit der Romantiker in offene Gegnerschaft zu Schiller begab. Caroline forderte die beiden Brüder auf, die „kritischen Diktatoren Deutschlands“ zu werden.
Novalis, dessen 15jährige Braut gestorben war, ist das erste Beispiel eines Poeten, der aus einer übersteigerten Phantasie und Todessehnsucht heraus schrieb. Er fixierte sich ganz darauf, seiner Braut in den Tod zu folgen, und tat es auch bald. Seine Hymnen an die Nacht sind ein Produkt dieser morbiden Phantasie.
Eine weitere wesentliche Schrift von Novalis, Die Christenheit oder Europa, hatte einen bleibenden Einfluß – obwohl Goethe ihre Veröffentlichung im Athenäum verhinderte. Hier wurden zum ersten Mal die seltsamen Theorien der Romantik über das Mittelalter formuliert. Novalis präsentierte das Mittelalter als Zeit eines vereinten, mächtigen Europa unter der Führung eines guten Kaisers und respekterheischender Priester, die die Wildheit und Eigensucht der Bevölkerung zähmten. Das weise Oberhaupt der Kirche ging auch gegen Entwicklungen in den Wissenschaften vor, die „gefährlich“ waren, weil die Menschen sich an rationale Denkweisen gewöhnen und schließlich alles „Große und Wunderbare“ nur noch als Folge kausaler Gesetzmäßigkeit sehen würden.
Das ging Goethe nun doch zu weit, schließlich liebte er die griechische Klassik, kannte die Geistes- und Kulturgeschichte Europas der letzten 3000 Jahre, hatte Kepler verteidigt und Newton angegriffen.
Die Schlegels
August Wilhelm Schlegel schwankte. Er versuchte, Goethe um eigener Vorteile willen nach dem Mund zu reden, war aber gleichzeitig schon auf dem besten Wege, die romantischen Ideen zu akzeptieren. Friedrich hingegen stimmte Novalis vollkommen zu und konvertierte später zu seiner eigenen merkwürdigen Version des Katholizismus.
—
BILD
Die Brüder Friedrich von Schlegel (1772–1829) und August Wilhelm Schlegel (1767–1845)
August Wilhelm dichtete nicht, hielt jedoch von 1801–04 in Berlin Vorlesungen über die Geschichte der romantischen Literatur. Im wesentlichen griff er die Klassik an und lobte all jene Dichter, die weder den Regeln der Griechen noch denen der Franzosen folgten. Er glorifizierte das deutsche Mittelalter, die Minnesänger und das Nibelungenlied, und es gelang ihm, eine eher düstere Periode glänzend erscheinen zu lassen. Leider trugen diese Vorlesungen dazu bei, den Romantikern eine theoretische Untermauerung zu liefern.
Nachdem Caroline August Wilhelm verlassen hatte, um Schelling zu heiraten, lebte dieser die nächsten 16 Jahre mit der Madame de Stael zusammen, der Tochter des französischen Finanzministers Necker, die Napoleon aus Frankreich verbannt hatte. Schiller fand sie sehr unsympathisch, und als sie Weimar verlassen hatte, meinte Goethe erleichtert, er fühle sich, als hätte er gerade eine schreckliche Krankheit überstanden.
Mit Schlegels Hilfe schrieb die Stael ein Buch über das deutsche literarische Leben Über Deutschland, das eine Mixtur der romantischen Sichtweisen des Paares enthält. Die beiden hatten eine höchst seltsame Beziehung, denn ungeachtet der Tatsache, daß sie zahlreiche Beziehungen mit anderen Männern unterhielt, unterzeichnete er 1805 einen Brief an sie mit den Worten: „Ihr Sklave“.
Als er nach ihrem Tode eine andere Frau heiratete, verließ ihn diese nach der ersten Nacht. Die Eltern der Frau ließen die Ehe mit dem Argument annullieren, diese sei niemals vollzogen worden; Heine berichtet darüber mit witzigen Bezügen auf die „fehlenden Teile des Osiris“.
Friedrich Schlegel, der zunächst die griechische Antike und Philosophie studiert hatte, ging 1797 nach Berlin, um seine Polemik gegen die Klassiker zu lancieren. Er verkehrte vor allem im Haus von Johann Friedrich Reichardt, das zu einem Zentrum der Romantiker wurde, und schrieb in Reichardts Zeitschriften Deutschland und Lyseum. Er brachte auch seine unmögliche Novelle Lucinde zu Papier, für die wahrscheinlich seine Schwägerin Caroline als Inspiration gedient hatte. Darin bezeichnet er den Menschen als „ernste Bestie“ und preist die „gottähnliche Kunst der Faulheit“ ebenso wie das Recht auf Unverschämtheit und freie Liebe.
Nordische Mythen
August Wilhelm Schlegel lenkte in seinen Vorlesungen besondere Aufmerksamkeit auf das Nibelungenlied, das J. Bodmer 1757 wiederentdeckt hatte. Schlegel behauptete, das Werk sei mit Homers Ilias vergleichbar. Schiller und Goethe wiesen dies zurück. Sie waren von der nordischen Mythologie abgestoßen, deren Götter eher unverständliche Geister waren als göttliche Figuren.
Schiller insbesondere fand, die nordische Mythologie sei zu sehr mit einer spezifischen Zeit und mit engen nationalen Interessen verbunden. Seiner Ansicht nach behandelte nur die griechische Mythologie den Menschen zeitlos und universell. Wie recht er hatte! Der bewußte Versuch der Romantiker, den Bezug zur griechischen Antike durch die nordischen Mythologien zu ersetzen, war nur ein, aber ein ganz wesentlicher Aspekt, der dazu beitrug, die spätere deutsche Katastrophe herbeizuführen. Schiller sorgte sich, wohin wohl alle diese romantischen Ideen führen würden. Er erkannte epistemologisch (in dem Sinne, wie Lyndon LaRouche über die wissenschaftlichen Grundlagen der langfristigen Prognose spricht), daß die „Umlaufbahn dieser Kometen“ unweigerlich zu einem Krisenpunkt führen würde.
Friedrich Schlegel schrieb einen längeren Essay über die nordischen Dichtungen, und die hauptsächlichen Arbeiten Fouqués waren der Nibelungensage und der Idee des nordischen Helden gewidmet. Joseph Görres griff die Lohengrin-Sage auf und betrieb weitere Nachforschungen über die Siegfried-Sage. 1826 wurde der Nibelungenhort zum ersten Mal auf der Bühne aufgeführt, und bekanntermaßen nutzte Richard Wagner diese Mythen dann als Reservoir für seine Musikdramen Parsifal, Lohengrin, Tristan und Isolde usf.
Beginnend mit der unhistorischen Glorifizierung des Mittelalters durch die Romantiker wurden diese Mythologien mißbraucht und mit einem mystischen Begriff vom „Volk“ verknüpft. Bei den Nazis wurde aus dem Nibelungenlied das „Hohe Lied“ der bedingungslosen Unterwerfung unter den „Führer“.
Novalis beginnt seine wichtigste Novelle Heinrich von Ofterdingen mit den Worten:
„Der Jüngling lag unruhig auf seinem Lager und gedachte des Fremden und seiner Erzählungen. Nicht die Schätze sind es, die ein so unaussprechliches Verlangen in mir geweckt haben, sagte er zu sich selbst, fern liegt mir jede Habsucht, aber die blaue Blume sehne ich mich zu erblicken. Sie liegt mir unaufhörlich im Sinne und ich kann nichts anderes dichten und denken. So ist mir noch nie zumute gewesen, es ist, als hätte ich vorhin geträumt, oder ich wäre in eine andere Welt hinübergeschlummert.“
Diese „blaue Blume“ wurde zur Metapher für die Romantik. In Wirklichkeit war es das seltsame Gebräu der Edda und die Verherrlichung der oligarchischen Ordnung.
Tiecks Der blonde Eckbert
Es kommt noch eine andere Dimension hinzu. Einerseits sind die meisten romantischen Schriften von frappierender Geisteseinfalt und in sehr einfachem Stil geschrieben. So schreibt Heine über Tieck, er habe „so viel von den Volksbüchern und den Gedichten des Mittelalter geschluckt, daß er fast wieder Kind wurde, und zu jener lallenden Einfalt herabblühte, die Frau von Stael so sehr viel Mühe hatte, zu bewundern“.
Über Tiecks Blonden Eckbert und Runenberg schreibt Heine: „In dieser Dichtung herrscht eine geheimnisvolle Innigkeit, ein sonderbares Einverständnis mit der Natur, besonders mit dem der Pflanzen und des Steinreichs. Der Leser fühlt sich da wie in einem verzauberten Walde.“
Ich möchte kurz die Geschichte des Blonden Eckbert erzählen, um einen Geschmack des Genres zu geben. Der Ritter Eckbert wohnt in der Einsamkeit des Waldes völlig zurückgezogen mit seiner Frau Berta. Ein Besucher, Walter, kommt und freundet sich mit ihm an. Eines Abends drängt Eckbert Walter, sich die Geschichte der Kindheit seiner Frau anzuhören. Berta erzählt, daß sie, als sie acht Jahre alt war, brutal von ihrem Vater geschlagen wurde und daraufhin von zu Hause fortlief, immer weiter durch geheimnisvolle Wälder und Berge, bis sie schließlich von einer alten Frau in deren Haus aufgenommen wurde. Dort war es ihre Aufgabe, den Vogel und den Hund zu versorgen. Eines Tages erzählte ihr die alte Frau das Geheimnis, daß der Vogel jeden Tag ein Ei mit einer Perle oder einem Edelstein darin lege. Sie fügte hinzu: Wenn Berta ihre Pflicht täte, werde es ihr wohl ergehen, wenn nicht, werde sie strenge Strafe treffen, und sei es noch so spät.
Als Berta 14 Jahre war, beschloß sie, als die alte Frau einmal abwesend war, den Vogel, die Perlen und Edelsteine zu stehlen. Sie band den Hund im Hause fest, wohlwissend, daß er auf diese Weise sterben müsse. Sie wanderte fort, verkaufte die Kostbarkeiten, und eines Tages erreichte sie das Dorf, aus dem sie vor Jahren weggelaufen war. Ihre Eltern waren allerdings drei Jahre zuvor gestorben. Da fing der Vogel plötzlich wunderbar zu singen an, worauf sie ihm den Hals umdrehte. Sie heiratete den Ritter Eckbert. Dies war das Ende der Geschichte; worauf Walter kommentiert: „Ich kann mir gut vorstellen, wie du den kleinen Strohmi gefüttert hast.“
Eckbert bereut noch in der gleichen Nacht, die Geschichte preisgegeben zu haben, weil Walter ihr Geheimnis verraten könnte. Er wird völlig paranoid. Berta ist außer sich, weil Walter wußte, daß der kleine Hund „Strohmi“ hieß, und wird plötzlich sehr krank. Eckbert geht hinaus und erschießt Walter im Wald. Berta stirbt, noch ehe er zurückkehrt.
Eckbert freundet sich mit einem anderen Ritter an, Hugo von Wolfsberg, aber er ist wiederum völlig paranoid und meint, dieser liebe ihn vielleicht nur, weil er sein schreckliches Geheimnis nicht kenne. Plötzlich verwandelt sich Hugos Gesicht in das von Walter. Eckbert fürchtet, den Verstand zu verlieren, und rennt davon. Im nächsten Augenblick begegnet er der alten Frau, die ihn anschreit: „Bringst du meinen Vogel? meine Perlen? Meinen Hund? Siehe, das Unrecht bestraft sich selbst. Niemand als ich war dein Freund Walter, dein Hugo! Und Berta war deine Schwester. Warum verließ sie mich tückisch? Sonst hätte sich alles gut und schön geendet, ihre Probezeit war ja schon vorüber. Sie war die Tochter eines Ritters, die er bei einem Hirten erziehen ließ, die Tochter deines Vaters.“ Als er diese Worte hört, wird Eckbert verrückt und stirbt.
Einmal ganz abgesehen von der irrationalen und inkohärenten Handlung der Geschichte handelt es sich hier offenbar um die Erinnerung eines Kindes, das von einem jähzornigen Vater geschlagen wurde, daraufhin eine multiple Persönlichkeit entwickelt und zu paranoiden Schüben und Schizophrenie neigt. Die Faszination mit dem Wahnsinn ist ein sehr charakteristischer Aspekt bei fast allen Romantikern.
Falsches Naturverständnis
In der Novelle Der Runenberg wandert der Held der Geschichte, Christian, in einer seltsamen Gebirgslandschaft herum.
„Gedankenlos zog er eine Wurzel aus der Erde, und plötzlich hörte er erschreckend ein dumpfes Winseln im Boden, das sich unterirdisch in klagenden Tönen fortzog, und erst in der Ferne wehmütig verscholl. Der Ton durchdrang sein innerstes Herz, er ergriff ihn, als wenn er unvermutet die Wunde berührt habe, an der der sterbende Leichnam der Natur in Schmerzen verscheiden wolle. Er sprang auf und wollte fliehen, denn er hat wohl Elendes von der seltsamen Alraunenwurzel gehört, die beim Ausreißen so herzzerreißende Töne von sich gebe, daß der Mensch von ihrem Gewinsel wahnsinnig werden müsse.“
(Jetzt weiß man endlich, was Andrea Fischers Problem ist: Sie hat versucht, Alraunwurzeln herauszuziehen! Erinnern wir uns, nicht nur Novalis hörte den Pflanzen zu, auch Prinz Charles spricht mit ihnen.)
Im Runenberg beschreibt Christian detailliert seine schizophrenen Alpträume: „Nein, ich erinnere mich ganz deutlich, daß mir eine Pflanze zuerst das ganze Unglück der Erde bekannt gemacht hat; seitdem verstehe ich die Seufzer und Klagen, die allenthalben in der ganzen Natur vernehmbar sind, wenn man nur darauf hören will, in den Pflanzen, Kräutern, Blumen und Bäumen regt und bewegt sich nur schmerzhaft eine große Wunde, sie sind der Leichnam vormaliger herrlicher Steinwelten, sie bieten unserem Auge schreckliche Verwesung dar.“
(Vielleicht ist damit das Geheimnis gelüftet, woher die Grünen wissen, daß der Wald krank ist: Man braucht nur einen todessüchtigen Schizophrenen in den Wald zu schicken, und der wird ihm alles erzählen!)
Tieck war nicht der einzige, bei dem Wahnsinn und Schwelgen in der Natur eng miteinander verknüpft waren. Heine sagt über ihn und Novalis, die Ähnlichkeit zwischen beiden bestehe darin, daß ihre Dichtung eigentlich Krankheit sei.
E. T. A. Hoffmann und Geisteskrankheit
Über Ernst Theodor (E. T. A.) Hoffmann schreibt Heine:
„Hoffmann sah überall nur Gespenster, aber das Leben stieß ihn von sich als einen trüben Spuk. Da fühlte er, daß er selber ein Gespenst geworden, die ganze Natur war ihm jetzt ein mißgeschliffener Spiegel, worin er, tausendfältig verzerrt, nur seine eigene Totenbahre erblickte, und seine Werke sind nichts anderes als ein entsetzlicher Angstschrei in zwanzig Bänden.“
Hoffmann beschäftigte sich nur mit der Nachtseite der Natur und des Menschen und sprach fortdauernd über Teufel, Gräber und Wahnsinn. Nicht nur Heine erkannte, daß die Romantiker sich darin gefielen, ihren Hang zum Wahnsinn auszuleben. Goethe sagte in einem Gespräch mit Eckermann (2.4.1829), das Klassische sei das Gesunde, und das Romantische sei das Kranke.
Dieser Wahnsinn hatte Methode. Die zeitgenössische Fachliteratur gibt ganz offen zu, daß die moderne Psychiatrie ihre Wurzeln in E. T. A. Hoffmann hat. So schreibt Arnold Hauser in seiner Philosophie der Kunstgeschichte:
„Die Psychoanalyse ist selbst eine Art von Romantizismus, sie ist undenkbar ohne eine romantische Geistesverfassung und die romantische Tradition. Freuds wirkliche geistige Vorfahren finden sich unter den Romantikern, und die Grundannahmen der psychoanalytischen Herangehensweise an geistige Phänomene gehören zu den fundamentalen Implikationen der romantischen Weltanschauung. Die Psychoanalyse betrachtet, ganz wie die Romantik, das Unbewußte als die Quelle, wenn nicht einer höheren, so doch einer genuineren, dauerhafteren Form der Wahrheit.
Ihr Prinzip der freien Assoziation, die nicht nur die Grundlage ihrer Theorie darstellt, sondern auch ihr Kriterium des spontanen geistigen Funktionierens, ist eine Variante der ,inneren Stimme‘ der Romantiker. Die Grundidee der Konvertibilität geistiger Energien und Haltungen, auf der die ganze Struktur der psychoanalytischen Doktrin aufbaut, mit ihren Reaktionsbildungen, Verteidigungsmechanismen, Rationalisierungen und Sublimierungen basiert, ist ohne die Erfahrung der romantischen Frustrationen undenkbar und stellt eine Konstante von Kompensationen in einer Periode dar, die Freud selbst als das ,Unbehagen des Menschen an der Zivilisation‘ bezeichnet hat.“
Hoffmann machte sich wohl selbst Sorgen, daß er den Verstand verlöre. Er stand mit einem der führenden Ärzte seiner Zeit, Adalbert Friedrich Marcus, in Kontakt, und war mit einem anderen, Friedrich Speyer, bekannt. Er besuchte die Irrenanstalt St. Getreu, las die maßgebliche psychiatrische Literatur und beschäftigte sich mit Abhandlungen über den Mesmerismus, dem die gerade erst entdeckte Hypnose zugrunde lag, und Somnambulismus. Diese Erkenntnisse und Beobachtungen benutzte er dann als literarisches Material.
In der Geschichte Der Sandmann besitzt der Student Nathaniel eine Brille, mit der er zwei verschiedene Arten von Realität sehen kann. Die Perzeption durch diese Brille setzt ein inneres Phantasieleben in Gang, das ihn die äußere Welt auf eine völlige andere Weise sehen läßt als alle anderen Menschen. Wahnsinn setzt ein, der Schizophrene kann diese beiden Sichtweisen nicht mehr zusammenbringen.
In Prinzessin Brombilla beschreibt Hoffmann einen chronischen Dualismus des Geistes, in Die Serapionsbrüder schildert er die Welt eines verrückten Menschen, der in einer eigenen geistigen Welt lebt, mit einer eigenen Logik für sich allein, und solange er nicht gestört wird, ein abgeschlossenes, aber glückliches Leben lebt.
Diese Methode, gar nicht erst zu versuchen, die Geisteskrankheit zu heilen, sondern dem Patienten ein „menschliches Leben“ zu geben, indem er lernt, mit seiner geistigen Störung „in Frieden“ zu leben, war genau die Methode, die R. D. Laing später für seine „Antipsychiatrie“-Anstalt in Kinsley Hall wählte (Laing, The Divided Self). Dabei muß man wissen daß R. D. Laing der Experte des britischen Tavistock-Instituts (Abteilung des britischen Geheimdienstes für psychologische Kriegführung) für psychomimetische Drogen war; seine Spezialität war es, die psychotischen Zustände von Patienten zu studieren, um dann herauszufinden, wie diese Zustände mit Hilfe synthetischer Drogen künstlich induziert werden können.
R. D. Laing gehörte zu dem Kreis um Bertrand Russell und H. G. Wells, der Programme entwarf, wie die Bevölkerung durch induziertes psychotisches Verhalten zu kontrollieren ist. Dazu gehörten auch Versuche mit dem sogenannten Heidelberger Patientenkollektiv, aus dem terroristische Attentäter hervorgingen, ebenso wie die Experimente des berüchtigten MK-Ultra-Projektes in den USA, bei dem LSD an Studenten ausprobiert wurde.
Sollte die Romantische Schule ein früherer, aber ähnlicher Versuch gewesen sein, die Bevölkerung durch eine Form von Wahnsinn zu kontrollieren?
Es ist bemerkenswert, daß Goethe einen Bericht der englischen Zeitschrift The Foreign Quarterly Review zitiert, in der von Hoffmanns Krankheit als einer Tatsache ausgegangen wird:
„Sie (die Werke Hoffmanns) haben kaum so viel scheinbaren Gehalt, als den Verrücktheiten eines Mondsüchtigen allenfalls zugestanden würde; es sind fieberhafte Träume eines leichtbewegten, kranken Gehirns, denen wir, wenn wir uns gleich durch ihr Wunderliches manchmal aufregen oder durch ihr Seltsames überraschen, niemals mehr als eine augenblickliche Aufmerksamkeit widmen könnten. Fürwahr, die Begeisterungen Hoffmanns gleichen oft den Einbildungen, die ein unmäßiger Gebrauch des Opiums hervorbringt, und welche mehr den Beistand des Arztes als des Kritikers fordern möchte.“
Der englische Autor empfiehlt dann für die Behandlung Hoffmanns die damals üblichen Methoden, Aderlaß, Abführ- und Brechmittel. Goethe kommentiert diesen Bericht folgendermaßen:
„Wir können den reichen Inhalt dieses Artikels unseren Lesern nicht genugsam empfehlen: Denn welcher treue, für Nationalbildung gesorgte Teilnehmer hat nicht mit Trauer gesehen, daß die krankhaften Werke des leidenden Mannes lange Jahre in Deutschland wirksam gewesen sind, und welche Verwirrungen als bedeutend-fördernde Neuigkeiten gesunden Gemütern eingeimpft wurden.“
In dem erwähnten englischen Text heißt es auch:
„So war der Erfinder, oder wenigstens der erste bedeutsame Künstler, der das Phantastische der übernatürlichen Grotesken in seinen Kompositionen präsentierte, so nahe am Rande des Wahnsinns, daß er vor seinen eigenen Schöpfungen Angst bekam. Es ist kein Wunder, daß ein Geist, der so lebhaft dem Einfluß von Einbildungen zugänglich war, der so wenig unter dem Einfluß der nüchternen Vernunft stand, einen solch reichen Gedankenstrom haben sollte, bei dem das Phantastische einen so großen Anteil hatte, und die Vernunft gar keinen.
Es gibt gute Gründe anzunehmen, daß sein Leben nicht nur durch seine geistige Krankheit verkürzt wurde, deren spezifische Eigenschaft es ist, die Verdauung zu verhindern und die gesunde Ausübung der Magentätigkeit zu zerstören, sondern auch durch ein Übermaß bei den Mitteln, zu denen er Zugang hatte, um sich selbst gegen die Depressionen zu behandeln, die so tief auf die Verfassung seines Geistes einwirkten.“
Heine schrieb über diesen Aspekt der romantischen Dichtung: „Will man sich einen Begriff von dem großen Haufen Poeten machen, die damals in allen möglichen Versarten die Dichtungen des Mittelalters nachmachten, so muß man nach dem Narrenhaus Charenton gehen“, und: „Ich habe eben den deutschen Parnaß jener Zeit mit Charenton verglichen.“
Was auch immer die romantische Bewegung war – eine organische Explosion von Irrationalität oder eine von oben gesteuerte Operation –, ihr Siegeszug fand jedenfalls nach dem Wiener Kongreß und der Konsolidierung der Restauration statt. Friedrich Schlegel, bereits in festen Diensten Metternichs, lobte die Entlassung Wilhelm von Humboldts als Minister in Berlin 1819 als einen Sieg der gerechten Sache.
Die klassische Kunst zum Maßstab nehmen
Ein weiterer schamloser Propagandist der Restauration war der Baron de la Motte Fouqué, dessen ganzes Werk den ungeschminkten Versuch darstellte, die Machtstrukturen der Oligarchie zu stabilisieren, indem er pausenlos die natürliche Überlegenheit des Geburtsadels und den gottgegebenen Charakter des Ständestaates unterstrich, den die unteren Schichten angeblich freudig akzeptierten. So schreibt er in „Undine“, der Geschichte von der Meerjungfrau:
„Als das reiche Mahl zuende ging, und man den Nachtisch auftrug, blieben die Türen offen, nach guter alter Sitte in deutschen Landen, damit auch das Volk zusehen könne.“
In typisch oligarchischer Weise kultiviert Fouqué hier den Mythos vom freiwilligen Geist der Unterwerfung der Untertanen, die den überlegenen Charakter der Ritter dankbar anerkennen und sich vor ihnen mit gekrümmtem Rücken verneigen. Er ging sogar soweit, eine Parallele zwischen der Hierarchie der Ritter und der Engel als Vermittler in der Gesellschaft aufzuzeichnen!
Selbst auf Eichendorff, der zwar ein Romantiker war, aber ein heiteres Gemüt und ein enormes lyrisches Talent hatte, wirkten diese überheblichen Ergüsse des Herrn Fouqué abstoßend.
Johann Heinrich Voss, der Homer und andere Griechen der Antike übersetzt hatte, führte den heftigsten Angriff gegen die Romantiker. Seine Schrift „Wie ward Fritz Stolberg ein Unfreier?“ war eine scharfe Abrechnung mit seinem früheren Freund Graf Stolberg, der zunächst mit den Freiheitsideen der Amerikanischen Revolution, mit Benjamin Franklin und George Washington sympathisiert hatte, dann aber in das reaktionäre Umfeld jesuitischer Kreise und des Adels gezogen wurde. Gegen die Überwindung des Ständestaates hatte Stolberg Argumente gefunden, die sich von denen der Plantagenbesitzer der amerikanischen Südstaaten-Konföderation in nichts unterschieden. Die unteren Klassen seien noch nicht reif für ihre Befreiung, so begründete er seine bestialischen Ansichten, und außerdem repräsentiere der Geburtsadel einen edleren Teil der Menschheit, der einen völlig eigenen und höheren Begriff von Ehre habe.
Voss verabscheut diese Sicht: „Die Unbegreiflichen, in deren Köpfe man sich kaum hineindenken kann! Diese Ansprüche auf Staatswürden ohne Geschick, diese Gier auf Gemeingut, wozu sie nichts beitragen, diesen Dünkel auf Ahnherren, die keiner kennt, nennen sie erhabenes, ihrem Geschlecht eigenes Ehrgefühl.“ Wie man sieht, hat sich an der unbegründeten Arroganz der Oligarchie, gleich ob es sich um sogenannten Geburtsadel oder die Finanzoligarchie handelt, bis heute nichts geändert!
Um aber wirklich das merkwürdige Gebräu der Romantik zu verstehen, muß man neben der Restauration und den Interessen der Oligarchen, neben den Angriffen auf die im klassischen Griechentum basierende Identität Europas, den nordischen Mythen und der Faszination mit dem Wahnsinn, vor allem die religiöse Seite betrachten, die nirgendwo deutlicher wird als in den seltsamen „Reden über die Religion“ von Schleiermacher. Er schreibt da:
„Wie nennt Ihr das Gefühl einer unbefriedigenden Sehnsucht, die auf einen großen Gegenstand gerichtet ist, und deren Unendlichkeit Euch bewußt ist? Was ergreift Euch, wo Ihr das Heilige mit dem Profanen, das Erhabene mit dem Geringen und Nichtigen aufs Innigste gemischt findet? Und wie nennt Ihr die Stimmung, die Euch bisweilen nötigt, diese Richtung überall vorauszusetzen und überall nach ihr zu forschen? Nicht bisweilen ergreift sie den Christen, sondern sie ist der herrschende Ton aller seiner religiösen Gefühle, die heilige Wehmut – denn das ist der einzige Name, den die Sprache mir darbietet – jede Freude und jeden Schmerz, jede Liebe und jede Furcht begleitet sie, ja… sie [ist] der Grundton, auf den sich alles bezieht.“
Diese „süßliebliche Wehmut“, diese Tränen, dieser „unaussprechlich süße Schmerz“, der „um kein Wohlbehagen in der Welt hätte vertauscht werden dürfen“ – das ist wirklich romantisch!
Die Vorstellung, daß es „mit dem ganzen Leben nicht viel anders sei, als ein Fortziehen im Dunkeln auf unbekannten Wegen nach verhüllten Gestalten hin, die einzuholen ihm wohl nimmermehr gelingen wird“ – ist das nicht letztlich auch, was dem Zeitgeist heute zugrunde liegt?
Und natürlich die „heißen Tränen“. In Fouqués „Undine“ heißt es:
„Er war so recht in seiner Seele betrübt, [und es] drangen die Tränen aus ganzer Seele heiß in seine Augen… Ihm ward immer wohler in seinen Tränen, wie eine leis erwärmende Glut drang es an sein Herz, und mit dem tiefen seelennagenden Kummer schwoll seelige Hoffnung in ein noch nie bis dahin vernommenes Gefühl.“
Undine ist als Elementargeist nach den Gesetzen ihrer Art dazu verurteilt, den Geliebten „totzuweinen“, und löst sich an dessen Grab selbst in einen Tränenstrom auf, um für immer als „silberhelles Brünnlein“ „mit freundlichen Armen ihren Liebling zu umfassen“.
Klassik gegen Romantik
Rufen wir uns noch einmal in Erinnerung, daß die Weimarer Klassik gerade das höchste Ideal der klassischen Kunst aufgestellt hatte, das den vollkommenen Menschen in seiner universellen Identität als Ausdruck der Gattung zum Thema hatte.
Für die Romantiker stand der Mensch keineswegs im Mittelpunkt, er war nur ein Element in einer endlosen Natur, in einer unendlichen Geschichte, von Ozeanen umgeben, im Äther und der Tiefe der Nacht.
Schiller hatte den höchsten Anspruch an den klassischen Künstler. Gerade weil die Dichtung den Schlüssel zu den innersten Regungen der Seele darstellt, verlangte er, daß der Dichter oder Künstler allgemein sich selbst zu einem vollkommenen Menschen idealisiert haben müßte, ehe er es wagen dürfe, sein Publikum zu rühren. Aber auch das Thema, das er behandelt, dürfe nicht willkürlich gewählt sein. In seiner Kritik an Bürgers Gedichten schreibt Schiller:
„Eine der ersten Erfordernisse des Dichters ist Idealisierung, Veredlung, ohne welche er aufhört, seinen Namen zu verdienen. Ihm kommt es zu, das Vortreffliche seines Gegenstandes (mag dieser nun Gestalt, Empfindung oder Behandlung sein, in ihm oder außer ihm wohnen) von gröberen, wenigstens fremdartigen Beimischungen zu befreien, die in mehreren Gegenständen zerstreuten Strahlen von Vollkommenheit in einem einzigen zu sammeln, einzelne, das Ebenmaß störende Züge der Harmonie des Ganzen zu unterwerfen, das Individuelle und Lokale zum Allgemeinen zu erheben. Alle Ideale, die er auf diese Weise im Einzelnen bildet, sind gleichsam nur Ausflüsse eines inneren Ideals von Vollkommenheit, das in der Seele des Dichters wohnt.“
Der Dichter sollte gerade nicht versuchen, dadurch populär zu sein, indem er sich auf das niedrige Niveau des Volksgeschmacks hinab begebe, sondern er solle das Publikum spielerisch zu seinen hohen Idealen emporheben. Ganz anders sah Novalis gerade in der Popularität den größten Wert an sich.
Aber wie kann sich der Dichter seiner Wirkung gewiß sein, einen gesetzmäßigen Effekt erzielen und gleichzeitig die Freiheit der Vorstellungskraft des Publikums respektieren? In seiner Schrift über Mathisons Gedichte schreibt Schiller, daß diese scheinbar widersprüchlichen Bedingungen nur erfüllt werden könnten, wenn die größtmögliche Freiheit von der größtmöglichen Bestimmtheit begleitet ist.
Die Romantiker dagegen empfanden jegliche Bestimmung als unmoralisch und lähmend für die Freiheit. So lehnte Schleiermacher auch Fichtes Ethik, die allgemeine Menschlichkeit als die Bestimmung des Menschen definiert, als unmoralisch ab. Schleiermacher verlangte, daß jeder Mensch nur seine einzigartige Meinung haben sollte, das Recht auf „meine Meinung“, weil nur so alle in der Unendlichkeit denkbaren Möglichkeiten sich entfalten könnten. Eine Art „Basisdemokratie“ also.
Es gelang Schiller und Goethe in ihrer fruchtbaren Zusammenarbeit, Erkenntnis der ewig gültigen Kunstgesetze zu erlangen, und sie verlangten vom Künstler, daß er diese Gesetze in höchster Vollendung und Meisterschaft zur Anwendung bringe. Für die Romantiker hingegen war die Willkür des Dichters absolute Priorität. „Der Himmel bewahre uns vor ewigen Werken“, so brachte Friedrich Schlegel es einmal auf den Begriff.
Für die klassischen Dichter enthielt jeder Augenblick zugleich die Gleichzeitigkeit des Ewigen. Schiller schreibt: „Der rein moralische Trieb ist aufs Unbedingte gerichtet, für ihn gibt es keine Zeit, und die Zukunft wird ihm zur Gegenwart, sobald sie sich aus der Gegenwart notwendig entwickeln muß. Vor einer Vernunft ohne Schranken ist die Richtung zugleich Vollendung, und der Weg ist zurückgelegt, sobald er eingeschlagen ist.“
Und Goethe drückte es gegenüber Eckermann so aus: „Jeder Zustand, ja jeder Augenblick ist von unendlichem Wert, denn er ist der Repräsentant einer ganzen Ewigkeit.“
Die Romantiker andererseits wollten die Zeit weder nutzen noch in irgendeiner Weise messen. In Friedrich Schlegels Novelle „Lucinde“ heißt es:
„O Müßiggang, Müßiggang, du bist die Lebenslust der Unschuld und der Begeisterung; dich atmen die Seligen, und selig ist, wer dich hat und hegt, du heiliges Kleinod! einziges Fragment von Gottähnlichkeit, das uns noch aus dem Paradiese blieb…
In der Tat, man sollte das Studium des Müßiggangs nicht so sträflich vernachlässigen, sondern es zur Kunst und Wissenschaft, ja zur Religion bilden! Um alles in Eins zu fassen: je göttlicher ein Mensch oder ein Werk des Menschen ist, je ähnlicher werden sie der Pflanze, diese ist unter allen Formen die sittlichste, und die schönste. Und also wäre das höchste vollendete Leben nichts als ein Vegetieren.“
Jetzt ist es klar: Andrea Fischer denkt, sie sei eine Reinkarnation von Lucinde, sie vegetiert!
Höchst aufschlußreich ist die völlig entgegengesetzte Auffassung, die Klassiker und Romantiker von der berühmten Skulptur „Laokoon“ der rhodischen Bildhauer Agesandros, Polydoros und Athenadoros hatten. Goethe betrachtete sie, wie zuvor Lessing, als Ausdruck des edelsten Menschentums, weil die Besonnenheit, die Beherrschung des Gefühls, die in der Skulptur ausgedrückt sind, größer sind als der Schmerz. Novalis kam zu exakt der gegenteiligen Sicht:
„Ließe sich nicht ein umfassenderer, kurz ein höhergnädiger Moment im Laokoontinischen Drama als die antike Gruppe denken, vielleicht der, wo der höchste Schmerz in Rausch, der Widerstand in Ergebung, das höchste Leben in Stein übergeht?“
Eben diese ungezügelte Form des dionysischen Rausches, der Ekstase, die Friedrich Schlegel als höchsten Zustand ansah, war wiederum den Klassikern zuwider. Schiller schrieb über die Ekstase folgendes:
„Der Mensch ist in diesem Zustand nichts als ein erfüllter Moment der Zeit – oder vielmehr er ist es nicht, denn seine Persönlichkeit ist solange aufgehoben, als ihn die Empfindung beherrscht und die Zeit mit sich fortreißt. Die Sprache hat für diesen Zustand den sehr treffenden Ausdruck: außer sich sein, d. h. außer seinem Ich sein. Von diesem Zustand zur Besonnenheit zurückzukehren, nennt man ebenso richtig: in sich gehen, d. h. in sein Ich zurückkehren, seine Person wieder herstellen.“
Die Romantiker hatten kein Interesse daran, die Person wieder herzustellen, sie sollte das Gegenteil tun, nämlich aus sich heraustreten.
Das gleiche methodische Gegenteil zeigt sich bei den Vertretern der beiden entgegengesetzten literarischen Richtungen, wenn es darum ging, die Beziehung des Menschen zum Tod oder zum Schicksal allgemein darzustellen. Hölderlin schwelgt in der „Todeslust“ und spricht vom wunderbaren „Sehnen dem Abgrund zu“. Und Novalis ist der Ansicht: „Leben ist der Anfang des Todes. Das Leben ist um des Todes willen.“
Für Schiller, der gewiß Zeit seines Lebens von Krankheiten gebeutelt war, sind solche morbiden Gedanken unvorstellbar. Für ihn sind die Schönheit und Erhabenheit des Menschen dem Tode überlegen. Die Freiheit siegt bei ihm über das Schicksal, und deshalb verliert er nie seinen grundlegenden Optimismus. Er spricht vom „großen erhabenen Schicksal, das den Menschen erhebt, wenn es den Menschen zermalmt“.
Es ist offensichtlich, daß vieles von dem, was Schiller schrieb, eine direkte Polemik gegen und eine Auseinandersetzung mit den romantischen Vorstellungen war und daß er die von diesen Kreisen aufgebrachten Themen klassisch behandelte. Man vergleiche zum Beispiel die hingegossene „Sehnsucht“ der Romantiker, die mehr an den Anblick eines kranken Kalbes erinnert, mit Schillers Gedicht „Sehnsucht“, wo eben dieses Gefühl kraftvoll durch die Tat überwunden wird. In den letzten Zeilen des Gedichtes, die von ausgesuchter Schönheit sind, heißt es:
„Einen Nachen seh‘ ich schwanken,
Aber, ach! Der Fährmann fehlt.
Frisch hinein, und ohne Wanken!
Seine Segel sind beseelt.
Du mußt glauben, du mußt wagen,
Denn die Götter leihn kein Pfand;
Nur ein Wunder kann dich tragen
In das schöne Wunderland.“
Der mutige Schritt, den schwankenden Nachen zu besteigen, um den Strom zu überqueren, der uns von den ersehnten Hügeln trennt, beendet das Gefühl der Sehnsucht, führt darüber hinaus und bringt die Metapher des Gedichts zu einem Abschluß.
Keine unendliche Geschichte
Und hiermit sind wir an einem sehr wichtigen Aspekt angelangt, der an einem weiteren Punkt verrät, warum die romantischen Schriften sich so viel näher an den modernen Seifenopern mit all den dort dargestellten falschen Emotionen und kleinlichen Problemchen als an richtiger Kunst befinden, die nämlich immer einen notwendigen Schluß haben muß – dann nämlich, wenn die Idee, die dem Kunstwerk zugrunde liegt, vollständig und zwingend entwickelt ist.
Bei den Romantikern wie den Seifenopern hingegen ist alles eine unendliche Geschichte, der Serie können beliebig viele Folgen hinzugefügt werden. So schreibt Tieck:
„Warum muß denn alles einen Schluß haben? Und welcher Schluß ist denn wohl ganz geschlossen? Könnte denn nicht nach dem letzten Akt der Vorhang wieder aufgehen und so unendlich fort? Aller Abschluß ist Willkür.“
Und Dorothea schrieb an Friedrich Schlegel: „… was mir klar geworden ist; daß ein Gedicht keinen schließlichen Schluß zu haben braucht als einen schönen Tag.“
Die klassische Kunst dagegen hat eine definitive innere Architektur und einen bestimmten Abschluß. Schillers Dramen zum Beispiel beginnen immer mit dem, was er den „prägnanten Augenblick“ nennt, mit einer Situation, die in Keimform bereits die gesamte Handlung in sich enthält. Dann entwickelt sich diese Situation bis zum sogenannten punctum saliens, dem Moment, an dem das Schicksal gewissermaßen dem Helden noch einmal die Entscheidungsfreiheit zuspielt, und es nun an ihm liegt, einen Charakterfehler zu überwinden oder an seiner Unfähigkeit, dies zu tun, unterzugehen und das Drama als Tragödie enden zu lassen.
Die Tatsache, daß das Publikum diese Handlungsoptionen unterscheiden kann, führt zu größerer Erkenntniskraft und bildet die Emotionen dazu aus, sich mit den „großen Themen der Menschheit“ befassen zu wollen, denn nur diese verdienen es, im klassischen Drama behandelt zu werden. Und schließlich kommt das Drama an sein notwendiges Ende, weil alle Möglichkeiten, die im punctum saliens impliziert waren, ausgespielt worden sind. Deshalb geht es beim klassischen Drama nicht um effekthaschende Novitäten – und Novellen haben ihrer Namen genau deshalb, weil es in ihnen um solche Novitäten geht –, sondern der Dichter findet in einer historischen Begebenheit die universelle Idee und das ewige Gesetz und stellt sie dar.
Das gleiche Prinzip gilt für Gedichte. In dem Gedicht „Der Spaziergang“ fängt Schiller mit einem wirklichen Spaziergang in der Natur an, entwickelt dann den Gang durch die verschiedenen Phasen des Lebens und der Geschichte und kehrt dann zur Natur auf der höchsten Ebene der Freiheit zurück.
Oder man denke and das Gedicht „Die Künstler“; Schiller beginnt mit einem großartigen Bild des Menschen in seiner Zeit („Wie schön, o Mensch mit deinem Palmenzweige, stehst du an des Jahrhunderts Neige…“), durchläuft dann all die Faktoren der Universalgeschichte, die mitgeholfen haben, die Menschheit bis zum heutigen Punkte zu bringen, um dann auf dem höchsten Niveau der Einheit zu enden. Jetzt weiß man, was man schon in der ersten Strophe wußte, aber man weiß es in all seiner Komplexität. Nun ist das Gedicht absolut abgeschlossen, und nicht ein einziges weiteres Wort wäre mehr angebracht.
Schillers „romantisches Märchen“
Das Drama „Jungfrau von Orleans“ begann Schiller seinen Notizen zufolge am 1. Juli 1800 und beschloß es bereits im April 1801. Es stellte nicht nur einen mutigen Angriff auf Voltaire dar, dessen Schmuddelwerk „LaPucelle“ an den Höfen große Popularität genoß, auf die Aufklärung und den degenerierten Geschmack der Nobilität, es war zugleich eine Verwandlung der seltsamen Themen, die Schlegel, Tieck und Co. auf die Tagesordnung gesetzt hatten.
Eine Statue der Jungfrau von Orleans
Die „Johanna von Orleans“ wird von Schiller „Ein romantisches Märchen“ genannt. Diese Bezeichnung hat mich stets gewundert. In der Tat, das Drama enthält alle Bestandteile aus dem Repertoire der Romantiker: Es spielt im 15. Jahrhundert, das nach ihrer Sicht noch zum Mittelalter gehört, religiöse Berufung spielt eine zentrale Rolle. Es findet sich eine typisch romantische Figur in der Person des unmännlichen Dauphins (Königs), der lieber über längst vergangene Zeiten phantasiert, als den Kampf auf dem Schlachtfeld anzuführen und Frankreich von den Engländern zu befreien, die es zu vernichten drohen.
Es ist faszinierend, wie Schiller den König dessen Ziele beschreiben läßt und dabei die Utopie der Romantiker als Thema aufgreift:
„Das ist ein Scherz, ein heiteres Spiel, ein Fest, Das er sich selbst und seinem Herzen gibt, Sich eine schuldlos reine Welt zu gründen In dieser rauh barbarschen Wirklichkeit. Doch was er Großes, Königliches will – Er will die alten Zeiten wiederbringen, Wo zarte Minne herrschte, wo die Liebe Der Ritter große Heldenherzen hob, Und edle Frauen zu Gerichte saßen, Mit zartem Sinne alles Feine schlichtend. In jenen Zeiten wohnt der heitre Greis, Und wie sie noch in alten Liedern leben, So will er sie, wie eine Himmelstadt, In goldnen Wolken, auf die Erde setzen – Gegründet hat er einen Liebeshof, Wohin die edlen Ritter wollen wallen, Wo keusche Frauen herrlich sollen thronen, Wo reine Minne wiederkehren soll, Und mich hat er erwählt zum Fürst der Liebe.“
Während Karl so in seinen rückwärts gerichteten Phantasien schwelgt, ereignen sich in der realen Welt neue Katastrophen, und die Existenz Frankreichs gerät in existentielle Gefahr.
Aber jetzt greift Johanna in das Geschehen ein, erfüllt von einer beinahe mystischen Ergebenheit in die Aufgabe, die ihr Gott aufgetragen hat: nämlich Frankreich zu retten. Ohne zu zögern übernimmt sie auf völlig potente Weise die Führung der Armee und führt diese von Sieg zu Sieg gegen die Engländer. Als sie jedoch ihren Schwur bricht, nur der göttlichen Liebe zu folgen, aber keine irdische Liebe zu einem Mann zu empfinden, verliert sie vorübergehend ihre innere Stärke. Sie wird unsicher, zweifelt an ihrem Auftrag und wird von den Engländern gefangen genommen.
Als sie das Schicksal Frankreichs erneut von großer Gefahr bedroht sieht, bringt sie eine beinahe übermenschliche Kraft auf, befreit sich und greift erneut entscheidend in die Schlacht ein. Völlig unromantisch, aber dafür auf sehr klassische Weise verdeutlicht Schiller, daß es möglich ist, den göttlichen Willen in den eigenen aufzunehmen und so als Instrument der Weltgeschichte in diese einzugreifen und sie zu verändern.
Auch hier ist das Prinzip der klassischen Komposition verwirklicht, die „Jungfrau“ beginnt mit einer idyllischen Situation, und Johanna folgt in schlichter Weise ihrem Auftrag. Dann geraten ihre Gefühle in Widerspruch zu ihrer Pflicht. Sie durchkämpft den Konflikt, und das Stück endet wiederum mit einer idyllischen Situation, allerdings viel bewußter und auf einer viel höheren Ebene der Freiheit.
Schiller selbst war mit seinem Werk sehr zufrieden. Am 3. April 1801 schreibt er an Goethe:
„Von meinem letzten Akt auguriere ich viel Gutes, er erklärt den ersten… Weil meine Heldin darin auf sich allein steht und im Unglück von den Göttern deseriert ist, so zeigt sich ihre Selbständigkeit und ihr Charakter-Anspruch auf die Prophetenrolle deutlicher.“
Das eben ist die klassische Methode, wenn Freiheit und Notwendigkeit zu einer Einheit werden, dann kann jeder existierende Konflikt überwunden und eine Lösung auf einer höheren Ebene gefunden werden, auf der kein solcher Konflikt mehr existiert.
Heute schlimmer als in den 30er Jahren
Wenn man von diesem Standpunkt unsere heutige Kultur betrachtet, sieht man, daß die moderne Literatur fast ausschließlich romantisch ist, und auch die meisten Filme beschäftigen sich mit der „dunklen Seite der menschlichen Natur“, dem Wahnsinnigen, dem Kriminellen, dem Morbiden. Die Seifenopern und Familienserien sind endlose romantische Geschichten, ohne notwendigen Anfang und unglücklicherweise ohne Ende. Romantisch ist auch das Lebensgefühl der meisten Zeitgenossen, die denken, daß es völlig in Ordnung sei, seine Gefühle ohne Rücksicht auf die Vernunft ungehindert auszuleben; daß jeder das Recht auf „seine eigene Meinung“ habe, ohne Wahrheit und Gerechtigkeit zu berücksichtigen; jeder seine Neurosen ausleben könne und niemand das Recht habe, sich da einzumischen. Man könnte diesen Beispielen noch einige hinzufügen.
Wenn man überlegt, zu welchem Grade die herrschende Finanzoligarchie und ihre Lakaien in der akademischen Welt, im Kulturbetrieb und in den Medien das Bewußtsein über die Identität Europas als in der griechischen Klassik wurzelnd geschwächt, ja beinah ausgemerzt haben, und wie andrerseits fast jeder Lebensbereich von romantischen, d. h. wesentlich krankhaften Merkmalen bestimmt ist, muß man zu dem Schluß kommen, daß wir uns heute in einer wesentlich schlechteren Position befinden als in den 30er Jahren.
Und zwar in zweierlei Hinsicht: vom Standpunkt des Zustandes des globalen Finanzsystems, aber ebenso vom Standpunkt der kulturellen Widerstandsfähigkeit gegen die Gefahr eines neuen Faschismus. Wie viele Menschen sind heute dem Wahnsinn nahe, in dem Sinn, wie ich die Axiome romantischen Denkens beschrieben habe? Wie viele Leute denken, daß es vollkommen in Ordnung ist, das Gesundheitssystem zu privatisieren? Wie viele Leute sind der Meinung, daß Afrika ohnehin nicht gerettet werden könne und es folglich akzeptabel sei, daß die Bevölkerung dort stirbt? Genau das ist faschistisch, und Personen, die so denken, haben das verloren, was sie menschlich macht.
Worin besteht der Ausweg? Nur in dem, was LaRouche betont hat: Nur wenn die Mehrheit der Bevölkerung sehr schnell lernt, wieder klassisch zu denken, kann die Katastrophe abgewandt werden. Und das ist eigentlich nicht so schwierig, denn die Schätze der europäischen Kultur, ja die klassischen Werke der Weltkultur sind alle greifbar. Jeder, der möchte, kann Konfuzius zu Rate ziehen, wie man eine zerstörte Gesellschaft wieder in Ordnung bringt. Es ist einfach, die sokratische Vernunft bei Plato zu studieren. Augustinus kann uns alles Wesentliche über die Dekadenz von Imperien sagen, Nikolaus von Kues bringt uns mit Leichtigkeit auf das Niveau der Concordantia Catholica. Mit Leibniz können wir herausfinden, daß wir in der Tat in der besten aller Welten leben, Lessing und Mendelssohn lehren uns die Gesetze der Schönheit und des ökumenischen Denkens. Bach, Mozart, Beethoven und Schubert erheben unsere Seele und Schiller macht uns frei.
Denken Sie also wie Schiller, handeln Sie wie Johanna und seien Sie sich selbst treu als Mensch!