Weltpoesie: Übersetzung als Völkerverständigung

Den folgenden Vortrag hielt die Autorin auf dem „Festival persischer und deutscher Dichtung“ in Düsseldorf am 20. April und in Wiesbaden am 27. April 2002.


Unter all den furchtbaren Nachrichten, die wir täglich bekommen, gibt es ab und zu auch eine schöne: wie zum Beispiel die, daß Goethes West-Östlicher Divan jetzt erstmals ins Persische übersetzt worden ist. Oder daß das Werk von Mawiana Dschalaladin Rumi, Mathnawi, in die chinesische Sprache übertragen worden ist. Warum sind solche Nachrichten so wichtig?

Der große englische Dichter Percy Bysshe Shelley schrieb in seinem Aufsatz Verteidigung der Poesie, ohne die klassische Dichtung sei eine moralische Gesellschaft gar nicht denkbar. Man könne vielleicht ohne die Werke bestimmter Philosophen auskommen, sagt er, aber es sei absolut unvorstellbar, wie der moralische Zustand der Weit wäre, wenn Homer, Dante, Petrarca oder Shakespeare nicht existiert hätten. Denn nur die Poesie besitzt die Macht, die schöpferischen Fähigkeiten des Menschen zur Entfaltung zu bringen. Nur die Poesie kann den Menschen moralisch „besser machen“, indem sie den Geist weckt und das Herz öffnet für neue, edle Ideen.

Shelleys These ist von der Geschichte voll bestätigt worden: Tatsächlich ist jeder große soziale, wirtschaftliche und moralische Fortschritt der Menschen von eine Blüte der Poesie begleitet oder vorbereitet worden, und zwar nicht beschränkt auf eine Nation oder Sprachkultur, sondern, noch wichtiger, über die Grenzen verschiedenster Kulturen und Zivilisationen und über Jahrtausende hinweg.

Und hier setzt die Bedeutung des Übersetzers ein. Wie sonst hätte man den Beitrag anderer Kulturen kennengelernt, wären die großen Werke nicht übersetzt worden? Unser Symposion hier ist ein gutes Beispiel: Wie könnten wir armen Seelen, die nur deutsch oder englisch verstehen, die Schönheit der Gedanken der persischen Dichter Hafis oder Rumi oder Saadi genießen ohne die mühsame Arbeit des Übersetzers?

Man kann zudem ohne Übertreibung sagen, daß ohne Übersetzungen bestimmter Werke der Universalkultur jene Perioden kultureller Blüte, die wir als Renaissancen kennen, nie stattgefunden hätten. Die islamische Renaissance – sei es in Bagdad unter den Kalifen Harun Al Raschid und Al Mamun, sei es unter den Herrschern im spanischen Andalusien – verdankt vieles den Beiträgen der griechischen Klassik und der Sanskritkultur, die in arabischer Übersetzung zugänglich waren. Es heißt, der Kalif habe wertvolle Bücher dem Überbringer in Gold aufwiegen lassen. Und die Übersetzer gehörten zu den bestbezahlten, angesehensten Mitarbeitern bei Hofe. Diese Werke aus der Antike sind später aus dem Arabischen ins Lateinische übertragen worden. Diese lateinischen Übersetzungen erweckten bei den italienischen Humanisten den Geschmack am Studium der Klassik, so daß sie die griechische Sprache lernten, um die Schriften im Original lesen zu können.

Im 15. Jahrhundert wurden die poetischen Werke der Italiener – von Dante und Petrarca bis Poliziano und Machiavelli – nach England gebracht und ins Englische übersetzt. Ohne diese Geschenke aus Florenz wäre die Tudor-Renaissance, wären Denker wie Thomas Morus oder Dichter wie Marlowe und Shakespeare unvorstellbar. In Deutschland hat Wielands großartige Übersetzungsarbeit den Schatz des englischen Nationaldichters Shakespeare in die deutschsprachige Welt eingeführt. Shakespeares prägender Einfluß auf die deutsche Klassik, von Lessing bis Goethe und Schiller (der selber Macbeth übersetzt hat), ist wohlbekannt.

Deutschland ist gewiß das Land der Dichter und Denker, aber es ist auch Land der Philologen und Übersetzer. Kein anderes Land hat meines Wissens so viele begabte Sprachwissenschaftler hervorgebracht, die die Schätze anderer Sprachkulturen in die eigene Kultur eingebracht haben. Wenn man die Geschichte der großen Entzifferungen verlorengegangener Sprachen und Schriften der Antike – wie etwa der altpersischen Keilschrift – durchblättert, trifft man immer wieder auf Namen von Gelehrten, deutsche oder nichtdeutsche, die in Göttingen und Berlin Philologie studiert hatten. Selbst die Entdeckung der Verwandtschaft der sogenannten indogermanischen Sprachfamilie und der Gesetzmäßigkeiten dieser Verwandtschaft ist deutschen Philologen wie Bopp, Werner, Grimm und Humboldt zu verdanken.

Wenn wir nach der poetischen Tradition des Orients forschen, stellen wir auch hier fest: Es waren vor allem eine Reihe deutscher Philologen und Dichter, die den Wert der orientalischen Dichtung, vor allem der aus Persien, richtig einzuschätzen wußten. Man denkt sofort an Goethe, aber es war der Philologe und Diplomat Josef von Hammer-Purgstall, tätig an der hohen Pforte, der 1812/1813 die erste deutsche Hafis-Übersetzung besorgte. Es war diese Übersetzung, die Goethe 1814 zu lesen bekam und die ihn zu seinem 1818 erschienenen West-Östlichen Divan inspirierte. Im selben Jahr veröffentlichte Hammer-Purgstall die Geschichte der schönen Redekünste Persiens, die erste umfassende Darstellung dieses Themas. Hammer-Purgstalls Beitrag war bahnbrechend, denn er war der erste, der Hafis deutschen Lesern zugänglich machte.

Aber erst Friedrich Rückert (1788–1866) gelang es, Hafis‘ Dichtkunst im Deutschen zu reproduzieren.

Rückert begann nach erstem klassischen Sprachunterricht in seiner Vaterstadt Schweinfurt 1818 sein Studium orientalistischer Sprachen in Wien, wo er auch bei Prof. Hammer-Purgstall studierte. In Rekordzeit erlernte dieses Sprachgenie Türkisch, Persisch und Arabisch, und nach der Rückkehr in die Heimat widmete er sein Leben dem eignen Dichten und dem Übersetzen von Poesie aus 40 Sprachen, vor allem Persisch, Arabisch und den indischen Sprachen.

Dank seiner außerordentlich umfangreichen und profunden Kenntnis der orientalischen Sprachen und Kultur gelangen Rückert Übersetzungen, die nicht nur genauestens den Ideengehalt vermitteln, sondern im Deutschen auch die poetische Form der Originale widerspiegeln und wie „deutsche Gedichte“ klingen.

Aus dem Arabischen übersetzte er mehrere große Werke, u. a. die Hamasa, Mu’allaqat und Imru’I-qais. Seine Übersetzung der meisterlichen arabischen Makamen des Abu Mohammed al-Kasim ibn Ali al-Hariri (1054–1122) gilt als ebenso schön wie das Original.

Von den mehr als 100.000 Versen, die Rückert übersetzte, sind die aus dem Persischen – seiner Lieblingssprache – die berühmtesten. 1821 veröffentlichte er die erste Sammlung von 44 Ghaselen von Maulana Dschalaladin Rumi, worin er erstmals die Ghaselenform im Deutschen benutzte. Durch dieses Werk wurde sie zu einer deutschen Dichtungsform. Rückert war sich seiner Leistung bewußt. In Die Form des Ghasels schreibt er:

Die neue Form, die ich zuerst in diesem Garten pflanze,

O Deutschland, wird nicht übel stehn in deinem reichen Kranze.

Nach meinem Vorgang mag sich nun mit Glück versuchen mancher

So gut im persischen Ghasel, wie sonst in welcher Stanze.

Hier nur ein Beispiel aus der ersten Rumi-Sammlung, das zeigt, wie meisterlich er diese dem Deutschen bisher völlig fremde Form übersetzen kann.

Klage nicht, daß du in Fesseln seist geschlagen,

Klage nicht, daß du der Erde Joch mußt tragen.

Klage nicht, die weite Welt sei ein Gefängnis;

Zum Gefängnis machen sie nur deine Klagen.

Frage nicht, wie sich dies Rätsel wird entfalten;

Schön entfalten wird sich’s ohne deine Fragen.

Sage nicht, die Liebe habe dich verlassen;

Wen hat Liebe je verlassen? Kannst du’s sagen?

Zage nicht, wenn dich der grimme Tod will schrecken;

Er erliegt dem, der ihn antritt ohne Zagen.

Jage nicht das flücht’ge Reh des Weltgenusses;

Denn es wird ein Leu und wird den Jäger jagen.

Schlage nicht dich selbst in Fesseln, Herz, so wirst du

Klagen nicht, daß du in Fesseln seist geschlagen.

Rückert übersetzte 27 weitere Ghaselen Rumis und auch 80 Ghaselen und 30 Vierzeiler aus dem Divan von Hafis, die posthum erschienen. Besonders faszinierte Rückert an Hafis‘ Dichtung die Paradoxie und Ambiguität seiner Metaphern. Er sagte:

Hafis, wo er scheinet Übersinnliches

nur zu reden, redet er über Sinnliches.

oder redet er, wenn über Sinnliches

er zu reden scheint, nur Übersinnliches?

Sein Geheimnis ist übersinnlich;

Denn sein Sinnliches ist übersinnlich.

Hafis war zweifellos Rückerts Lieblingsdichter, dessen Werke er bis zum letzten Tag seines Lebens las, aber Rückert hielt die gesamte persische Poesie für hervorragend und übertrug mehrere umfangreiche Werke ins Deutsche. Er machte sich sogar an die gewaltige Aufgabe einer Übersetzung des persischen Versepos‘ Schahname von Firdausi. 1838 erschien die freie Nachdichtung Rostem und Suhrab in zwölf Büchern.

Anschließend beschäftigte er sich mit einem anderen der ganz großen persischen Dichter, Sa’adi. Er übersetze dessen Ghaselen und Qasiden sowie längere Werke. Aus dem noch unveröffentlichten Nachlaß zu schließen, arbeitete er auch an den Versepen von Nizami.

Zwischen 1846 und 1852 erschienen einige Ghaselen und Fragmente des Dichters Dschami und danach seine Übersetzung und Kommentar zum 7. Buch des Haft Gulzum, eines indo-persischen Werks über Metrik und Rhetorik.

Die Beschäftigung mit der persischen Poesie beflügelte Rückert zur Komposition zahlreicher wunderschöner eigener deutscher Gedichte, die er als Östliche Rosen oder Liebesfrühling u. a. veröffentlichte.

Wenn die persische Poesie hier in Deutschland geliebt und geschätzt wird, dann haben wir das Rückert zu verdanken. Und dies gilt nicht nur für die Poesie Persiens.

Für Rückert lag keine Kultur zu weit in der Vergangenheit oder zu weit entfernt auf dem Erdball; mit jeder konnte er in einen Dialog treten. Er war überzeugt von der Einheit des menschlichen Geistes und wollte immer neue Sprachkulturen kennenlernen, um diese „Einheit in der Vielfalt“ zu erleben. Seine geistige Wanderschaft führte ihn auch nach Indien und China. Im Jahre 1820 vertiefte er sich ganz allein, ohne Lehrer und nur mit primitiven Hilfsmitteln in die Literatur des Sanskrit. Acht Jahre später übersetzte er das Sanskrit-Epos Mahabharata. Danach erforschte er die lyrische Dichtung Indiens sowie die Sprüche. 1831 übertrug er 38 Sanskritsche Liebesliedchen aus dem Amarusataka. Er beschäftigte sich damals auch mit der Bagavadghita, nach Wilhelm von Humboldt das „schönste, ja vielleicht einzige wahrhaft philosophische Gedicht, das alle uns bekannten Literaturen aufzuweisen haben“. Aus Rückerts Nachlaß ist ersichtlich, daß er sich auch mit der Übersetzung der Rigveda, der Samaveda und anderer Werke, wie der Dramen Kalidasas, beschäfigte. Aus dieser intensiven Beschäftigung mit dem Sanskrit entstanden Rückerts Gedichte Die Weisheit des Brahmanen.

Unter den 40 Sprachen, die Rückert beherrschte, war auch Chinesisch, und 1883 erschien sein Schi-King, Chinesisches Liederbuch, dem Deutschen angeeignet. Es enthält die Lehre des Konfuzius in poetischer Form.

Rückert hat sein ganzes langes Leben dieser Übersetzungsarbeit leidenschaftlich gewidmet, weil er entschlossen war, die fundamentale Einheit des Menschen durch die Poesie zu beweisen und zu bekräftigen. Sein Glaube war: „Weltpoesie allein ist Weltversöhnung“. Was meinte er damit? Das Sprachgenie Rückert wußte aus eigener Erfahrung mit 40 Sprachen:

Die Poesie in allen ihren Zungen

Ist dem Geweihten Eine Sprache nur.

Die Poesie war für ihn die „Muttersprache des Menschengeschlechts“. Er schrieb:

Meine Gedichte, die neusten, sie sind Übersetzungen ähnlich,

Nicht des bewegten Gemütes ein unwillkürlicher Ausbruch,

Sondern Suchen und Tasten, die innere Sprache des Denkens

In die gesprochene Sprach‘ auf schickliche Weise zu wandeln.

Die innere Sprache des Denkens ist das, was den Menschen unter allen anderen Lebewesen auszeichnet, und ihre schöpferische Qualität ist im Prinzip bei allen Menschen aller Zeiten, aller Kulturen und aller Erdteile gleich. Diese „innere Sprache“ in die jeweils gesprochene „auf schickliche Weise“ zu verwandeln, das ist Poesie, das ist die „Muttersprache des Menschengeschlechts“. Denn nur wenn wir die „innere Sprache“ des schöpferischen Denkens, die allen Menschen gemein ist, in immer neuen und veränderten Formen poetischer, „gesprochener Sprache“ entdecken, nur dann verstehen wir andere Zeiten und Kulturen wirklich: „Weltpoesie allein ist Weltversöhnung!“((So schreibt Rückert in dem Vorspiel zum Schi-King (Chinesisches Liederbuch) über Die Geister der Dichter, die durch seine Arbeit befreit werden. In dem Vorspiel schreibt er:

Ich fühle, daß der Geist des Herrn,

Der redet in verschiedene Zungen,

Hat Völker, Zeiten, nah und fern,

Durchhaucht, durchleuchtet und durchsungen,

Ob etwas herber oder reifer,

Ob etwas reicher oder steifer –

Ihr seid Gewächs aus einen Kern

Für meinen Liebeseifer…

Und

Doch was manch Lied entwickelt, wie

Sollt‘ ich’s auf einmal vor euch offen hie,

Und wer hineinschaut, mag sich spiegeln.

Mög‘ euch die schmeichelnde Gewöhnung

Befreunden auch mit fremder Tönung,

Das ihr erkennt: WeltPoesie

Allein ist Weltversöhnung.

))

Deswegen lernte Rückert immer wieder neue Sprachen, um die dadurch entdeckten poetischen Schätze sofort durch Übersetzungen weiterzugehen. Und gleichzeitig, blieb er sein ganzes Leben lang ein „unverbesserlicher“ Dichter, der es nun einmal nicht lassen konnte, die „innere Sprache des Denkens“ nach außen dringen zu lassen. Eines seiner letzten Gedichte war dieses:

Mußt Du denn immer dichten?

Sie sagen bei jedem neuen Lied:

Mußt du denn immer dichten?

Ich sage: Denkt an euer Gebiet!

Müßt ihr nicht immer denken?

Sie sagen: es ist ein Unterschied

Zwischen denken und dichten.

Ich sage: Für mich, mitnichten:

Ich denke nie ohne zu dichten,

Und dichte nie ohne zu denken.

Es ist erfreulich, daß Rückerts Meisterwerk eine Fortsetzung gefunden hat, und zwar durch die Orientalistin Frau Prof. Anne-Marie Schimmel, die vor kurzem ihren 80. Geburtstag feierte. Sie hat nicht nur Rückerts Werk erläutert, sondern, ebenfalls ein Sprachegenie, über hundert Bücher veröffentlicht, darunter zahlreiche Übersetzungen aus verschiedenen Sprachkulturen der islamischen Welt, und dadurch einen weiteren ungeheuer wichtigen Beitrag zur Verständigung der Völker geleistet.