Der folgende Artikel basiert auf einem Vortrag, den EIR-Korrespondent William Jones im „fireside chat“ der LaRouche-Organisation am 14. September 2023 gehalten hat. (Er ist auf der Internetseite der Organisation abrufbar.)
Ich möchte mit einer kurzen persönlichen Anekdote beginnen. In den 1970er Jahren lebte ich als 20-Jähriger in Schweden, und es war einer der großen Träume von mir und meiner Freundin, einmal mit der Transsibirischen Eisenbahn von Moskau nach Wladiwostok zu fahren. Die Fahrt würde sieben Tage und acht Nächte dauern. Während der Reise müßte man seine Uhr elfmal umstellen. Natürlich macht das niemand wirklich. Normalerweise stellt man seine Uhr, ausgehend von der ursprünglichen Moskauer Zeit, einfach elf Stunden vor.
Man hat es also bei Sibirien mit einem riesigen Gebiet zu tun, das ungeheuer reichhaltig ist. Dies war schon immer der Grund für die große Bedeutung Rußlands, noch bevor es zu einer Industriemacht wurde, und erst seit dem frühen 20. Jahrhundert wurden Schritte zu seiner Erschließung unternommen.
Die Entwicklung Rußlands begann bereits mit der Arbeit von Leibniz, der die Geographie der gesamten Region zumindest in groben Zügen verstand. Damals war noch niemand wirklich an vielen dieser Orte gewesen, so daß nicht genau bekannt war, wo die Grenzen verliefen oder wie es dort aussah. Aber man war sich einig, daß hier extrem Wichtiges zu entdecken war.
Leibniz‘ Rat an Peter den Großen, der in gewissem Sinne der erste russische Wissenschaftler war, bestand nicht darin, erst einmal Chemie zu studieren oder im Labor zu arbeiten, sondern darin, daß er das Gebiet, das er regierte, verstehen müßte in dem Sinn, welche Ressourcen dort zu finden wären und welche Möglichkeiten sich daraus für die Zukunft seines Landes ergäben. Peter der Große wurde von Leibniz genau dafür begeistert. Leibniz erkannte die Bedeutung dieser Frage nicht nur für Rußland, sondern für die ganze Welt. Er sprach alle möglichen Empfehlungen aus und stand in direkter Korrespondenz mit dem Zaren über diese wichtigen Fragen.
Ein bedeutender Wendepunkt war, daß es dann in den 1880er Jahren möglich war, in den Fernen Osten Rußlands reisen zu können. In den USA gab es bereits die Transkontinentale Eisenbahn, die damals längste Eisenbahnlinie, die je gebaut worden war. Sie durchquerte den amerikanischen Kontinent, der ebenfalls groß, allerdings nicht ganz so groß wie Rußland war. Dadurch, daß man von einem Ende des Landes zum anderen reisen konnte, entstand in gewisser Weise erst die Souveränität der Nation und ermöglichte die Entwicklung dieser Regionen, vor allem im äußersten, aber auch im Mittleren Westen. Es entstand die Grundlage für die Ansiedlung von Menschen, die Städte gründeten und wissenschaftliche Arbeit leisteten. Die Erschließung des Westens der Vereinigten Staaten hatte auch – viele denken, es ging dabei nur um den Kampf gegen die Indianer – ein wissenschaftliches Element. Die Wissenschaft der Mineralogie und Geologie ist größtenteils das Ergebnis jener Zeit um 1800, in der viele Forscher mit der Kavallerie oder den Siedlern mitzogen, um im Bergbau die geologischen Gegebenheiten des Landes zu erforschen. Dadurch entstand erstes Wissen darüber, wie die Welt aufgebaut war. Vieles davon spielte auch in die späteren russischen Arbeiten der Geologie und Geochemie hinein.
So wurde die Transkontinentale Eisenbahn in den Vereinigten Staaten zum Modell, das der russische Finanzminister Sergej Witte in den 1890er Jahren benutzte, um eine Eisenbahn von Moskau nach Wladiwostok zu bauen, die den gesamten Kontinent zusammenführen sollte. Zwei Dinge sollten dadurch erreicht werden: Man würde Zugang zu den Ressourcen erhalten, die in dieser riesigen Region erst noch entdeckt werden mußten. Zweitens würde auch die Möglichkeit entstehen, selbst nach Osten zu expandieren und Siedler ins Land zu holen, ähnlich wie US-Präsident Lincoln es mit dem Homestead Act tat: Er bot denjenigen, die sich in dieser Gegend niederlassen und eine Farm bewirtschaften wollten, kostenloses Land an.
In Rußland war das natürlich viel schwieriger als im Westen der USA, denn das Klima ist im Fernen Osten extrem, besonders im Winter. Es herrschen dort teilweise Temperaturen von unter –25 Grad Celsius und weniger. Der Eisenbahnbau ist nicht einfach, und ein großer Teil dieses Gebiets konnte ohne den Zuzug von Menschen in die Region nicht erschlossen werden.
Der Bau der Transsibirischen Eisenbahn schuf aber die Grundlage dafür, daß sowohl Menschen als auch Material in die sibirischen Gebiete gebracht werden konnten und von dort wegkamen, um die reichen Ressourcen des sibirisch-russischen Fernen Ostens zu nutzen und die Bevölkerung, die größtenteils im westlichen Teil Rußlands lebte, davon profitieren zu lassen.
Dies war auch ein Versuch – ähnlich wie das, was Putin heute vorschlägt –, einen Handelskorridor zwischen Europa und Asien zu schaffen. Für die wachsende Bevölkerung in Asien bedeutete das damals eine enorme Chance für erweiterte Absatzmärkte. So konnten Waren sowohl von Ost nach West als auch umgekehrt transportiert werden, wobei Rußland das Transitland wäre. Die Eisenbahn hatte also eine enorme wirtschaftliche Funktion für Rußland, zusätzlich zu dem, was Rußland selbst produzieren würde, um es auf den asiatischen Märkten zu verkaufen.
Der russische Projektleiter Graf Sergei Juljewitsch Witte hatte für das Bauprojekt damals die Unterstützung der Vereinigten Staaten, die in den 1880er, 1890er Jahren auch sehr an einer Ausweitung des Handels in den Fernen Osten interessiert waren. Daher unterstützten sie diesen Plan, der für sie selbst von Vorteil sein würde. Die Regierung von US-Präsident McKinley investierte in die Eisenbahn und arbeitete direkt mit Graf Witte zusammen.
Es gab auch eine direkte Zusammenarbeit mit dem damaligen Kaiserreich China, so ähnlich wie es bei den Projekten der Fall ist, die die russische Regierung heute vorschlägt. Witte hatte eine Vereinbarung mit der chinesischen Regierung getroffen, wonach Rußland den letzten chinesischen Abschnitt der Eisenbahnlinie, die durch russisches Territorium hätte verlaufen können, von China pachtete. Er plante, bestimmte Flächen im nordöstlichen Teil Chinas, der Mandschurei (der heutigen Provinz Heilongjiang) zu pachten und die Eisenbahnstrecke durch die Mandschurei laufen zu lassen, um die Entwicklung Chinas zu fördern, aber auch, um die Eisenbahn direkt an die Märkte in der Küstenregion Chinas, nach Japan und auch an andere Länder Asiens anzubinden.
Dieser Abschnitt der ursprünglichen Transsibirischen Eisenbahn wurde „Ostchinesische Eisenbahn“ genannt und war die erste große Eisenbahnlinie in China. Entlang der Strecke entstanden große Städte, die heute noch existieren. Insbesondere Harbin, die wichtigste Stadt in Heilongjiang, wurde zu diesem Zeitpunkt erbaut. Man kann dort noch heute viel russische Architektur finden.
Auf diese Weise wäre der Anschluß an den Handel mit Amerika möglich gewesen, der über den Pazifik in den östlichen Teil Chinas und nach Japan führte. Doch dieses Projekt wurde nicht realisiert, weil die Briten die Japaner aufwiegelten, weil sie aus eigenen Machtinteressen über die russischen Absichten und die engen Verbindungen zu China besorgt waren. Also zettelten die Japaner zunächst einen Krieg mit den Chinesen an, den Chinesisch-Japanischen Krieg von 1894, und dann zehn Jahre später den Russisch-Japanischen Krieg von 1904–05, in dem die russische Marine zerstört wurde. Die Japaner gewannen diesen Krieg, wodurch alle Möglichkeiten durchkreuzt wurden, die sich durch das Witte-Projekt eröffnet hätten. Die Japaner übernahmen wenig später einfach den größten Teil der Mandschurei, was zum zweiten chinesisch-japanischen Krieg im Jahr 1937 führte.
Auch in den Vereinigten Staaten wurde der britische Faktor nach der Ermordung McKinleys immer dominanter, und deshalb unternahm die amerikanische Regierung nichts, um das japanische Vorgehen zu stoppen. Tatsächlich versuchte Teddy Roosevelt, „einen Frieden zwischen Rußland und Japan zu vermitteln“, aber zur Enttäuschung von Witte, der immer noch Finanzminister und Chefunterhändler bei diesen Vertragsverhandlungen war, wurden Japan dabei viele Zugeständnisse gemacht.
Der Schatz Rußlands
Danach gab immer wieder Versuche, den Reichtum Sibiriens, den Schatz Rußlands, zu heben. In der Sowjetzeit, als die Transsibirische Eisenbahn bereits fertig gestellt war, wurde die Baikal-Amur-Magistrale direkt nördlich der Transsibirischen gebaut, etwas weiter von der chinesischen Grenze entfernt. Während der sogenannten chinesisch-sowjetischen Spaltung und den Spannungen zwischen Chruschtschow und Mao Tse-tung waren die Sowjets der Meinung, die Eisenbahn solle nicht so nahe an der chinesischen Grenze verlaufen, wie es damals noch der Fall war.
Heute gibt es somit zwei parallele Eisenbahnlinien, 500 bis 1000 Kilometer voneinander entfernt, die von Ost nach West in die sibirische Region führen. Das kann nur von Vorteil sein, denn es bedeutet, daß mehr Verkehr hin und her fließen kann, sofern es eine Politik gibt, die das fördert.
In diesem Zusammenhang möchte ich erwähnen, daß Lyndon LaRouche 1994 zum ersten Mal Moskau besucht hat, wo er auf einer Pressekonferenz der Russischen Akademie der Wissenschaften sprach und mit führenden Wissenschaftlern geredet hat. Bei seinem zweiten Besuch im Jahr 2000 bezeichnete er den russischen Vorstoß nach Sibirien als „rettende Gnade“ für Rußland nach der harten Zeit des Zusammenbruchs der Sowjetunion. 1994 gab es während der Clinton-Regierung die Zeit der sogenannten „Flitterwochen“ zwischen Rußland und den Vereinigten Staaten. Aufgrund des engen freundschaftlichen Verhältnisses zwischen Jelzin und Clinton schienen viele Beobachter damals davon auszugehen, daß dieses Projekt ein gemeinsames Anliegen sein könnte. Leider akzeptierte die Clinton-Regierung die Politik von LaRouche nicht. Es gab zwar Kontakte zwischen LaRouche und der amerikanischen Regierung, aber letztlich orientierte man sich an der radikalen Umweltpolitik von Al Gore, der dann in der Rußlandpolitik das Sagen hatte. Dem folgten zehn Jahre einer zerstörerischen kapitalistischen Entwicklung in Rußland, in der die Oligarchen freies Spiel hatten und begannen, Rußland auszuplündern.
In dieser Zeit gab es keinerlei Initiativen, Sibirien zu entwickeln, keine konzertierten Bemühungen und während der Jelzin-Jahre schon gar nicht. Als Putin an die Macht kam, begann er zunächst mit dem Wiederaufbau des russischen Staates, und das Sibirien-Projekt wurde verschoben. Erst in den letzten zehn Jahren stand es wieder auf der Tagesordnung.
In seiner Rede auf dem 8. Östlichen Wirtschaftsforum in Wladiwostok am 13. September 2023 machte Präsident Wladimir Putin nun unmißverständlich klar, daß Rußland einen umfassenden Plan zur Erschließung der enormen wirtschaftlichen und natürlichen Ressourcen in dem riesigen sibirischen Gebiet verfolgt. Er begann seine Ausführungen mit den Worten: „Eines ist klar, der Ferne Osten ist Rußlands strategische Priorität für das gesamte 21. Jahrhundert, und daran werden wir festhalten.“
Dazu gehört die Modernisierung beider großen Eisenbahnstrecken und eventuell sogar der Bau neuer Eisenbahnen. Noch wichtiger ist, daß Putin das tat, was auch Sergej Witte verstanden hatte: Aufgrund der enormen Herausforderungen in der Region muß ein Großteil der Entwicklung subventioniert werden. Wenn man will, daß sich Menschen dort ansiedeln, muß ihr Leben dort komfortabel und billiger sein als im westlichen Teil Rußlands. Deshalb hat Rußland jetzt Pläne entwickelt, um Interessenten Land kostenlos zur Verfügung zu stellen, nicht im gleichen Umfang wie damals unter Graf Witte, der sie dafür vergab, um Bauernhöfe oder Gehöfte zu errichten, sondern um Unternehmen anzusiedeln.
Ein weiterer Schwerpunkt liegt auf der Entwicklung von Städten. Anadyr zum Beispiel liegt ganz im Nordosten Rußlands an der Beringstraße in unmittelbarer Nachbarschaft zu Amerika. Weiter entlang der Küste gelangt man nach Magadan und anderen Küstenstädten, die jetzt saniert werden. Es soll eine Infrastruktur für Menschen entstehen, die sich dort niederlassen wollen, um Unternehmen zu gründen oder Universitäten zu besuchen. In Orten wie Jakutsk in der Provinz Jakutien im äußersten Osten Rußlands gibt es intensive wissenschaftliche Forschungen und andere Aktivitäten.
Im Fernen Osten liegen Rußlands Reichtümer und die ein Geschenk für die Welt sein werden. Sibirien und der Ferne Osten haben ein ungeheuer vielfältiges Territorium: Berge, Steppen, Wüsten. Ein Großteil davon gilt als Permafrost, also jahresübergreifend gefrorener Boden. In den tieferen Erdschichten befindet sich dort fast jedes Element des Periodensystems.
Der Russe Dimitri Mendelejew (1834–1907), der das Periodensystem entwickelt hat, war kein Lehnstuhl-Wissenschaftler; er war ein großer Redner und Universitätsdozent. Als er aus politischen Gründen von der Universität verwiesen wurde, begab er sich in den östlichen Teil des Urals, um nach einigen dieser Elemente zu suchen. Nicht, daß er bestimmte Elemente entdeckt hätte, aber er hat sie zum ersten Mal systematisch zusammengestellt.
Unter dem Tundraboden gibt es alle diese Elemente: Chrom, Kobalt, Eisen, Mangan, Wolfram, Nickel, Molybdän, Kupfer, Blei, Zink, Zinn, Quecksilber, Gold, Antimon, Uran, Silber, Platin, Asbest, Diamanten, Fluor, Glimmer, Phosphat, Schwefel und Kohle. Diese Ressourcen könnten einer der wichtigsten Beiträge, wenn nicht sogar der wichtigste Beitrag Rußlands zur globalen Entwicklung im asiatisch-pazifischen Raum und in anderen Teilen der Welt sein – ein Transmissionsriemen für die Rohstoffe, die die Länder in Asien, Afrika und Lateinamerika für ihre Entwicklung benötigen. Das ist es, was die Entwicklung der Welt und die Entwicklung Rußlands voranbringen wird – trotz des enormen Drucks, der vom Westen gegen Rußland ausgeübt wird.
Infrastruktur ist der Schlüssel
Das ist eine große Aufgabe, wobei die Infrastruktur das Wichtigste ist. Das Gebiet westlich des Urals ist, gemessen an der Gesamtfläche Rußlands, ein sehr kleines Gebiet, während der östliche Teil riesig ist. Jenseits des Urals leben in den 11 Zeitzonen lediglich 12 Millionen Menschen. Rußland selbst hat 146 Millionen Einwohner. In dem, was man das europäische Rußland oder Westrußland nennt, ist die Bevölkerungsdichte groß. Eine der Aufgaben, die es zu bewältigen gibt, besteht somit darin, Menschen in der Region östlich des Urals anzusiedeln.
Putin ist sich darüber im Klaren, daß es nicht unbedingt eine massenhafte Migration geben wird. Es müssen vor allem auch Maßnahmen zur Steigerung der Produktivität ergriffen werden, d. h. viele Arbeiten sollten ohne den Einsatz von Menschen erledigt werden. Das betrifft vor allem den Bergbau, aber auch andere damit zusammenhängende Bereiche. Der Einsatz von Robotern wird also eine wichtige Rolle spielen, um nicht davon abhängig zu sein, wie viele Menschen vor Ort tätig sind. Es wird Vorstöße in diese Richtung geben.
All das geschieht in Zusammenarbeit mit China. Vertreter Chinas waren auch auf dem Östlichen Wirtschaftsforum anwesend, darunter ein wichtiges Politbüromitglied, Zhang Guoqing, früherer Chef eines großen Rüstungsunternehmens in China. Dabei geht es vor allem um Öl und Gas, von dessen Verkauf Rußland in den letzten Jahrzehnten den Staatshaushalt hauptsächlich finanziert hat, aber seine wissenschaftlichen Fähigkeiten auf diesem Gebiet und vielen anderen Gebieten inzwischen ausgebaut hat. Das wird sich jetzt in großem Stil fortsetzen müssen, denn die wirtschaftliche Entwicklung des asiatisch-pazifischen Raums wird immer dringlicher.
China ist der Nutznießer dieser Entwicklung, und es arbeitet auch aktiv daran mit. Im russischen Fernen Osten gibt es viele Öl- und Gasvorkommen; es gibt Pipelines – „Power of Siberia“ 1 und 2 –, die bereits von Sibirien aus nach China verlaufen.
Auch die Frage des Getreides spielt eine große Rolle. Der Ferne Osten ist von Landwirtschaft geprägt, die trotz der schwierigen Wintertemperaturen regelmäßige Erntezeiten ermöglicht. Außerdem wird im Grenzland zwischen China und Rußland ein großer Getreidespeicher gebaut.
Städte, die Putin als wichtig für diese Entwicklung bezeichnet hat, liegen ebenfalls an der Grenze zwischen China und Rußland: Chabarowsk, Birobidschan und Blagoweschtschensk. Auf der anderen Seite findet man die chinesische Stadt Heihe mit wahrscheinlich mehreren Millionen Einwohnern.
Auf der chinesischen Seite leben sehr viel mehr Menschen als auf der russischen Seite, weswegen das Marktpotential hier groß ist. Heihe und Blagoweschtschensk wurden erst vor ein paar Jahren durch eine Brücke miteinander verbunden. Es gibt viel Handel, und viele chinesische Besucher kommen nach Rußland. Ich bin mir sicher, daß auch chinesische Arbeiter auf der russischen Seite der Grenze eingesetzt werden, denn Putin hat angedeutet, daß er aufgrund der Schrumpfung der russischen Bevölkerung so viel wie möglich auf Gastarbeiter zurückgreifen will.
Das Interesse Chinas an der Entwicklung der Region ist groß. Die Tatsache, daß Xi Jinping vor kurzem in die Provinz Heilongjiang, die frühere Mandschurei, gereist ist, und sich bei der örtlichen Führung für die Errichtung moderner Produktionsstätten eingesetzt hat, ist ein Zeichen dafür. Vieles muß getan werden, um die Region zu einem Industriezentrum zu machen.
Tatsächlich wurde die gesamte Region schon in der Zeit vor der Gründung der Volksrepublik China durch den Bau der Eisenbahnstrecke mit Hilfe Rußlands entwickelt. Es wurden Fabriken errichtet, um Schienen und alles, was die Eisenbahn benötigte, zu produzieren, so daß die Region bereits in den 1890er Jahren ein bedeutendes Industriezentrum war.
In den 1950er Jahren hatte die Provinz auch für die Volksrepublik Bedeutung. Ein Großteil der Hilfe, die die Sowjetunion den Chinesen damals gewährte, ging in die Provinz Heilongjiang. Nach den Entwicklungen des sogenannten Großen Sprungs nach vorn und der Kulturrevolution verfiel die Gegend – ganz ähnlich wie der US-Staat Pennsylvania – zu einer Rostlaube. Erst seitdem Xi Jinping die Macht übernahm, gab es wieder Bemühungen, diese Region wiederzubeleben, die sowohl für die Industrie als auch für die Landwirtschaft wichtig ist. Die schwarze, fruchtbare Erde von Heilongjiang ähnelt den Böden, wie man sie in der Ukraine findet.
Es gibt also klare Signale von chinesischer Seite, daß man bereit ist zu handeln. In Heilongjiang sollen neue Industrie-Cluster entstehen, und den Menschen wurde gesagt, sie sollten diese strategischen Vorteile nutzen, die sich aus den russischen Plänen für die Entwicklung des Fernen Ostens ergeben.
Ein weiterer interessanter Aspekt des Reise Putins nach Fernost war sein Besuch des Kosmodroms Wostotschny, wo er den nordkoreanischen Staatschef Kim Jong-Un traf. Dieses isolierte Land ist keineswegs mehr isoliert, sondern Teil der gesamten Entwicklung des Fernen Ostens. Natürlich ist Kim Jong-Un an Raketen interessiert, aber ebenso an der Entwicklung von Satelliten und der Raumfahrt.
Ich glaube, einige Menschen in Rußland waren enttäuscht darüber, daß die russische Mondmission Luna 25 nicht erfolgreich war. Doch niemand betrachtet dies als Fehlschlag, denn die Sonde war schon fast am Ziel, als es eine Panne in letzter Minute gab, wie das oft auch früher beim amerikanischen Raumfahrtprogramm der Fall war. Man wird in Rußland wieder an die Arbeit gehen und das nächste Projekt, Luna 26, ist in Vorbereitung. Soviel ich weiß, wurde auch niemand wegen des Fehlschlags entlassen. Der Chef der russischen Raumfahrtbehörde Roscosmos ist immer noch derselbe. Man war sich einig, daß der Weltraum ein schwieriger Ort ist und daß es daher Pannen oder Teilausfälle geben könne.
Es hatte ja auch eine ganze Weile gedauert, bis das Kosmodrom Wostotschny tatsächlich einsatzbereit war. Rußland brauchte einen neuen Weltraumbahnhof, da der bisherige in Kasachstan nicht mehr den technologischen Erfordernissen entsprach, und Kasachstan nicht mehr zur UdSSR gehörte. Das Wostotschny-Projekt war von Anfang an auch als Symbol dafür gedacht – und das ist mehr als zehn Jahre her –, daß in der fernöstlichen Region ein Zentrum der Wissenschaft und der Luft- und Raumfahrt entstehen sollte. Genau das ist es jetzt geworden. Mit der geplanten Mondforschungsstation, die Rußland und China gemeinsam bauen wollen, wird das Kosmodrom eine noch wichtigere Rolle spielen.
Weltweite Auswirkungen
Unabhängig davon, wie die Länder des asiatisch-pazifischen oder indopazifischen Raumes auf diese Entwicklung reagieren werden, Rußlands Entschluß steht fest: „Wenn ihr im Westen weiter versucht, gegen uns vorzugehen, werden wir uns nach Osten wenden. Unsere Zukunft liegt im Osten, und diese Zukunft sieht verheißungsvoll aus, weil wir den Menschen etwas bieten können.“ Und zu dieser neuen Weltordnung gehören nicht nur China und Rußland, sondern auch Länder in Afrika und Lateinamerika.
In einem seiner Kommentare auf dem Östlichen Wirtschaftsforum sagte Putin, er sei sehr überrascht und erfreut darüber, wie sehr die afrikanischen Nationen während der BRICS-Konferenz ihre Wertschätzung für Rußland gezeigt hätten. Vieles davon wird ihnen zum Vorteil gereichen, denn Entwicklung ist ein zentraler Bestandteil der Bemühungen des Globalen Südens und der BRICS, in der Rußland und China wichtige Mitglieder sind.
Die Ironie der ganzen Sache ist, daß das Projekt Fernost bereits in den 1990er hätte begonnen werden können. Aber die 1990er Jahre waren schwierig, und es dauerte seine Zeit, bis man sich von den Geldsäcken der westlichen kapitalistischen Welt befreit hatte. Dies geschah gerade zu einem Zeitpunkt, als der Westen davon überzeugt war, er könne zu seinem Vorteil Rußland isolieren. Doch gerade aufgrund dieser drohenden Isolation war man in Rußland entschlossen, sich noch schneller in Richtung Osten zu bewegen. Und genau das ist es, was wir heute sehen.
Das ist die Lehre aus der Situation: Not macht erfinderisch. Etwas, das bereits im Gange war, aber sich nur im Schneckentempo bewegte, hat durch die bösen Absichten des Westens, Rußland zu Fall zu bringen, plötzlich Lichtgeschwindigkeit erreicht.
Das Projekt zur Entwicklung des Fernen Ostens besteht seit fast 200 Jahren und erreicht nun seinen Höhepunkt, und es hätte keinen besseren Zeitpunkt geben können. Es steht für große Hoffnung und Entwicklung. Rußland mit seinem eigenen enormen wissenschaftlichen Potential, bietet der ganzen Welt an, davon zu profitieren. Es kommt etwas voran, trotz der Verwüstungen, die die NATO in den westlichen Regionen Europas angerichtet hat.